Die Unwerten. Volker Dützer

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Название Die Unwerten
Автор произведения Volker Dützer
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783839263648



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er nicht hart genug dafür. Er würde sich der Schande aussetzen und um seine Entlassung bitten.

      Lubeck wischte sich die Lippen mit dem Handrücken ab und verließ den Waschraum. Im Korridor begegnete ihm Heyde, den nach dem vielen Cognac offenbar ein Bedürfnis quälte.

      »Wo stecken Sie denn? Sie haben das Beste verpasst. Großartig, das Gas wird die Effizienz der Aktion enorm steigern.« Er runzelte die Stirn. »Geht’s Ihnen nicht gut? Was Falsches gegessen?«

      »Es war wohl der Cognac«, antwortete Lubeck. »Ich vertrage keinen Alkohol, trinke sonst nie welchen.« Wie sollte er Heyde beibringen, dass er zu weich war? Was seinem Vater sagen, wenn er nach Würzburg zurückkehrte?

      »Sie machen mir doch wohl nicht schlapp?« Heyde legte ihm die Hand auf die Schulter. »Sie müssen härter werden, Mann. Das deutsche Volk braucht Sie!« Er deutete den Gang entlang. »Das sind doch gar keine richtigen Menschen – Schwachsinnige, Epileptiker, Juden und Unruhestifter, die sich nicht anpassen wollen. Sehen Sie es so: Wir tun ihnen einen Gefallen und beenden ihre Leiden auf humane Weise. Sie hätten es erleben müssen, dann würden Sie verstehen, was wir hier leisten.«

      Lubeck nickte, unfähig, etwas zu entgegnen.

      Heyde trat dicht an ihn heran. »Ich kann Sie zu nichts zwingen«, sagte er leise, »aber wenn Sie jetzt nicht die Arschbacken zusammenkneifen, kann nicht mal ich Sie vor dem Fronteinsatz retten. Oder wollen Sie, dass die Wehrmacht Sie einkassiert? Polen ist erst der Anfang, da kommt noch mehr auf uns zu, glauben Sie mir. Die meisten Ärzte Ihres Jahrgangs schuften schon in den Feldlazaretten. Ich konnte gerade noch verhindern, dass Ihr Einberufungsbescheid rausging – von wegen unabkömmlich aufgrund von T4 und so weiter, Sie verstehen?«

      »Es war wirklich nur der Cognac«, versicherte Lubeck.

      »Dann lassen Sie in Zukunft die Finger von dem Zeug. Ich dachte schon, ich müsste mir Sorgen machen. Wüsste nicht, wie ich das Ihrem Vater beibringen sollte. Morgen früh ist Abmarsch Richtung Frankfurt. Melden Sie sich bei Landesrat Fritz Brunner. Sie werden dort Meldebogen erstellen, bis Sie zusammenbrechen, haben Sie das verstanden?«

      »Jawohl, Hauptsturmführer Heyde.«

      »Gut, gut. Und machen Sie mir keine Schande, Lubeck.«

      5

      Hannah riss ein Blatt vom Kalender ab. Heute war der 12. Januar, ein Freitag. Die Zahl verschwamm vor ihren Augen, in ihrem Kopf kündigte sich ein neues Gewitter an.

      Die Weihnachtstage waren vergangen, Schnee fiel und taute wieder, das Wetter schlug Kapriolen. Nachdem sie am 31. Dezember vom Fenster ihrer Wohnung aus das Neujahrsfeuerwerk bestaunt hatten, leisteten sich Hannah und ihre Mutter eine Flasche Sekt und stießen auf das neue Jahr an. Malisha legte Platten auf ein Grammofon, das Joschi besorgt hatte. Sie tanzten zu Jazz und Bebop, der offiziell als entartet galt, aber in den Nachtklubs gespielt wurde, und freuten sich, dass sie lebten. Die Ohnmachtsanfälle hatten sich nicht wiederholt, Hannah schöpfte Hoffnung und überredete Malisha, den Arztbesuch aufzuschieben. Doch nun konnte sie nicht länger verheimlichen, dass es ihr schlechter ging.

      Am späten Freitagnachmittag begleitete Joschi die beiden zu Dr. Rademann. Das Universitätsklinikum lag auf der südlichen Mainseite, etwa vier Kilometer von ihrer Wohnung entfernt, die in dem Mietshaus über Malishas Schneiderladen lag. Joschi ließ es sich nicht nehmen, Hannah zu tragen. Ihren Widerstand erstickte er mit einem unwilligen Knurren. Eingehüllt in eine warme Decke, machte das Schaukeln sie schläfrig. Joschi schien die Kälte nichts anhaben zu können. Malisha schützte Hals und Gesicht mit einem dicken Wollschal.

      Hannah bemerkte kaum, wie die Zeit verging. Die Dämmerung des kurzen Wintertags brach bereits heran, als Joschi sie durch den Haupteingang der Klinik trug und auf die Füße stellte.

      »Mir geht es gut«, sagte sie trotzig. »Ich bin nicht krank.«

      »Komm jetzt!«

      Ihre Mutter war selten streng, wenn sie allerdings eine Entscheidung durchsetzen wollte, nahm ihre Stimme einen Tonfall an, der keinen Widerspruch duldete. Dann reichte ein einziges Wort, um Hannahs Trotz zu brechen.

      Sie liefen durch Korridore, in denen es nach Bohnerwachs und Desinfektionsmitteln roch. Zweimal verirrten sie sich, bis sie die Praxis von Dr. Rademann im dritten Stock fanden.

      Hannah setzte sich auf einen Stuhl und wartete, während Malisha mit einer Krankenschwester sprach. Die grauhaarige Frau mit dem verkniffenen Gesicht trug eine weiße Schürze und ein steifes Häubchen.

      Joschi blieb draußen auf dem Gang. Hannah beugte sich vor und sah durch den Türspalt, dass er auf und ab lief und seine Mütze knetete. Das tat er immer, wenn er angespannt war. Da er nicht sprechen konnte, achtete sie stets auf seine Körpersprache, seine Haltung und seine Gesten, um zu verstehen, was in ihm vorging. Joschi hatte Angst. War er besorgt, weil sie krank war? Oder fürchtete er sich so wie sie vor Ärzten und den spitzen Instrumenten, mit denen sie einem zu Leibe rückten? Oder argwöhnte er, dass man sie in eine Anstalt stecken würde? Hannah hatte keine klare Vorstellung davon, was sie dort mit den Kranken machten; auf jeden Fall musste es noch schlimmer sein als in einem Krankenhaus.

      Sie schloss die Augen und lauschte. Bis auf die leise Unterhaltung zwischen der Schwester und Malisha war es still. Ab und zu quietschten Schuhsohlen auf dem Linoleum, eine Tür wurde geöffnet und wieder geschlossen, Schritte entfernten sich.

      Hannah war noch nie in einer Klinik gewesen. Sie stellte fest, dass sie den Geruch und die düsteren Gänge mit den vergilbten Wänden nicht mochte. Joschis Unruhe übertrug sich auf sie. Vielleicht würde der Doktor darauf bestehen, dass sie hierbleiben musste. Oder sie würden ihren Kopf aufschneiden, um nachzusehen, was die Gewitter darin verursachte. Ängstlich spähte sie durch den Türspalt. Sie könnte einfach davonlaufen. Doch wohin sollte sie gehen? Außerdem würde sie an Joschi niemals vorbeikommen.

      Die Krankenschwester klopfte an eine Tür und trat in das dahinter liegende Sprechzimmer. Malisha setzte sich neben Hannah und drückte ihre Hand. Ihre Finger waren eiskalt.

      Durch das Fenster sickerte die Dämmerung in das Wartezimmer. Die Schwester erschien wieder. Ihre schmalen Lippen bewegten sich kaum, als sie sprach. »Doktor Lubeck wird Sie jetzt empfangen.«

      Malisha sprang auf. »Wir wollten zu Dr. Rademann.«

      »Er praktiziert nicht mehr. Dr. Lubeck ist ein ebenso guter Arzt.«

      Hannah folgte dem unsicheren Blick ihrer Mutter, der zwischen der offenen Tür zur Praxis und dem Ausgang hin und her wechselte.

      »Joschi passt auf uns auf«, flüsterte Hannah.

      Malisha schüttelte unmerklich den Kopf und schob sie in den Behandlungsraum. Sie hatten keine andere Wahl. Würden sie jetzt umkehren, machten sie sich verdächtig und die Schwester mit dem verkniffenen Mund würde den schwarzen Mann rufen.

      Hinter dem Schreibtisch im Behandlungszimmer saß ein schlanker Mann in einem weißen Arztkittel. Er war jung, nur wenige Jahre älter als Malisha. Auf den ersten Blick mochte Hannah ihn nicht. Schnell breitete sich die Angst in ihrem Bauch aus wie ein Hornissenschwarm. Der schwarze Mann war nicht schwarz, und er war auch keine Erfindung. Er war blond und blass, hatte wässrig blaue Augen, eine scharfe, gerade Nase und einen schmallippigen Mund.

      Lubeck las in einem dünnen Pappordner und sagte, ohne aufzuschauen: »Setz dich.«

      Sie rutschte zögernd auf den Stuhl vor dem Schreibtisch.

      »Du heißt Hannah Bloch?«

      »Ja.«

      »Bloch … ein jüdischer Name. Du bist Jüdin?«

      »Ich bin Jüdin«, warf Malisha ein, die hinter Hannah stand.

      Lubeck schien sie erst jetzt wahrzunehmen. Er hob den Kopf und starrte sie an, als wäre er einem Gespenst begegnet. Seine Wangen röteten sich. Hannah war es gewöhnt, dass fremde Männer ihre Mutter mit großen Augen betrachteten. Manche schauten fasziniert, beobachteten sie heimlich oder verfolgten sie schüchtern mit bewundernden Blicken. Lubeck gaffte sie