Schattenkinder. Marcel Bauer

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Название Schattenkinder
Автор произведения Marcel Bauer
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783898019002



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hatten.

      Am Vorabend des Pogroms habe ein städtischer Beamter, den ihr Mann aus besseren Tagen kannte, ihn gewarnt: Die Polizei habe Weisung erhalten, im Rahmen eines spontanen Volkszorns sämtliche Juden zu verhaften, zu entwaffnen und bei Widerstand über den Haufen zu schießen. Am nächsten Morgen hätten sie das Haus nicht verlassen und von ihrem Fenster beobachten können, wie SA-Männer eine größere Gruppe Juden vor sich hergetrieben habe. Die SA-Standarte habe ein Mann getragen, dem ihr Mann einst eine Anstellung in seiner Firma besorgt hatte. Auf den Bürgersteigen gafften teilnahmslos Passanten, während Kinder die Juden schmähten, ohne zurechtgewiesen zu werden.

      Nachher erfuhren sie, dass die Juden ins Alte Gymnasium getrieben worden waren, wo Konsul Meyer sein Abitur gemacht hatte. Von dort seien sie ins KZ Sachsenhausen gebracht worden. Nicht nur in Bremen, auch in den Vororten hätten die Nazis gewütet. In Hastedt hätten sie den Vorsteher der jüdischen Gemeinde gezwungen, in seinen liturgischen Gewändern mit den Thorarollen auf den Schultern singend durch die Hauptstraße zu ziehen. Die Ältesten seien ihm mit einer Schelle vorangegangen. Sie seien beschimpft und bespuckt, mit Stöcken geschlagen und mit Steinen beworfen worden. Auf dem Marktplatz von Hastedt hätten sie dem Rabbiner unter dem Gelächter der Menge die Haare mit Pferdemist gewaschen.

      Am Abend habe sich ihr Mann aus dem Haus geschlichen, und als er zurückkam, sei er sehr nachdenklich gewesen. Er sei in die Bremer Altstadt, ins Schnoor, gegangen, um die geschändete Alte Synagoge zu sehen. Auf der Straße wären Gebetbücher und liturgische Gewänder verstreut gewesen. Obwohl er Protestant war, habe er angesichts der Verwüstung einen tiefen Schmerz in seiner Brust verspürt.

      Seine Frau meinte, in jener Nacht sei wohl sein Glaube an das »ewige Deutschland« erschüttert worden. Als Hermann Göring im Rundfunk dann noch verkündete, dass nun die große Abrechnung mit den Juden kommen werde, habe er begriffen, dass es keine Hoffnung mehr gab und die Zeit drängte. Wenn sie überleben wollten, mussten sie Deutschland schleunigst verlassen.

      Ihre größte Sorge galt den Kindern. Angesichts der öffentlichen Empörung über die sogenannte Kristallnacht hatte die britische Regierung sich bereit erklärt, 10.000 jüdische Kinder unter 15 Jahren aufzunehmen. Meyer ließ seine Verbindungen spielen und sorgte mit einer Spende an den Innensenator dafür, dass ihr Sohn Emil zu den Auserwählten gehörte. Mit einem Namenskärtchen um den Hals und seinem Teddy im Arm ging es zum Bahnhof. Als sie gesehen habe, wie der Junge ihnen aus dem Fenster des abfahrenden Zuges fröhlich zugewinkt habe, als ginge es in den Urlaub, habe sie ihre Tränen nicht zurückhalten können, weil sie gespürt habe, dass es ein Abschied für lange Zeit sein würde. Die Kinder seien über Köln an die belgische Küste gebracht worden, wo eine Fähre nach Dover sie erwartete.

      Nachdem sie ihr Söhnchen in Sicherheit wussten, habe ihr Mann ihre eigene Flucht vorbereitet. Als langjähriges Mitglied des Gemeindevorstandes von St. Stephani habe er vorher den Rat von Pastor Greiffenhagen eingeholt. Der Pastor gehöre zur Bekennenden Kirche und verabscheue die Nazis. Er habe von einer Organisation gewusst, die Juden über die belgische und niederländische Grenze bringe.

      Der Weg habe sie zunächst ins Café Silberbach in der Kölner Glockengasse geführt. Von dort schickte man sie nach Aachen ins Schloss-Hotel, wo sie einen gewissen Simon Frankenthal trafen, einen jüdischen Studenten, der dem kommunistischen Widerstand angehörte.

      Frankenthal riet den Frauen dazu, sich einer Prozession anzuschließen, die einmal die Woche von der Aachener Jakobskirche zu einem Gnadenbild der Gottesmutter nach Moresnet ins belgische Butterländchen ziehe. Viele Hausfrauen nutzten diese Wallfahrt, um sich in Belgien mit Kaffee, Schokolade und Butter zu versorgen, Waren, die im sogenannten »Tausendjährigen Reich« unerschwinglich geworden waren. Die deutschen Grenzer drückten gewöhnlich beide Augen zu, weil die Partei keinen Ärger mit der katholischen Kirche riskieren wolle. Im belgischen Pilgerkloster Moresnet, sagte der Student, gebe es einen Franziskanermönch, der allen Flüchtlingen weiterhelfe, egal ob es sich um Christen, Juden oder Marxisten handele.

      Nachdem ihr Mann ihr sämtliche Wertpapiere anvertraut hatte, hatten Gerda und Hedwig Meyer sich unter die Pilger gemischt. Vorher hatten sie sich Rosenkränze zugelegt und die wichtigsten Gebete auswendig gelernt. Alles verlief nach Plan. Im Wallfahrtsort trafen sie besagten Franziskanerpater, der ihnen ein Taxi besorgte, das sie zum nächsten Bahnhof brachte.

      Zwei Tage nach der Ankunft der Frauen stand auf einmal Siegmund Meyer vor der Tür. Gerda Meyer konnte es nicht fassen, auch wenn der Konsul, der immer Wert auf eine tadellose Erscheinung legte, einen fahrigen und verwahrlosten Eindruck machte. Er war von seinen Erlebnissen sichtlich mitgenommen. Rozenberg musste ihm einige Gläschen Péquet37 einschenken, damit er sich aus seiner Erstarrung löste. Als er die Umstände seiner Flucht schilderte, versetzte das alle in ungläubiges Staunen.

      Über einen Bekannten im Senat hatte Meyer sich falsche Papiere besorgt: einen Reisepass, der ihn zum Kommerzienrat Dr. Richard Dorenbeek machte. In Aachen habe er sich von Frau und Tochter getrennt und beschlossen, als Geschäftsreisender getarnt auszureisen. Aber schon auf dem Bahnsteig habe eine Frau Verdacht geschöpft und ihn bei einem Bahnpolizisten angezeigt. Der Schupo habe seine Papiere überprüft, und, da ihm Zweifel aufkamen, der Gestapo überstellt. Dass seine Papiere gefälscht waren, dass er in Wirklichkeit Meyer hieß, und er jüdischen Blutes war, ließ sich nicht lange leugnen. Ein einziges Telefonat mit Bremen hatte genügt, um ihn zu überführen.

      Er wurde einem jungen Untersuchungsrichter vorgeführt, der bereits das goldene Parteiabzeichen trug. Im Laufe des Verhörs erwähnte Meyer beiläufig, dass man ihm im Krieg das Eiserne Kreuz verliehen habe. Das machte offenbar Eindruck.

      Nachdem der SS-Mann das anhand der Dokumente, die Meyer mit sich führte, überprüft hatte, holte er aus der Schublade »Die Brennnessel« hervor. In dem satirischen Hetzblatt gab es eine Karikatur von einem Schiff voller Juden, das auf ein tropisches Eiland mit Strohhütten und Palmen zu segelte. »Der Führer schenkt den Juden eine Insel!«, lautete die Bildlegende.

      Der Kommissar habe auf die Zeichnung gezeigt und gefragt, warum er nicht gleich gesagt habe, dass er die Absicht habe, nach Madagaskar auszuwandern, da die Insel nach dem Willen des Führers doch die künftige Heimstatt des jüdischen Volkes sein werde. Bevor Meyer sich versah, gab der Kommissar ihm seine Papiere mitsamt der Geldbörse zurück. Lediglich zehn Reichsmark, die er sich quittieren ließ, behielt er als Arbeitsgebühr ein, denn Ordnung muss sein.

      Noch in der Nacht habe der Kommissar ihn in seinem Dienstwagen zum Losheimer Graben gebracht, genau an die Stelle in der Eifel, wo die Landstraße die Staatsgrenze bildet. Als er kurz darauf belgischen Gendarmen begegnete, habe er nur artig den Hut gelüftet. Vermutlich hatten sie ihn für einen Touristen gehalten. Seine wundersame Errettung hatte bei Meyer seinen Glauben an das ewige Deutschland wiederbelebt. Selbst unter Nationalsozialisten, schloss er seinen Bericht, gebe es noch Ehrenmänner.

      * * *

      Am nächsten Morgen suchten Ariel Rozenberg und Siegmund Meyer gemeinsam die Bank Nagelmackers auf. Der Konsul ließ sich die Monatsgelder auszahlen, die sich im Lauf der Jahre angesammelt hatten. Er bedankte sich überschwänglich bei seinem polnischen Verwandten für dessen Redlichkeit.

      Einige Tage später machten die Meyers sich nach Antwerpen auf. Der Konsul hatte sich für die Hafenstadt entschieden, weil es dort eine größere deutsche Gemeinde gab, mit der er geschäftliche Verbindungen unterhalten hatte. Seine Hoffnung, eine eigene Kaffeerösterei zu eröffnen, sollte sich nicht erfüllen. Der Kaffeehandel gestaltete sich schwierig, weil Deutschland Handelsschranken errichtet hatte und hohe Zölle auf Luxusgüter erhob. Im Deutschen Reich herrschte Devisenknappheit, weil alle wirtschaftlichen Ressourcen in die Aufrüstung flossen.

      Immerhin fand Meyer eine Anstellung als Vertreter. Sein wichtigster Kunde war seine ehemalige Rösterei in Bremen, die ihn so schäbig abserviert hatte. Im Wesentlichen lebte die Familie von ihren Ersparnissen.

      Geschäftlich fasste Meyer in der flämischen Metropole nie richtig Fuß, da er weder Französisch noch Niederländisch sprach. Die orthodoxen Juden, die das Stadtbild rund um den Bahnhof prägten, schreckten ihn ab. Zur jüdischen Gemeinde vermied er jeglichen Kontakt. Nie ließ er durchblicken, dass er jüdischer Abstammung war. Antwerpen war gleichzeitig