Gesammelte Werke. Robert Musil

Читать онлайн.
Название Gesammelte Werke
Автор произведения Robert Musil
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788026800347



Скачать книгу

Er nimmt allerhand morgendliche Hantierungen auf, da ihm augenblicklich keine Aufmerksamkeit geschenkt wird.

      Regine: Oh, ich werde Ihnen etwas sagen: Jeder Mensch kommt auf die Welt mit Kräften für die unerhörtesten Erlebnisse. Die Gesetze binden ihn nicht. Aber dann läßt ihn das Leben immer zwischen zwei Möglichkeiten wählen, und immer fühlt er: eine ist nicht darunter; immer eine, die unerfundene dritte Möglichkeit. Und man tut alles, was man will, und hat nie getan, was man gewollt hat. Schließlich wird man talentlos.

      Fräulein Mertens: Darf ich noch einmal den Brief sehn? Es ist ja doch sicher nur dieser Brief.

      Regine gibt ihr ihn; währenddessen zu Thomas: Josef wird – hierherkommen.

      Fräulein Mertens: Was sagen Sie?! Wirklich?

      Regine: Bei Josef ist alles wirklich.

      Thomas sehr – aber anscheinend nicht unangenehm – erstaunt: Wann?

      Regine: Heute.

      Thomas sieht nach der Uhr: Dann ist er womöglich noch vor Mittag hier? Atmet tief auf. Das – geht rasch.

      Fräulein Mertens: Ich bin überzeugt, Exzellenz Josef verlangt nichts als Offenheit und ein wenig Entgegenkommen. Sie werden in ruhiger, – mit einer fühlbaren Spitze gegen Thomas – ihn nicht verletzender Aussprache Ihr Verlangen nach Scheidung begründen. Und wenn der letzte Rest von Unaufrichtigkeit diesem Mann gegenüber gefallen ist – den Sie in Wahrheit nie als Ihren Mann betrachtet haben – wird aller Spuk von selbst von Ihren Nerven weichen. Sie waren eine Heilige! Sie brauchen doch nicht die Erfindung, daß Sie Ihren Mann mit einem Toten betrogen haben! Sie stürzt sich mit Energie in den Brief. Thomas und Regine treten etwas beiseite.

      Thomas: Ihr habt wieder von Johannes gesprochen?!

      Regine: Sie glaubt, daß ich lüge.

      Thomas: Sie versteht es nicht, sie nimmt es wirklich.

      Regine: Es ist auch wirklich!

      Thomas legt ihr den Arm um die Schulter und tippt ihr an die Stirn: Krählein, Krählein! Kleines, nasebohrendes Träumelinchen, das schon als Kind so beleidigt war, wenn es gelogen hatte oder Zucker gestohlen und von Mama Strafe bekam.

      Regine: Es ist beinahe wirklich. Es ist wahrscheinlich viel wirklicher als –

      Thomas läßt sie nicht ausreden: Du hast Unrecht: das ist das Ganze! Du hast unrecht; und es ist ja gleich, ob man es tut oder leidet. Er hat sich vor sie gesetzt und hält brüderlich unbedacht ihre Knie umschlungen. Ich habe jetzt auch immer unrecht. Aber je mehr man das fühlt, desto mehr übertreibt man. Man zieht sich die eigene Haut wie eine dunkle Kapuze mit ein paar Augen-und Atemöffnungen immer fester über den Kopf. Wir dürften jetzt die Geschwister sein, Regine.

      Regine halb abwehrend: Wahrhaftig, fühllos wie ein Bruder bist du immer gewesen, mochte mit mir geschehn, was wollte.

      Thomas: Ferngefühle, Regine; wie deine.

      Regine macht sich los: Das gefällt mir; – mißmutig – aber was heißt es?

      Thomas ihr nach, eindringlich: Nicht so prompt greifbar wie bei Anselm! Über den ganzen Umkreis verzweigt wie Wetterleuchten! Lieber scheinbar gefühllos. Er bemerkt, daß Fräulein Mertens nach beendetem Lesen sich mitteilen möchte. Zu ihr: Nun, was schreibt Josef? Ist Seine Exzellenz, der Beherrscher der Wissenschaft und ihrer Diener, auf uns sehr böse?

      Regine: Er droht, daß er dich um Stellung und Zukunft bringen wird, wenn du uns nicht aus dem Haus weist.

      Fräulein Mertens: Exzellenz Josef hat kein Recht dazu! Niemand kann etwas dagegen einwenden, daß Doktor Anselm Sie in das Haus Ihrer Frau Schwester und seines Freundes geleitet hat, wo Sie gemeinsam Ihre Kindheit verlebten. Er hat nur ein Recht auf Wahrheit. Wohlan, Sie werden ihm mit Wahrheit gegenübertreten; daß Sie die persönliche Überzeugung haben, nach der Scheidung Doktor Anselm zu heiraten, – wieder mit einer fühlbaren Spitze gegen Thomas – braucht man ihm ja wahrhaftig nicht zu sagen.

      Regine: Josef läßt sich nicht umstimmen wie ein Klavier.

      Fräulein Mertens: Die lange pflichttreue Entsagung, die Gerechtigkeit, die Liebe, alle humanen Empfindungen sind auf Ihrer Seite. Er ist ein Mensch. Vertrauen Sie dem, was zwischen allen Menschen gilt, und Sie werden es nicht vergeblich getan haben! Ich muß allerdings fürchten, daß das Herrn Doktor gewöhnlich klingt.

      Thomas scheinheilig: Im Gegenteil, ich pflichte Ihnen bei. Wenn wir gleich so gehandelt hätten, hätten wir alles vermeiden können.

      Fräulein Mertens warm aus sich heraustretend: Aber warum haben Sie so nicht immer gedacht??! Warum haben Sie dann jenen Brief geschrieben, in dem Sie sich darüber bloß lustig machten und Exzellenz Josef reizten, was ersichtlich die Ursache dieser Antwort ist?!

      Thomas: Weil ich ein Idealist war.

      Fräulein Mertens: Verzeihen Sie, Herr Doktor, ich wage nicht zu bezweifeln, daß Sie ein Idealist sind – ein Gelehrter mit Ihrer Leistung muß es sein. Aber jeder Mensch ist gut und für edle Empfindungen zu gewinnen, auch Exzellenz Josef, und ich habe mir vorgestellt, ein Idealist müßte das tun, müßte es zu tun versuchen; ich habe mir unter –, ich habe mir einen Idealisten vorgestellt – – mit einem Wort: mit Idealen!

      Thomas sie auslachend: Aber liebes Fräulein Mertens, Ideale sind die ärgsten Feinde des Idealismus! Ideale sind toter Idealismus. Verwesungsrückstände – –

      Fräulein Mertens: Oh, oh! Jetzt brauche ich nichts mehr zu hören; ich sehe, Sie machen sich doch wieder auch über mich nur lustig! Sie hat schon vorher an der Tür gepocht und auf die Antwort gehorcht. Jetzt mit gekränkt beherrschter Miene ab.

      Thomas er ist mit einem Schlag verändert: Du bist der einzige Mensch hier, mit dem ich sprechen kann, ohne daß er es mir mißdeutet: Sag’ mir, was ist zwischen dir und Anselm nicht in Ordnung?

      Regine widerspenstig: Warum nicht in Ordnung?

      Thomas: Ihr wißt beide, daß mit euch etwas nicht in Ordnung ist. Hast du kein Vertrauen mehr zu mir?

      Regine: Nein.

      Thomas: Recht hast du! … Wir glaubten einmal neue Menschen zu sein! Und was ist daraus geworden?! Er packt sie an den Schultern und schüttelt sie. Regine! Wie lächerlich, was ist daraus geworden?!

      Regine: Ich habe keine Weltordnungspläne gemacht. Das wart ihr!

      Thomas: Ja, gut. Anselm und Johannes und ich. Von der Erinnerung noch immer bewegt. Es gab nichts, das wir ohne Vorbehalt hätten gelten lassen; kein Gefühl, kein Gesetz, keine Größe. Alles war wieder allem verwandt und darein verwandelbar; Abgründe zwischen Gegensätzen warfen wir zu und zwischen Verwachsenem rissen wir sie auf. Das Menschliche lag in seiner ganzen, ungeheuren, unausgenützten, ewigen Erschaffungsmöglichkeit in uns!

      Regine: Ich habe immer gewußt, es wird schon irgendwie falsch sein, was man denkt.

      Thomas: Ja, gut. Die Gedanken, welche schlaflos vor Glück machen, die dich treiben, daß du tagelang vor dem Wind läufst wie ein Boot, müssen immer etwas falsch sein.

      Regine: Ich habe währenddessen Gott gebeten um etwas ganz besonders Schönes für mich allein, das ihr euch gar nicht ausdenken könnt!

      Thomas: Und was ist daraus geworden?

      Regine: Was willst du sagen! Du hast alles erreicht, was du gewollt hast!

      Thomas: Hast du keine Ahnung, wie leicht das geht? Erst etwas langsam, aber dann: der beschleunigte Fall nach aufwärts! Auf der schiefen Ebene geht es ebenso leicht hinauf wie hinunter. – In einem halben Jahr bin ich Ordinarius, wenn ich mich mit Josef nicht rechtzeitig überwerfe. Ich habe in meinem ganzen Leben nichts so Beschämendes kennen gelernt wie den Erfolg. Nun kurz: Was steckt hinter Johannes?!

      Regine: