Die Unwerten. Volker Dützer

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Название Die Unwerten
Автор произведения Volker Dützer
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783839263648



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Freunde um den Schuttberg herum auf sie zukamen und sie einkreisten.

      »Du bist nichts weiter als ein jüdischer Unfall«, warf Kretz ein. Er war schon sechzehn und kannte sich mit Dingen aus, von denen Hannah nur eine vage Vorstellung hatte. Koschka folgte ihm wie ein fettes Hündchen. »Er hat dafür bezahlt, dass deine Mutter ihn mal rangelassen hat«, fuhr Kretz fort.

      »Das ist nicht wahr!« Hannah schossen Tränen die Augen.

      »Stimmt wohl«, beharrte Koschka. »Mein Vater sagt, die Malisha Bloch arbeitet in der Pagode beim Bahnhof. Man weiß ja, was da nachts los ist.«

      Die gefürchtete Schwärze raste heran, Hannahs Blickfeld verengte sich. Dass es so kurz hintereinander geschah, jagte ihr Angst ein. Vielleicht war sie wirklich verrückt, wie die Mädchen behaupteten. Alles begann, sich um sie zu drehen.

      Maria trat dicht an Hannah heran.

      »Du hast den Reichsminister Goebbels beleidigt. Dafür wird dich der schwarze Mann holen.«

      »An den glaubst du?« Hannah lachte, es klang eher wie ein Aufschluchzen. »Den gibt’s doch gar nicht.«

      »Ach nein?«, erwiderte Ilsa. »Und ob’s den gibt. Er trägt eine schwarze Uniform. Er fährt durch das Land und sucht die Kinder aus, die eine Meise haben.« Sie tippte sich an die Stirn. »An deiner Stelle hätte ich ganz schön die Hosen voll.«

      »Du spinnst ja.« Hannah drängte sich an dem blonden Mädchen vorbei, aber die beiden Jungen in ihren Uniformen traten ihr in den Weg. Sie schwankte und suchte Halt. Ihre Hand griff ins Leere.

      »Gleich kippt sie um.« Koschka torkelte gespielt, stolperte und fiel auf den Hosenboden.

      »Zeig mal, was du kannst.«

      Kretz warf einen abschätzenden Blick auf die Mauer. Sie war brüchig und etwa drei Meter hoch. Die anderen Jungen grinsten.

      »Ja, flieg uns was vor, verrückte Hannah!«, riefen sie im Chor.

      »Lasst mich in Ruhe.«

      Hannah drehte sich um und versuchte, den Jungen zu entkommen, die sie zur Ruine drängten. Ihr blieb keine Wahl, sie musste auf die frei liegenden Fundamente steigen. Vor ihr ragte die ehemalige Außenwand der Synagoge wie die Treppe eines Riesen in die Höhe.

      Koschka zog eine Holzlatte aus dem Schutt und stocherte nach Hannahs Beinen. Sie floh auf die nächste unregelmäßige Stufe. Bald konnte er sie mit der Latte nicht mehr erreichen und begann, mit Steinen nach Hannah zu werfen. Sofort beteiligten sich die anderen.

      Die meisten flogen an ihr vorbei, einer traf sie am Knie, ein zweiter an der Schläfe. Es tat weh, doch die Scham und die Angst waren schlimmer. Verzweifelt suchte sie Schutz und kletterte weiter die Mauer hinauf. Von hier oben war immer noch niemand auf dem Börneplatz zu sehen, niemand scherte sich um Jungen in HJ-Uniformen, die eine Jüdin mit Steinen bewarfen. Das scharfkantige Bruchstück eines Ziegelsteins traf sie an der Wade und hinterließ einen Riss, Blut quoll aus ihm hervor. Sie biss die Zähne zusammen und verbarg ihren Schmerz.

      Je höher Hannah stieg, desto mehr verstärkte sich die Finsternis an ihren Augenrändern und verengte ihr Blickfeld. Zweimal strauchelte sie und wäre fast gestürzt. Eine Handvoll Kieselsteine prasselte gegen die Mauer und traf sie an Schulter und Kopf.

      »Flieg, verrückte Hannah!«, kreischte Koschka.

      Auf der innen liegenden Mauerseite ragte ein Sandhügel empor. Er konnte ihre Rettung bedeuten, doch sie traute sich nicht zu springen. Von hier oben sahen Maria und Ilsa winzig aus, nicht größer als Spielzeugfiguren. Koschka starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an, das vor Anstrengung feuerrote Gesicht zu einer Grimasse der Wut verzerrt. Hannah hatte ihre Mutter oft gefragt, warum so viele Leute die Juden hassten, obwohl sie bis vor wenigen Jahren einträchtig Tür an Tür mit ihnen gelebt hatten. Sie hatte geantwortet, dass die Nazis das Böse in den Menschen an die Oberfläche zerrten, bis es die Kontrolle übernahm.

      Hannah blickte auf die schreienden Jungen hinab, selbst Ilsa und Maria sammelten eifrig Steine und machten bei dem grausamen Spiel mit. Malisha hatte recht.

      Ein flacher Stein traf sie hinter dem Ohr. Der Schmerz zwang sie in die Knie. Das Geschrei dröhnte in ihren Ohren und vermischte sich mit der Erinnerung an Pilz’ Gebrüll.

      Hannah verdrehte die Augen und fiel. Sie spürte den Wind, der ihr Haar durcheinanderwirbelte und hoffte, dass der Sandhügel ihren Sturz auffing. Dann kehrte die fugenlose Dunkelheit zurück.

      3

      Hannah kam zu sich, die Welt nahm Konturen, Farben und Geräusche an. Es war wieder geschehen, so schnell hintereinander wie noch nie.

      Malisha saß neben ihr auf der Bettkante und strich ihr über das Haar. Wie schön sie war. Ob sie eines Tages genauso schön sein würde? Und ob es wirklich stimmte, was die Leute über ihre Ähnlichkeit sagten?

      »Wo bin ich?«, fragte sie.

      »Zu Hause. Alles wird gut.«

      Malisha tauchte einen Waschlappen in eine Schüssel, wrang ihn aus und legte ihn auf Hannahs Stirn. Er linderte den Schmerz, der in ihren Schläfen pochte.

      »Wie bin ich hierhergekommen?«

      »Joschi hat dich gefunden«, antwortete Malisha.

      Hannah reckte den Kopf und ließ ihn gleich wieder zurück auf ihr Kissen sinken, denn die Bewegung löste heftigen Schwindel aus. Joschi stand neben der Tür zur Diele. Er trat von einem seiner großen Füße auf den anderen und knetete die blaue Schiebermütze, die er bei jedem Wetter trug. Er schaute noch besorgter drein als Malisha.

      »Joschi war auf dem Weg zur Pagode und fand dich vor der Synagoge. Was ist denn nur passiert?«

      »Ich weiß es nicht mehr.«

      Ein Schleier lag über ihrer Erinnerung, nur langsam tauchten Gesichter und Namen auf … Pilz, Bertholds Büro, Koschka und die frechen Mädchen.

      »Hast du Schmerzen?«

      »Im Kopf. Alles dreht sich.«

      Joschi schob die Mütze über sein spärliches Haar und gestikulierte wild. Mühsam folgte Hannah der Gebärdensprache. Er sprach nicht mehr, seit er vor einem Jahr von der Gestapo verhaftet worden war. Sechs Wochen nach seiner Festnahme hatte Malisha ihn halb tot aus dem Main gezogen, seitdem wich er nicht mehr von ihrer Seite. Niemand wusste, warum er verhaftet worden war und was er hatte erleiden müssen. Joschi gehörte auf eine selbstverständliche Weise zu ihnen. Zusammen waren sie die Familie, die Hannah sich wünschte. Genauso wie er Malisha beschützte, würde er auch für Hannah alles tun.

      Joschi verdingte sich als Rausschmeißer in der Pagode, einem Nachtklub im Bahnhofsviertel. Die Arbeit fiel ihm leicht, denn die meisten Menschen fürchteten sich vor ihm. Man konnte nicht übersehen, dass er hässlich war. Von den Misshandlungen der Gefängniswärter hatte er Narben davongetragen, die ihn entstellten. Sein dünnes Haar war weiß, obwohl er die dreißig kaum überschritten hatte. Nur selten musste er seine Fäuste einsetzen, wenn es in der Pagode Ärger gab. In der Regel reichte es, wenn die Leute im schummrigen Licht sein vernarbtes Gesicht erblickten. Einmal hatte Hannah seinen nackten Oberkörper gesehen. Brust und Rücken waren mit Striemen übersät, die sich weiß von der dunklen Haut absetzten. Narben, die nur furchtbare Prügel hinterließen. Hannah fühlte sich sicher, wenn Joschi in der Nähe war. Über das Furcht einflößende Zähnefletschen, mit dem er Randalierer im Nachtklub abschreckte, musste sie jedes Mal lachen. Und er lachte mit. Sie hatte niemals erlebt, dass er jemandem ernstlich wehtat.

      Mühsam entzifferte sie seine Taubstummengesten. Doktor, deutete er an.

      »Joschi hat recht«, sagte Malisha.

      »Es ist doch gar nichts geschehen. Es geht mir gut«, log Hannah.

      »Du bist heute zweimal ohnmächtig geworden.«

      »Aber …«

      »Ich weiß, was in der Schule passiert ist. Direktor Berthold hat mich im Laden