Die Unwerten. Volker Dützer

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Название Die Unwerten
Автор произведения Volker Dützer
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783839263648



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unmittelbaren Kontrolle Brunners stand. Allerdings hatte er ihm jeden Freitag Bericht zu erstatten. In der Zwischenzeit begutachtete er Patienten mit geistigen oder körperlichen Beeinträchtigungen und entschied, was mit ihnen zu geschehen hatte. Als er sein erstes rotes Kreuz in einem Meldebogen vermerkte, hatte seine Hand gezittert. Er fühlte sich als Herr über Leben und Tod, als Richter, der bewusst ein Todesurteil fällt, aber zu seiner Überraschung fand er keinen rechten Gefallen daran. Am Abend betrank er sich bis zur Besinnungslosigkeit und konnte zwei Tage lang nicht zum Dienst erscheinen. Er schob eine Magenverstimmung vor, doch Brunner ließ ihm die Meldebögen nachschicken, damit er zu Hause weiterarbeiten konnte. Unter den T4-Gutachtern hatte sich inzwischen eingebürgert, die Patienten gar nicht mehr persönlich in Augenschein zu nehmen.

      Lubeck stellte fest, dass ihm die Entscheidung leichter fiel, Kranke ins Gas zu schicken, wenn er ihnen nicht ins Gesicht sehen musste. In den meisten Fällen entschied er nach den spärlichen Fakten auf den Meldebögen, die von niedergelassenen Ärzten und aus psychiatrischen Kliniken stammten. Als er sich verwundert über den ungeheuren organisatorischen Aufwand äußerte, zitierte Brunner: »All unsere Arbeit hat dem deutschen Volke zu dienen. Der Aufwand für Erbkranke und Asoziale ist so niedrig wie irgend möglich zu halten. Was wir jetzt tun, ist das einzig Richtige: lebensunwertes Leben zu beenden.«

      Heyde hatte recht, ihm, Lubeck, fehlte die nötige Härte. Aber die anstrengende Arbeit half ihm, sich diese Eigenschaft anzutrainieren. Er wusste, dass er sich zum Mordgehilfen herabließ, doch der Gedanke an einen Fronteinsatz fegte die quälenden Einflüsterungen seines Gewissens hinweg. Es war ohnehin zu spät, um umzukehren.

      Am frühen Nachmittag war er nach Wiesbaden gefahren, um seinen ersten wöchentlichen Rapport abzuliefern. Brunner bewohnte in Scheuerbach ein herrschaftliches Gutshaus. Immerhin war er mit dem Fortgang der Aktion T4 zufrieden und hatte ihm überraschend sein Faktotum Heinz Borsig vorgestellt.

      Borsig war ein vierschrötiger Kerl mit rotem Stoppelhaar, Aknenarben und Stiernacken. Er war kriegsuntauglich, weil ihm 1918 eine französische Granate die linke Hand abgerissen hatte. Nun saß er neben Lubeck und sollte ihm auf Brunners Geheiß das Frankfurter Nachtleben zeigen. Stolz hatte er ihm erklärt, dass er Brunners Mädchen für alles sei. Trotz seiner Behinderung war er offenbar ein geschickter Chauffeur und brutal genug, um mit den meisten Gegnern spielend fertig zu werden, von denen Brunner mehr als genug hatte. Es war kein Geheimnis, dass SS-Obersturmbannführer Fritz Brunner Schlägertrupps einsetzte, wenn er nicht bekam, was er wollte. Das hatte ihm bereits mehr als einmal Schwierigkeiten eingebracht, aber über seinen Hang zur Grausamkeit sah man höheren Ortes stillschweigend hinweg. Brunner war für T4 zu wichtig, um auf ihn verzichten zu können.

      »Kannst mal zusehen, wie ich den Gorillas aus der Pagode mit einer Hand die Fresse poliere!«, gab Borsig an. »He Fahrer, drücken Sie aufs Gas.« Er drehte sich zu Lubeck um. »Damit unser junger Freund hier endlich den richtigen Eindruck von Frankfurt bekommt.«

      Die Pagode war ein Nachtlokal in der Nähe des Bahnhofs. Stufen führten in ein Souterrain hinab, neben der Eingangstür leuchteten billige, chinesisch anmutende Lampions. Lubeck war froh, das Lokal in Begleitung zu betreten. Selbst der kantige Borsig wirkte neben dem Türsteher wie ein Zwerg. Der Riese mit dem vernarbten Gesicht und der Schiebermütze musterte sie kritisch, nickte stumm und ließ sie ein.

      Lubeck betrat hinter Borsig den niedrigen, schummerig beleuchteten Raum. Etwa zwei Dutzend Separees gruppierten sich um eine Tanzfläche, die aus einfachem Linoleum bestand. Die Sitzgruppen wurden von Stellwänden mit groben Schnitzereien getrennt, von denen ihr Schöpfer wohl angenommen hatte, sie entsprächen chinesischer Kunst.

      Am anderen Ende des kleinen Saals erhob sich ein Holzpodest, das als Bühne diente. Tabakqualm hing zum Schneiden dick in der verbrauchten Luft, es roch nach Alkohol und Schweiß. Auf der Bühne tanzten vier spärlich bekleidete Mädchen, denen ein gewisser Reiz nicht abzusprechen war. Borsigs Bemerkung über die Krankenschwestern in der Klinik kam ihm in den Sinn. In Lubecks Fantasie verwandelte sich eins der Tanzmädchen, ein mageres Ding mit langem schwarzem Haar, in die Frau, die ihn am frühen Abend mit ihrer Tochter aufgesucht hatte.

      Die meisten Frauen, denen er begegnete, weckten sein Interesse nur vorübergehend. Er hatte kaum Übung im Umgang mit dem anderen Geschlecht, und je älter er wurde, desto mehr hemmte ihn seine Unerfahrenheit. So hatte sich allmählich in seiner Vorstellung das Idealbild einer Partnerin herausgebildet, das er ständig mit seinen Bekanntschaften verglich. Keine der Frauen konnte diesem übersteigerten Ideal standhalten … bis auf das feenhafte Geschöpf, das vor wenigen Stunden sein Sprechzimmer betreten hatte.

      Brunner hatte ihm am Morgen durch Borsig einen Meldebogen zukommen lassen, den er vorrangig behandeln sollte. Ein Volksschullehrer hatte die vierzehnjährige Hannah Bloch gemeldet. Das Mädchen war durch einen epileptischen Anfall ebenso aufgefallen wie durch aufsässiges Verhalten. Es sollte Reichsminister Goebbels beleidigt und mit einem Ziegenbock verglichen haben. Es stand zu befürchten, dass das Mädchen andere Kinder verdarb. Da er neben seiner Tätigkeit als Gutachterarzt auch Politischer Leiter der NSDAP war, fiel die Angelegenheit in sein Ressort. Er war zuständig für die weltanschauliche Schulung und sollte die Bevölkerung politisch überwachen, wo er konnte. Die Verunglimpfung von Goebbels war eine ernste Sache, die nicht ungestraft bleiben durfte.

      Dr. Paul Rademann, der ursprünglich für Lubecks Arbeit vorgesehen gewesen war, hatte sich geweigert, bei T4 mitzumachen, und war kurzerhand seines Postens enthoben worden. So war es zu der verhängnisvollen Begegnung mit Malisha Bloch gekommen.

      Er wusste, dass er sie angestarrt hatte wie einen Engel, der vom Himmel herabgestiegen war. Diese Frau war die vollkommene Verkörperung seines Idealbildes: Die schlanke, hochgewachsene Gestalt, die aristokratischen, anmutigen Bewegungen, das volle Haar von der Farbe eines Rabenflügels und der unmerkliche, leicht aufwärts gerichtete Schwung der Augenbrauen. Intelligent musste sie noch dazu sein, denn sie hatte sofort gespürt, dass seine Anwesenheit für ihre Tochter nichts Gutes verhieß, und sich mit ihr aus dem Staub gemacht.

      Lubeck hatte sich unmittelbar nach ihrer Flucht ihre Adresse besorgt und Erkundigungen eingeholt. Malisha – welch wunderbarer Name – war Jüdin. Das Balg stammte von einem Engländer und war somit ein Mischling ersten Grades. Ob die Erkrankung von ihm oder der Mutter rührte, ließ sich nicht feststellen.

      Er hatte bereits die Vermittlung angewiesen, ihn mit der Polizei zu verbinden, um Malisha Bloch festsetzen zu lassen, dann aber den Hörer auf die Gabel gelegt und gründlich nachgedacht. Hätte er sie denunziert und beschuldigt, ihrem Kind die notwendige medizinische Versorgung vorzuenthalten, hätte man sie ohne viel Federlesens eingesperrt. Selbst wenn Malisha Bloch die Lagerhaft überstehen würde, büßte er jede Aussicht ein, sie wiederzusehen. Und er musste diese Frau wiedersehen.

      Borsig brüllte nach einem Kellner. Ober und weibliche Bedienungen flitzten zwischen den Tischen hin und her. Lubeck beobachtete zwei blutjunge Mädchen, die als Geishas verkleidet in einem Separee verschwanden. Kurz darauf hörte er sie kichern. Ihm wurde heiß, weil er nicht wusste, was Brunner Borsig aufgetragen hatte. Es war mehr als unklug, dessen Anweisungen nicht zu befolgen, schon gar nicht, wenn er sich so spendabel zeigte. Er hatte keine Ahnung, wie er reagieren sollte, wenn Borsig eins der Mädchen bezahlen würde, um mit ihm …

      Lubeck schüttelte die Vorstellung von Nacktheit und Sex ab, weil er befürchtete, sich in seiner Unbeholfenheit schrecklich zu blamieren.

      Ein Kellner nahm die Bestellung auf – eine Flasche Champagner. »Für den Anfang«, beeilte sich Borsig mitzuteilen.

      Lubeck sah verkrampft der Darbietung der Mädchen zu, die zur Musik der Kapelle tanzten. Er verglich sie mit Malisha und fand sie billig und ohne Klasse.

      Eine üppige Blondine, die mit Strapsen und einem knallengen Oberteil bekleidet war, näherte sich ihrem abgetrennten Bereich und setzte sich ungefragt auf Borsigs Schoss. Der gab ihr einen Klaps auf den Po. Ihre großen Brüste wackelten in dem knappen Mieder, was Borsig ungemein amüsierte. Lubeck wandte sich ab und gab vor, ganz von dem Treiben im Lokal gefangen zu sein.

      Die ausgelassene, frivole Stimmung erregte und hemmte ihn zugleich. In der Pagode hatte man das Gefühl, auf einem Vulkan zu tanzen. Die Gäste schienen sich zu