Название | Leben ohne Maske |
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Автор произведения | Knut Wagner |
Жанр | Биографии и Мемуары |
Серия | |
Издательство | Биографии и Мемуары |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783957163080 |
Daraufhin löste sich Edda plötzlich aus Wolfgangs Umarmung, warf ihre grau-grünen, ausgelatschten Pumps, die ihr beim Tanzen lästig geworden waren, durch das Zimmer, und nur noch in Strümpfen tanzend, meinte sie beschwipst zu Wolfgang, der sie erstaunt ansah: „Ich halte es mit der Greco. Ich bin, wie ich bin.“
Obwohl Edda kein Wort Französisch verstand, geschweige denn sprechen konnte, hatte sie ein Faible für französische Literatur und französische Chansons.
Und so schrie sie, den Tanz mit Wolfgang unterbrechend, allein in der Mitte des Zimmers stehend: „Kann denn keiner von euch Flaschen Französisch? Ich will endlich wissen, wonach ich tanze.“
„Wenn ihr einen Moment still seid, kann ich euch den Text übersetzen“, sagte der schwule Nunweiler, der keinen Tropfen Alkohol angerührt hatte und das Betrunkensein der anderen verabscheute.
Während sich die Schallplatte, auf der Charles Aznavour zu hören war, langsam und knackend drehte, übersetzte der hoch sensible Nunweiler: „Was ist aus denen geworden, die die Freiheit verteidigen wollten? Sie hatten ihre Kinder, ihre Eltern gern, und erst recht den Wein und die Liebe. Aber ihnen fehlte die Freiheit. Doch sie waren zu schwach: Als sie aufbrachen, standen ihnen nach wenigen Schritten Polizisten mit Pistolen gegenüber.“
Obwohl alle ziemlich besoffen waren, hatte nach der Nunweilerschen Übersetzung von Aznavours „Liberté, Liberté“ keiner mehr Lust zu tanzen. Irgendwie war die Stimmung hin. Nur Edda konnte von den französischen Chansons nicht genug bekommen und legte von der Greco „Die toten Seelen der Dichter“ auf.
Der dicke Höhn, der von Wolfgangs Gedichten wusste, sagte, ganz heiser vom Schreien: „Auch wir haben eine Dichterseele unter uns“ und prostete Wolfgang mit dem Sprit-Kirschlikör-Gebräu zu.
„Du?“, sagte Edda überrascht. Sie ging zum Plattenspieler und machte ihn aus.
„Was also hat uns Wolfgang Bruckner zu sagen?“, grölte der dicke Höhn, der von der Armee her das Saufen gewohnt war. „Dein Auftritt, Poet“, brüllte Höhn. Und da Wolfgang schon ziemlich voll war, fiel es ihm nicht schwer, einige seiner Gedichte vorzutragen.
Eines hieß: „Verlange nicht, dich zu vergessen“ und war einer zigeunerhaft aussehenden Schallplattenverkäuferin gewidmet, die Wolfgang als Oberschüler platonisch geliebt hatte.
Edda gefielen Wolfgangs Gedichte, und Wolfgang fand Edda so aufreizend schön, dass er nicht müde wurde, sie auf dem Weg vom Mädchenheim in die Weigelstraße alle paar Meter abzuknutschen.
Als er das erste Mal Eddas Zimmer in der Weigelstraße betrat, war es draußen ungemütlich kalt. Es war ein verdammt trister Abend, und Edda war froh, dass Wolfgang sie besuchte.
Edda hatte einen weiten, grünen, sackähnlichen Strickpullover an. Auf dem Tisch stand eine Kanne Tee und auf dem Sofa lag eine Katze.
Draußen plätscherte der Regen vom Dach auf die Terrasse unterm Fenster, und Edda schien in einem Stimmungstief zu stecken.
„Bist du auch der Meinung von Doris, dass ich die Heidlern zu stark attackiert habe und zu boshaft zu ihr war?“, fragte sie etwas schuldbewusst und spielte auf ihren Ausbruch im Philosophieseminar „Dialektischer Materialismus“ an.
„Vielleicht bist du etwas zu weit gegangen, als du sagtest, die Heidlern sollte erst einmal Sartres ‚Existentialismus ist ein Humanismus‘ lesen, damit sie wisse, worüber sie überhaupt rede“, sagte Wolfgang. Und er erinnerte sich, dass dieser Bemerkung, mit der sich Edda den Unmut der kleinen, bebrillten Philosophin zugezogen hatte, bereits ein heftiger, lautstark geführter Wortwechsel vorausgegangen war.
Edda hatte der Heidlern, die das Seminar leitete, vehement widersprochen, als diese den Existentialismus als subjektiven Idealismus abzutun versuchte. Edda vertrat, aufsässig, wie sie war, die Meinung, der Existentialismus sei ein Marxismus, bei dem der Mensch und nicht die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten der Geschichte im Mittelpunkt der Betrachtung stünden.
„War es falsch, was ich gesagt habe?“, wollte Edda wissen.
„Etwas diplomatischer hättest du schon sein können.“
„Diplomatie ist nicht meine Stärke“, sagte Edda. Sie war eine extreme Verfechterin des Existentialismus, hielt Camus‘ „Pest“ und Sartres „Der Ekel“ für zwei der wichtigsten Bücher, die man unbedingt gelesen haben musste, und tendierte in allem, was sie tat, zum Underground. Deshalb verwunderte es nicht, dass sie Wolfgang eine Taschenbuch-Ausgabe aus einem Westverlag über die Beat-Generation zeigte, die sie gerade las.
Wolfgang jedoch hatte noch nichts von Allen Ginsberg oder Jack Kerouac gehört, und die Beatniks, wie diese Schriftsteller genannt wurden, waren für ihn böhmische Dörfer.
Edda hielt das für eine unverzeihliche Wissenslücke, und sie beschrieb umfassend, was es mit den sogenannten Beatniks auf sich habe, die Ende der 50er Jahre die Gesellschaft und den Literaturbetrieb in Amerika aufgemischt hätten. „Sie rebellierten gegen das satte, selbstzufriedene Leben der Spießer und empfanden die gesellschaftlichen Verhältnisse als einengend und steril“, sagte sie, „und was ich an ihnen so mag, ist ihre Vorliebe für soziale Außenseiter und sozial Gestrandete.“
Als Vagabund habe Kerouac die USA durchstreift, „und die Menschen, die er beschreibt, sind immer auf der Suche nach ihrem Platz im Leben und nach ihrer inneren Selbstbestimmung. Das macht ‚On the Road‘, Kerouacs Sensationserfolg von 1957, so lesenswert und wertvoll für mich.“ Von der DDR-Gegenwartsliteratur, die sie lesen mussten, hielt Edda hingegen so gut wie nichts. „Christa Wolfs ‚Geteilter Himmel‘ mag ja noch gehen“, sagte sie. „Aber Kants ‚Aula‘, ich bitte dich.“
„Ich finde auch, dass es ein geschwätziges Buch ist, und wenn ich höre, wie selbstgefällig Kant daraus vorliest, könnte ich kotzen“, sagte Wolfgang.
„Aber bitte nicht hier!“
Schon am ersten Abend, den Wolfgang und Edda in trauter Zweisamkeit miteinander verbrachten, hatten sie ein solches Vertrauen zueinander, dass sie sich erzählten, was sie bisher keinem anderen gesagt hatten.
Edda erklärte, dass sie Lektorin an einem Verlag werden wolle. Auf keinen Fall werde sie später einmal vor eine Klasse treten, sagte sie. Ihr fehle einfach das Verständnis für die unteren Klassenstufen. Und Wolfgang vertraute ihr an, dass er dieses Lehrerstudium nur angefangen habe, weil er sonst keine Chance gehabt hätte, Germanistik zu studieren. Obwohl er sich anschicke, Lehrer zu werden, hasse er seit seiner Oberschulzeit die Lehrer, besonders Doktor Landgraf, der ihn im Abi durch die Geschichtsprüfung fallengelassen hatte. Er wolle Theaterdichter werden, sagte Wolfgang.
„Stückeschreiber, meinst du“, sagte Edda. „Kann ich mir denken. Die Gedichte, die du schreibst, sind ja nicht schlecht.“
In Geschichte tue er, was er tun müsse, um durch die Prüfungen zu kommen, sagte Wolfgang, und in Germanistik hole er sich das nötige Rüstzeug, um Schriftsteller zu werden.
In der Stube war es kalt, und Edda rieb ihre zur Faust geballten Hände aneinander. Dann gab sie Wolfgang Bücher von Václav Havel und Pavel Kohout mit auf den Weg. Und als sie ihn hinunter an die Tür brachte, für einen Moment lang in der zugig kalten Einfahrt stand und sich von ihm verabschiedete, sagte sie: „Kohout oder Havel müssten wir spielen. Und nicht die ‚Lederköpfe‘“.
Mitte November, während der Proben zu den „Lederköpfen“, begannen sich Edda, Biene, Wolfgang und Mike Mutzke mächtig zu langweilen. Sie waren als Dienerinnen und Meuterer besetzt. Aber die Massenszenen, in denen sie mitspielten, würden erst im Februar geprobt, erklärte ihnen der beleibte, rothaarige Kuhnert, der die Regie führte. Und sein Argument, wenn man auch nicht selbst auf der Bühne stehe, müsse man von Probe zu Probe an der Entwicklung des Stücks teilnehmen, zog weder bei Biene und Edda noch bei Wolfgang und Mike, die irgendwie die Lust am Theaterspielen zu verlieren schienen.
Edda