Название | Handbuch des Strafrechts |
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Автор произведения | Jörg Eisele |
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Издательство | |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783811449664 |
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Betreffend die Konkurrenzfrage ist Folgendes anzumerken: Ist der Täter, welcher für Dienste oder Mittel wirbt, auch an einem Schwangerschaftsabbruch beteiligt, so besteht zwischen § 219a und § 218 StGB Realkonkurrenz.[341] Ebenso ist zwischen § 219a und § 219b StGB von einer Tatmehrheit auszugehen.[342] Sofern das Werben für Schwangerschaftsabbrüche auch den Straftatbestand der öffentlichen Aufforderung zu Straftaten gemäss § 111 Abs. 1 StGB erfüllt, liegt Idealkonkurrenz vor.[343]
IX. Inverkehrbringen von Mitteln zum Abbruch der Schwangerschaft (§ 219b StGB)
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Gleich wie § 219a StGB ist auch § 219b StGB als abstraktes Gefährdungsdelikt anzusehen.[344] Die Strafnorm zielt darauf ab, das Inverkehrbringen von Mitteln, die dem illegalen Schwangerschaftsabbruch dienen, sowie Laienabbrüche zu verhindern.[345] Das Schutzgut von § 219b StGB stellt das werdende Leben dar.[346] Nach § 219b Abs. 1 StGB macht sich strafbar, wer zum Schwangerschaftsabbruch objektiv geeignete Mittel oder Gegenstände in Verkehr bringt mit der Absicht, rechtswidrige Schwangerschaftsabbrüche im Sinne von § 218 StGB zu fördern.[347] Widerhandlungen gegen § 219b Abs. 1 StGB werden mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. § 219b Abs. 3 StGB sieht zudem vor, dass tatbestandliche Mittel oder Gegenstände nach § 74 StGB eingezogen werden können.[348] Als Inverkehrbringen wird das Überlassen eines Gegenstandes an jemand anderen angesehen.[349] Eine objektive Eignung der Mittel und Gegenstände ist bereits bei deren relativer Tauglichkeit anzunehmen, d.h. bei einer Eignung zum Schwangerschaftsabbruch trotz bestimmungswidrigem Gebrauch.[350] Nicht tatbestandlich erfasst werden jedoch Vorbereitungshandlungen sowie der Versuch des Inverkehrbringens von Mittel zum Schwangerschaftsabbruch.[351] Der subjektive Tatbestand erfordert vorsätzliches Handeln bezüglich der objektiven Tatbestandsmerkmale, wobei Eventualvorsatz ausreicht.[352] Hinsichtlich der Förderung rechtswidriger Taten im Sinne von § 218 StGB wird jedoch Absicht, d.h. dolus directus 1. Grad, verlangt.[353] Eine Teilnahme an § 219b StGB ist nach den allgemeinen Grundsätzen (§§ 25 ff. StGB) möglich.[354] § 219b Abs. 2 StGB schließt allerdings eine Strafbarkeit der schwangeren Frau im Sinne eines persönlichen Strafausschlussgrundes aus.[355]
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Die Konkurrenzfrage gestaltet sich bei § 219b StGB wie folgt: Sofern mit einem nach § 219b StGB in Verkehr gebrachten Mittel ein Schwangerschaftsabbruch im Sinne von § 218 StGB durchgeführt wird, besteht zwischen diesen beiden Strafnormen Realkonkurrenz.[356] Wird jedoch das Mittel zum Schwangerschaftsabbruch lediglich einer bestimmten Schwangeren übergeben, so geht § 218 StGB vor.[357] Zwischen dem Werben für Schwangerschaftsabbruchsmittel nach § 219a Abs. 1 Nr. 2 StGB und dem Inverkehrbringen gemäss § 219b Abs. 1 StGB besteht ebenfalls Realkonkurrenz.[358] Führt das Inverkehrbringen der Mittel bzw. Gegenstände zur fahrlässigen Tötung oder Körperverletzung einer Schwangeren, so ist zwischen § 219b und den §§ 222–229 StGB Tateinheit anzunehmen.[359]
X. Praxis des Schwangerschaftsabbruchs in Deutschland
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Seit 1996 werden in Deutschland vierteljährlich Erhebungen zu den landesweit durchgeführten Schwangerschaftsabbrüchen mit Auskunftspflicht durchgeführt.[360] Konkret werden dabei unter anderem Daten zu Alter und Familienstand der Frau, die rechtliche Voraussetzung des Schwangerschaftsabbruchs (Beratungs- oder Indikationsregelung), die Dauer der Schwangerschaft in vollendeten Wochen, die Art des Eingriffs sowie der Ort des Eingriffs (Krankenhaus oder Praxis) erfasst.[361] Dabei ist die Anzahl der durchgeführten Schwangerschaftsabbrüche seit dem Jahr 2004 stets rückläufig (Jahr 2004: 129 650; Jahr 2010: 110 431 und Jahr 2016: 98 721).[362] Während 96,1 % der Schwangerschaftsabbrüche (Anzahl: 94 908) im Jahr 2016 auf Grundlage der Beratungsregelung (§ 218a Abs. 1 StGB) erfolgten, wurde in 3,8 % der Fälle ein Abbruch infolge einer medizinischen oder kriminologischen Indikation vorgenommen (3785 Schwangerschaftsabbrüche infolge medizinischer und 28 infolge kriminologischer Indikation).[363] Wie bereits im Vorjahr 2015 erfolgte die größte Anzahl (35 079) bzw. 35,5 % der Schwangerschaftsabbrüche zwischen der 7. bis und mit der 8. Schwangerschaftswoche.[364] Jenseits der 12-Wochen-Frist werden vergleichsweise deutlich weniger Schwangerschaftsabbrüche vorgenommen (gesamthaft 2829 bzw. 2,9 %).[365] Die meisten Schwangerschaften wurden mittels Vakuumaspiration, auch Absaug-Methode genannt, abgebrochen (Anzahl 61 622), gefolgt von der Abtreibungspille Mifegyne (19 978) und der Curettage, der sog. Ausschabung der Gebärmutter (13 488).[366] Schließlich wurden erkennbar mehr Schwangerschaftsabbrüche in einer gynäkologischen Praxis (77 078) als in einem Krankenhaus (18 649 ambulant; 2994 stationär) durchgeführt.[367]
1. Abschnitt: Schutz von Leib und Leben › § 3 Schwangerschaftsabbruch › E. Rechtsvergleich: Strafrechtliche Regelung des Schwangerschaftsabbruchs in der Schweiz
I. Menschenwürde und Recht auf Leben
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Ebenso wie Art. 2 Abs. 2 GG schützt auch Art. 10 Abs. 1 der Schweizerischen Bundesverfassung (BV)[368] das Recht auf Leben. Anders als in der deutschen Lehre und Rechtsprechung kommt nach herrschender Meinung in der Schweiz dem Ungeborenen kein „individuell-anspruchsbegründendes Grundrecht auf Leben“ zu.[369] Dennoch besteht auch in der Schweiz eine verfassungsrechtliche Pflicht, die Leibesfrucht zu schützen, wenngleich auch nicht von einem absoluten Lebensschutz, sondern von einer mit fortschreitender Entwicklung anwachsenden Schutzpflicht, d.h. einem abgestuften Lebensschutz, ausgegangen wird (siehe Ausführungen in Rn. 8).[370] Auch die Frage, ob die Leibesfrucht Grundrechtsträgerin der verfassungsrechtlich normierten Menschenwürde im Sinne von Art. 7 BV sei, kann nicht abschließend beantwortet werden, da sich die oberste Gerichtsinstanz der Schweiz, das Schweizerische Bundesgericht, bisher zu dieser Frage nicht eindeutig geäußert hat.[371] Allerdings ließ das Bundesgericht im Sinne eines obiter dictums im Zusammenhang mit der Beurteilung der beobachtenden Forschung an Embryonen in vitro verlauten, dass diese „mit der Würde des Menschen, welche schon dem Embryo in vitro zukommt“, durchaus vereinbar sei.[372] Die Menschenwürdegarantie wurde in der Bundesverfassung systematisch an den Anfang des Grundrechtskatalogs gestellt, was darauf schließen lässt, dass die Menschenwürde ein „grundlegendes Konstitutionsprinzip und [ein] Leitgrundsatz für jegliche Staatstätigkeit“ darstellt.[373] Diese Formulierung lässt jedoch noch keinen Aufschluss über die Rechtsnatur von Art. 7 BV zu, d.h. stellt sich die Frage, ob die Menschenwürde ein Grundrecht oder lediglich ein Verfassungsgrundsatz darstellt. Das Schweizerische Bundesgericht hat diese Frage dahingehend beantwortet, dass die Garantie der Menschenwürde sowohl einen Leitgrundsatz als auch ein Auffanggrundrecht verkörpert, diesbezüglich also beides zutreffen kann.[374] In der schweizerischen Lehre wird der Grundrechtscharakter von Art. 7 BV mehrheitlich bejaht.[375] Da auch in der Schweizerischen Bundesverfassung gleichsam wie im Deutschen Grundgesetz die Menschenwürdegarantie unantastbar ist, müsste mit einem Zugeständnis der Menschenwürde als individuell-anspruchsbegründendes Grundrecht eines jeden Ungeborenen jegliche Güterrechtsabwägung und somit auch jeder Schwangerschaftsabbruch gleichgültig welchen Beweggrundes verunmöglicht bzw. verboten werden.[376] Deshalb kommt nach herrschender Meinung dem Embryo bzw. Fötus eine Menschenwürdegarantie nicht als individuell-anspruchsbegründendes Grundrecht, sondern lediglich als objektives Verfassungsprinzip zu.[377] Zumindest ist ein gewisser verfassungsrechtlicher Schutz im Sinne von Art. 7 und Art. 10 Abs. 1 BV nach herrschender Meinung in der Schweiz auch dem ungeborenen Leben zuzugestehen, wobei aber eine Konkretisierung dieses Schutzbereichs bis anhin weder durch die Rechtsprechung noch durch einen