Die Unwerten. Volker Dützer

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Название Die Unwerten
Автор произведения Volker Dützer
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783839263648



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Rad im Getriebe dieser Todesmaschinerie sein.

      »Haben Sie, meine Herren, als Gutachter ein Urteil über den Patienten gefällt, tragen Sie es hier in dem vorgedruckten schwarzen Kasten ein«, fuhr Blankenburg fort. »Ein Plus bedeutet, der Gnadentod wird gewährt – bitte mit Rotstift vermerken –, ein blaues Minus, und der Patient darf weiterleben. Wenn Sie unsicher sind, genügt ein Fragezeichen, und der Fall wird vorerst zurückgestellt. Sie haben jetzt Gelegenheit, Fragen zum Ablauf zu stellen.«

      Lubeck wagte nicht, bei all der Prominenz nachzufragen, aus Angst, sich zu blamieren. Es würde sich ohnehin nach und nach alles von selbst erklären. Bouhler und Brandt hatten bereits alles bis ins Letzte durchorganisiert und die einzelnen Abteilungen mit ihren jeweiligen Leitern und Ansprechpartnern eingerichtet, es gab sogar schon Briefköpfe. Für einen Transport der Kranken zu ihren Bestimmungsorten hatte man eine eigene Transportfirma ins Leben gerufen, die Gemeinnützige Krankentransport-GmbH, kurz Gekrat.

      »Sie werden verstehen, dass wir für die einzelnen Abteilungen Tarnnamen verwenden«, referierte Blankenburg, »in der KdF ist man sich nicht sicher, ob das deutsche Volk den Weitblick besitzt, die Aktion in vollem Umfang zu unterstützen.«

      Das wird es nicht, dachte Lubeck, man muss sich das mal vorstellen: Hier wird tausendfacher Mord geplant. Reiß dich zusammen. Schau dir Heyde an, der ist eiskalt. Dennoch, wenn das eines Tages rauskommt, sind wir alle erledigt.

      Der Gedanke an absolute Macht gewann schließlich die Oberhand in ihm. Niemand würde ihn mehr verspotten, wenn er errötete wie ein Schuljunge. Mit einem Federstrich bestimmte er, wer leben durfte und wer sterben sollte. Er dachte an die Ratten, die er als Kind in Fallen gefangen und bei lebendigem Leib angezündet hatte, um seine Wut und das Gefühl der endlosen Demütigungen des Alten loszuwerden.

      Aber hier ging es nicht um Ratten oder ein paar überzählige Katzen, die man in einen Sack steckte und ertränkte, sondern um Menschenleben. Und gerade das machte den Reiz unwiderstehlich.

      Er versuchte, in den Mienen der anderen Ärzte zu lesen. Was ging in ihnen vor? Waren sie so abgebrüht wie Heyde?

      Ich weiß nicht, ob ich das kann, dachte er. Lähmende Zweifel plagten ihn. Blankenburg hatte von einem neuen Verfahren gesprochen, einer Methode, die weitaus effizienter war, als Patienten mit einer Überdosis Luminal oder Scopolamin zu töten. Er versuchte, sich vorzustellen, wie er die tödliche Nadel in die Vene eines zur Euthanasie bestimmten Kranken einführte. In ihm kämpfte die Angst zu versagen gegen eine sexuelle Erregung, die wie ein Stromschlag seine Nervenbahnen entlang raste. Sicher würden auch Frauen unter den Opfern sein.

      In Gegenwart einer schönen Frau setzte sein Denken aus und er brachte nichts weiter als dümmliches Gestammel hervor. Anschließend brannte meist heiße Wut in seinem Bauch, und er verspürte eine irrsinnige Lust zu bestrafen und zu töten. Wenn er offizieller Gutachterarzt der Aktion T4 war, würden die Frauen ihn anflehen, sie am Leben zu lassen. Dafür wären sie zu allem bereit. Ob es nur um Schwachsinnige ging? Blankenburg hatte erwähnt, dass auch Alkoholiker und notorische Querulanten ins Visier gefasst wurden.

      »Ich mache Sie darauf aufmerksam, dass die Teilnahme an der Aktion T4 freiwillig ist«, sagte Blankenburg. »Sollten Sie also zu dem Entschluss kommen, dass Sie Ihre Pflicht als Nationalsozialist nicht erfüllen können, dann verlassen Sie jetzt den Saal. Selbstverständlich haben Sie über das soeben Gehörte Stillschweigen zu bewahren. Andernfalls müssen Sie mit erheblichen strafrechtlichen Konsequenzen rechnen. Die Aktion T4 ist geheime Reichssache. Wir haben uns verstanden.«

      Blankenburg setzte sich. Niemand verließ den Saal. Detailfragen wurden diskutiert, anschließend wurde jedem der anwesenden Psychiater ein Gebiet zugeteilt. Lubeck würde nach Frankfurt gehen.

      »Ich bat Blankenburg, Sie zu Landesrat Brunner zu schicken. Er ist Dezernent für das Anstaltswesen in Hessen-Nassau. Schöne Gegend übrigens. Der Fritz ist genau der Richtige, um Sie in die besten Kreise einzuführen«, erklärte Heyde lächelnd.

      »Und nun«, er rieb sich mit der flachen Hand über den Bauch, »lassen Sie uns etwas essen gehen. Dieses Gerede macht hungrig.«

      Stühlerücken setzte ein, Lubeck folgte den anderen in einen extra für die Gesellschaft hergerichteten Speisesaal. Es gab Gulaschsuppe, die in einem riesigen Kessel dampfte, dazu ofenfrisches Brot. Er musste sich zwingen, einen Bissen herunterzuwürgen. Was mochte es mit der Vorführung auf sich haben? Er kaute auf einem Stück Kruste und schluckte. Der klebrige Teig verstopfte seine Kehle, er hatte das Gefühl zu ersticken und spülte den Klumpen mit Mineralwasser hinunter.

      Am Nebentisch unterhielten sich zwei Ärzte über die Vorzüge und Nachteile der verschiedenen Gifte und Narkosemittel, mit denen sie bereits Patienten getötet hatten. Sie sprachen so beiläufig darüber, als ob es darum ging, wie man ein Schwein am besten schlachtete.

      Heyde berichtete von seiner Arbeit in Würzburg und lobte den Alten in höchsten Tönen. Lubeck hörte kaum zu, langsam geriet er in Panik. Mitgefangen, mitgehangen. Aber denk an die Frauen. Denk an die Macht in deinen Händen!

      Er schaffte es schließlich, den Teller auszulöffeln. Heyde paffte eine Zigarre, Bouhler quatschte von der Überlegenheit der arischen Rasse.

      Nach dem Essen fuhren sie mit einem gemieteten Omnibus der Reichspost nach Brandenburg an der Havel, wo die Vorführung, von der Blankenburg gesprochen hatte, stattfinden sollte. Das ehemalige Zuchthaus an der Neuendorfer Straße glich einem gewaltigen Ziegelstein, in den Hunderte Arbeiter Schlitze und Fenster gemeißelt hatten. Die Vorstellung, dass sich hier an diesem 4. Januar 1940 sein Schicksal erfüllen könnte, erzeugte in Lubeck eine Mischung aus Furcht und Erregung. Von der Vorsehung ausgewählt worden zu sein, erfüllte ihn mit Stolz, aber auch mit einer gehörigen Portion Unsicherheit. Ach, Unsinn … Es kam nur darauf an, sich rechtzeitig auf die richtige Seite zu stellen.

      Lubeck konnte sich später nicht erinnern, wie er in das Kellergeschoss gelangt war. Es stank nach Desinfektionsmitteln, Schweiß und Angst. In die Zellentüren auf beiden Seiten des schmalen Ganges waren vergitterte Fenster eingelassen. Von Zeit zu Zeit hörte man Wimmern oder irres Gemurmel, ab und zu einen gedämpften Schrei, die meiste Zeit aber herrschte Stille.

      Sie verließen den Kellertrakt wieder und betraten einen zentralen Lichthof, wo sie ein Glatzkopf mit Zweifingerschnauzer und Brille empfing. Er schlug die Hacken zusammen und stellte sich als SS-Obersturmführer Christian Wirth vor. Lubeck atmete dankbar die frische Luft ein, ihm war leicht übel.

      Wirth führte sie in einen Trakt im gegenüberliegenden Gebäude und stoppte vor einer offenen Tür, hinter der er ein gekachelter Raum lag. Er erklärte, was nun folgen sollte. Seine Worte drangen bald nicht mehr bis an Lubecks Ohren, denn ein Wärter trieb ein Dutzend Menschen den Gang entlang und in den gekachelten Raum. Sie waren nackt und hielten schützend die Hände vor ihre intimsten Stellen. Lubeck starrte eine junge Frau von etwa zwanzig Jahren an, sie wirkte apathisch, in ihre innere Welt zurückgezogen. Doch schien sie zu wissen, was passieren würde.

      Die Tür schloss sich. Wirth erklärte die Wirkung des Kohlenmonoxidgases, das nun in die Kammer geleitet wurde. Heyde und Blankenburg drängten sich vor ein Guckloch, das in den Stahl eingelassen war. Lubecks Magen verkrampfte sich. Er machte kehrt, rannte den Korridor entlang, durch den sie gekommen waren, und fand eine Tür mit der Aufschrift Klosett.

      Explosionsartig übergab er sich in die stinkende Kloschüssel und würgte, bis sein Magen leer war. Er wollte raus, wollte alles, was er gesehen und gehört hatte, ungeschehen machen und aus seiner Erinnerung verbannen. Er ahnte, dass sich die Bilder der Tür, die sich schloss, für immer in sein Gedächtnis eingefressen hatten. Das Letzte, was er wahrgenommen hatte, waren die Augen der jungen Frau gewesen, teilnahmslos, ergeben und von der fiebrigen Schönheit einer Schwindsüchtigen. Sie hatte ihr Schicksal akzeptiert. Er war überzeugt, dass sie den Tod als Erlösung empfand. Nicht wegen einer unheilbaren Krankheit, die ihr Schmerzen bereitete, sondern weil das Leben in der Welt, die Brandt, Bouhler und er selbst gerade erschufen, für sie nicht schlimmer sein konnte als die Hölle.

      Er stemmte sich hoch und drehte den Hahn über dem Waschbecken auf. Dann schöpfte er kaltes Wasser in die hohlen Hände und spülte sich den Mund aus. Die Teilnahme