Название | Die Unwerten |
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Автор произведения | Volker Dützer |
Жанр | Контркультура |
Серия | |
Издательство | Контркультура |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783839263648 |
Sie lief ins Wohnzimmer und spähte durch einen Spalt in der Gardine. Ihre Mutter hatte sie aus einem schweren, steifen Stoff genäht, damit kein Licht nach außen drang. Sie war vorsichtig geworden, misstrauisch gegenüber Fremden und ängstlich in der Dunkelheit. Nicht nur die kalte Januarnacht war mondlos und schwarz, auch die Zeit, in der sie lebten, war finster.
Sorgenvoll beobachtete Hannah die Straße. Eine schwarze Limousine hielt vor dem Haus. Malishas Silhouette erschien im Lichtkegel einer Straßenlaterne. Der Fahrer stieg aus, umrundete den Wagen und öffnete die Beifahrertür. Lubeck hob den Kopf und starrte zum Fenster herauf, als wüsste er genau, dass Hannah hinter dem Vorhang stand und ihn nicht aus den Augen ließ. Im Licht der Laterne schien sein ausdrucksloses Gesicht bleich und wächsern.
Malisha stieg ein, Lubeck schloss die Tür, und der Wagen fuhr los.
Hannah nahm ihren Mantel vom Garderobenhaken und stülpte eine Wollmütze über das Haar. Dann steckte sie den Zweitschlüssel der Haustür ein, eilte die Stufen hinunter und lief auf die Straße. Sie musste Joschi finden. Er würde auf Malisha aufpassen, ihm fiel immer etwas ein, was man tun konnte.
Sie wusste, dass Malishas Freunde nach dem Brand in der Pagode einen neuen Treffpunkt vereinbart hatten, eine unauffällige kleine Kneipe, nicht weit von dem zerstörten Nachtklub entfernt. Wenn sie sich beeilte, könnte sie in einer Viertelstunde dort sein. Die frostige Luft brannte bei jedem Atemzug in ihren Lungen, aus dem Nachthimmel segelten winzige Schneekristalle.
Hannah hielt den Kopf gesenkt, benutzte Nebenstraßen, wenn sie keinen großen Umweg bedeuteten, und näherte sich langsam ihrem Ziel. Ein vierzehnjähriges Mädchen hatte zu dieser Uhrzeit auf den Straßen Frankfurts nichts zu suchen und musste unweigerlich Aufmerksamkeit erregen – was sie unter allen Umständen vermeiden wollte.
Atemlos erreichte sie den Platz, auf dessen Nordseite sich die Pagode befunden hatte. Verkohlte Dachbalken ragten wie faule Zahnstümpfe in den Nachthimmel, leere Fensteröffnungen gähnten in der von Rauch und Feuer geschwärzten Fassade. Die Braunhemden hatten das Haus bis auf die Grundmauern niedergebrannt.
Hannah glaubte, die Hitze des Feuers noch zu spüren. Je näher sie der Ruine kam, desto stärker wurde der Brandgeruch. Sie blickte sich suchend um. Mehrere Gassen zweigten von dem Platz ab, in denen es ein Dutzend Kneipen gab. Ihr überhasteter Plan drohte zu scheitern, weil sie nicht einmal den Namen des Lokals kannte, ihre Beine waren schneller als ihr Kopf gewesen. Wo sollte sie Joschi in diesem Labyrinth finden?
Vorsichtig wagte sie sich in eine der Gassen hinein. Aus einer Gastwirtschaft drangen laute Stimmen und Musik und übertönten die Gefahr, die ihr drohte. Hannah spürte eine schwielige Hand auf ihrem Mund. Jemand zog sie in das Dunkel der Durchfahrt und hielt sie fest. Instinktiv versuchte sie, sich zu befreien, trat um sich und griff nach der Hand, die sie zu ersticken drohte.
»Schsch«, machte eine heisere Stimme.
Die Hand löste sich von ihrem Mund, der Unbekannte drehte sie um und tätschelte ihren Rücken.
»Joschi!«
Sein linkes Auge war blutunterlaufen, ein tiefer Kratzer zog sich von der Braue bis zum Ohr. Im Halbdunkel sah er zum Fürchten aus. Offenbar war es ihm gelungen, der SA um Haaresbreite zu entkommen.
Er legte einen Finger an die Lippen und deutete auf den Platz hinaus. Aus der Kneipe quoll ein Haufen Braunhemden. Sie waren betrunken, grölten und sangen laut und falsch. Joschi musste sie schon vorher gesehen haben. Hätte er nicht so schnell reagiert, wäre die Horde über sie hergefallen.
Er tippte ihr spielerisch an die Schulter.
Was machst du hier?
»Ich habe dich gesucht. Und du?«
Beobachten, signalisierte er. Ich suche Chang und die anderen.
Aus Hannah sprudelten die Ereignisse hervor, von denen er nichts wissen konnte. Als er den Namen Lubeck hörte, verdüsterte sich seine Miene.
»Bitte. Du musst Malisha suchen. Ich habe Angst um sie.«
Nachdenklich rieb er sich das Kinn. Dann drehte er sich im Kreis und sah Hannah fragend an.
Wo sind sie hingegangen?
»Ich weiß es nicht. Bitte, du musst sie finden.«
Joschi hob beruhigend die Hände und deutete an, dass Hannah nach Hause gehen solle.
»Kann ich nicht mitkommen?«
Er schüttelte entschieden den Kopf und schob sie sanft von sich.
Geh jetzt! Ich werde sie suchen.
Er streckte den Kopf aus der Toreinfahrt und schnüffelte in der kalten Luft wie ein Terrier, der Beute witterte. Die Braunhemden waren fort.
Hannah machte sich auf den Rückweg. Sie drehte sich noch einmal um und sah, dass Joschi im Eilschritt über den großen Platz lief. Er hatte viele Freunde und kannte eine Menge Leute, die bereit waren, ihm zu helfen. Er würde Malisha finden und beschützen. Er musste einfach.
Zwanzig Minuten später betrat sie die Wohnung im ersten Stock des Mietshauses. Da sie ohnehin nicht schlafen konnte, erwärmte sie in einem Kessel auf dem Gasherd Wasser und bereitete Tee zu, um die Kälte der Winternacht zu vertreiben. Dann setzte sie sich in den Sessel neben dem Fenster und wartete, den Zeiger der Standuhr im Blick.
Früher hatten sie einen Volksempfänger besessen, abends hatten sie Musik gehört und dazu getanzt. Malisha war eine gute Tänzerin und brachte ihr alles bei, was sie wissen musste, und Hannah erwies sich als gelehrige Schülerin. Sie mochte Foxtrott, den neuen Boogie und vor allem Swing. Wie alles, was nicht Einförmigkeit und stupides Marschieren erforderte, hatten die Nazis die Negermusik verboten. Dennoch, oder vielleicht gerade deshalb, breitete sie sich in den Nachtklubs und Tanzlokalen ungehindert aus.
Vor vier Monaten hatten sie den Juden den Besitz eines Radios verboten. Wer seinen Apparat nicht freiwillig abgab, musste damit rechnen, dass er konfisziert wurde. Empfindliche Geldstrafen waren die Folge. Hannah summte eine Melodie, die ihr in den Sinn kam. Der Minutenzeiger kroch dahin, und irgendwann zwischen elf und Mitternacht schlief sie ein.
Eine Stunde später schreckte sie aus dem Schlaf hoch. Die Standuhr zeigte 00.45 Uhr an. Aus dem Laden, der sich im Erdgeschoss unmittelbar unter der Wohnung befand, drang Lärm. Ein schwerer Gegenstand wurde umgeworfen, ein dumpfes Klopfen, ein Scharren und Stoßen folgte. Glas zerbrach klirrend. Hannah hielt den Atem an und lauschte, ihr Herz klopfte aufgeregt gegen die Rippen. Wahrscheinlich zogen die Braunhemden durch die Straßen, um die wenigen jüdischen Geschäfte und Einrichtungen zu attackieren, die ihnen bis jetzt entgangen waren. Sie lief zum Fenster und spähte durch einen Spalt in der Gardine. Draußen war alles ruhig, niemand grölte oder schrie Naziparolen. Auch konnte sie keinen Fackelschein erkennen.
Wieder grollte ein schweres Rumpeln durch den Laden, die Teetasse klirrte auf dem Porzellanuntersetzer. Seit Wochen waren Einbrecherbanden unterwegs, die jüdische Läden, Handwerksbetriebe und Wohnungen ungestraft ausräumten. Sie gaben sich nicht einmal mehr Mühe, ihr Treiben zu verheimlichen, denn niemand kümmerte sich darum. Die Polizei zu alarmieren war sinnlos, kein deutscher Beamter würde einen Finger rühren, um ein jüdisches Geschäft zu schützen.
Vielleicht war es Malisha, und sie schwebte in Gefahr. Hatte Joschi sie nicht finden können? Die Stadt war groß. Aber wenn ihre Mutter den Krach verursachte, war sie sicher nicht allein. War Lubeck mit ihr unten im Laden?
Seit ihrem Zusammenbruch in der Schule begleitete Hannah eine ständige Furcht. Sie brodelte mal stärker, mal schwächer in ihrem Bauch. Niemals verschwand sie ganz. Wurde sie zu mächtig, kehrte der Schwindel zurück und sie torkelte am Rand einer Ohnmacht dahin. Seit sie den Namen der Krankheit kannte, die sich in ihrem Kopf eingenistet hatte, kämpfte sie verbissen gegen die Phasen drohender Bewusstlosigkeit an. Vor ein paar Tagen war Malisha mit ihr noch einmal zu Dr. Blumberg gegangen. Er hatte ihr erklärt, dass Aufregung und Angst die Attacken verstärken konnten; und genau das geschah in diesem Moment