Die Magie von Pax. Sarah Nicola Heidner

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Название Die Magie von Pax
Автор произведения Sarah Nicola Heidner
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Издательство
Год выпуска 0
isbn 9783957448361



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      Als ich das nächste Mal aufwachte, fühlte ich mich kräftiger. Ich war alleine im Zimmer – Bea und Mary schienen beim Abendessen zu sein. Ich stand auf, warf mir meine rote Robe über und ging die Wendeltreppe nach unten in die Mensa. Yu Weiß warf mir einen besorgten Blick zu, erhob sich aber nicht vom Lehrertisch. Einen Vorteil hatte es auf jeden Fall, dass ich erst so spät zum Abendessen kam: Es gab keine Schlangen mehr. Ich nahm mir schnell einen Teller Nudeln und den Salat »Rotkutte«, den es eigentlich zu allem gab (keine Ahnung, was der mit Rotkutten zu tun hatte: Grünzeug, Paprika, Tomaten, Gurken und Käsestücke, übergossen mit einer grünlichen Kräutersoße) und setzte mich an unseren Stammtisch.

      »Wie geht’s dir?«, fragten Mary und Bea gleichzeitig.

      »Besser«, sagte ich und fing Merls fragenden Blick auf. Ich hob die Schultern – was wollte er? Merl wandte sich wieder seinen Kumpels zu und ich mich meinem Essen.

      In der Nacht konnte ich nicht schlafen (kein Wunder, ich hatte ja den ganzen Tag verpennt) und irgendwann hielt ich es nicht mehr aus. Isabells Mentor schlief tief und fest vor unserer Tür, sodass ich leicht an ihm vorbeikam. In den ersten paar Jahren, die ich hier war, hatte ich einen Lieblingsplatz entdeckt – das Dach. Dorthin zog ich mich immer zurück, wenn ich es mit den anderen Rotkutten nicht mehr aushielt. Ich lief durch die leeren Gänge zum Physiktrakt.

      Im Physikraum stieg ich auf das Lehrerpult und öffnete die Falltür an der Decke, dann zog ich die Leiter nach unten und kletterte aufs Dach. Gerade nachts war es ein atemberaubender Ausblick: rechts von mir sah ich hinter ein paar Rotkuttenhäusern den dunklen Wald, der die Grenze zwischen dem Rot- und dem Schwarzkuttengebiet abgrenzte. Unter dem Dach konnte man schemenhaft den Hof erkennen. Sofort musste ich wieder an das Bild von Bea denken, wie sie dort auf dem Boden lag und ich erkannte, dass Mary eine Schwarzkutte war.

      Ich zog mich die letzte Stufe auf das bewachsene Dach, umrundete einen der vielen Schornsteine und setzte mich vorne auf die Kante, sodass ich meine Füße baumeln lassen konnte. Ein leichter Wind wehte mir die Haare ins Gesicht und ließ die Bäume des Waldes leise rascheln.

      In diesem Moment hörte ich ein Klappern – das Geräusch, dass die alte Leiter machte, wenn man aufs Dach stieg. Sofort war ich hellwach. Irgendwie spürte ich, dass dort niemand heraufstieg, den ich gerne hier oben hätte.

      Erst dachte ich, es wäre Mary, die ihre Schwarzkuttenrobe angezogen hatte. Aber Mary war kleiner als diese Person und außerdem kamen sie zu sechst – Schwarzkutten! Mein panischer Blick glitt über das Dach, aber hier war nirgendwo ein Ausweg – ich saß in der Falle! Ich hatte nicht die geringste Ahnung, warum und wie die Schwarzkutten hier hoch gekommen waren, aber es interessierte mich im Moment auch nicht. Dass sie nichts Gutes im Schilde führten, war mir auch klar, ohne ihre genauen Beweggründe zu kennen. Die Gestalten kamen näher, und ich sah in ihren Händen Schwerter aufblitzen, die das Zeichen der Schwarzkutten waren. Hektisch rannte ich an der Kante des Daches entlang und schrie um Hilfe, aber ich wusste, dass meine Stimme weder zu den Schlafräumen der Lehrer oder Schüler vordringen würde, noch zu den anderen Häuser der Rotkutten.

      Alleine, ohne irgendwelche Magie oder Waffen, stand ich nun sechs Schwarzkutten entgegen (also fabelhafte Aussichten!). Mein Herz pochte vor Angst, aber äußerlich war ich ganz ruhig. Eine der Schwarzkutten trat näher auf mich zu und hielt mir sein Schwert direkt vor mein Gesicht.

      »Mitkommen«, blaffte er mit einer dumpfen Stimme, die durch seine Kapuze gedämpft klang. Ich wusste nicht, was in diesem Moment mit mir passierte. Hilflos hoben sich meine Arme und ich trat ein paar Schritte zurück. Die Schwarzkutte machte einen Schritt auf mich zu und packte mich grob am Ärmel. Ich spürte, wie Panikwellen durch meinen Körper schossen, Kälte und Wärme, Leichtigkeit und Schwere. Dann brach die Welt zusammen (na ja, so fühlte es sich wenigstens an). Ich konnte nicht genau sehen, was passierte. Irgendwie schien die Luft zu rötlich zu glühen, während Regen und Sturm eingesetzt haben mussten. Ich konnte die Schwarzkutten nicht mehr sehen – aber irgendwie sah ich sowieso nur noch bunte Farbtupfer vor meinen Augen. Dann bebte die Erde und ich machte erschreckt einen Schritt nach hinten – über die Dachkante hinaus ins Nichts.

      Der Flug nach unten kam mir merkwürdig langsam vor. Vor meinen Augen flimmerte es die ganze Zeit und als ich sanft unten auf dem Boden aufkam, knickten meine Beine unter mir weg. Ich sank dem Boden entgegen und hatte das Gefühl, jetzt ernsthaft verrückt zu werden. Meine Arme und Beine zitterten wie verrückt, als ich versuchte, mich wieder aufzurichten und an dem zwanzig Meter hohen Dach emporblickte. Wo war ich noch mal? Moment – da waren diese … diese Leute gewesen … Meine Gedanken wurden immer unklarer, und mein Gesicht donnerte heftig auf den Boden, als mir schwarz vor Augen wurde.

      Ich erwachte mit dem Gesicht auf der Erde im Hof – genau dort, wo Mary und ich Bea hingelegt hatten.

      Die Sonne war gerade dabei aufzugehen, und tauchte das Schülerhaus in ein gespenstisches Licht. Dann fiel mir wieder ein, dass ich auf dem Dach gewesen war. Vorsichtig stand ich auf und meine Erinnerungen kamen auf einen Schlag zurück: Das Flimmern in der Luft, der Regen, der Sturm, das Erdbeben. Hatten die anderen davon gar nichts mitbekommen? Und wo waren die Schwarzkutten? Verwirrt stolperte ich ins Schülerhaus und die Wendeltreppe nach oben in unser Zimmer – doch weder Bea noch Mary waren da. Ich machte auf dem Absatz kehrt und lief – nun ehrlich besorgt – die Treppe wieder nach unten. Da sah ich Licht in der Mensa, und als ich näher trat bemerkte ich, dass alle sich eingefunden hatten, wirklich alle. Die Mentoren saßen bei ihren Schülern, während die jüngeren Kinder mit ihren Freunden an Tischen zusammengekauert waren. Yu Weiß saß auf (!) einem der Tische und sprach ruhig und gefasst zu den anderen. Vorsichtig trat ich näher und sah, wie Bea und Mary mich zu einem Tisch winkten, an dem schon ein paar zehnjährige Mädchen in Nachthemden saßen und dem Weinen nahe zu sein schienen.

      »Wo verdammt noch mal warst du?«, zischelte Bea mir zu. Ich hatte keine Ahnung, was ich von dem Geschehenen halten, geschweige denn, wie ich es in Worte fassen sollte (ehrlich gesagt zweifelte ich wirklich an meinem Geisteszustand), also zuckte ich nur mit den Schultern und wandte mich Yu Weiß zu.

      »Ja, es gibt selten Erdbeben, Ilse. Das ist aber kein Grund zur Besorgnis und sicher kein Vorbote zum Weltuntergang«, sagte er nachdrücklich zu einer jüngeren Schülerin, die sich klammheimlich die Tränen aus dem Gesicht wischte. Sie klammerte sich verängstigt an ihre Freunde und schien nur bedingt beruhigt durch Yu Weiß’ Worte zu sein. »Meine Eltern sagen, dass Erbeben von den Göttern kommen«, murmelte sie.

      »Nun, die Götter haben in allem ihre Finger mit drin«, sagte Yu Weiß sanft und richtete sich dann an alle, sodass das leise, unruhige Geflüster zwischen den Schülern erstarb. »Das Erdbeben und auch der Sturm sind kein Grund zu Sorge, meine Lieben. Ihr könnt wirklich wieder ins Bett gehen.« Die meisten Schüler erhoben sich, aber ich hörte, wie viele von ihnen ängstlich »Armet sei bei uns« murmelten. Das Erdbeben schien sie wirklich verschreckt zu haben. Mein Magen drehte sich um, als ich an das dachte, was auf dem Dach passiert war. Ich hatte keine Erklärung für so etwas – die Götter mussten ihre Finger im Spiel haben. Aber selbst ich wusste, dass Armet so etwas nicht geschafft hatte. Hylos, der Gott der Schwarzkutten, oder Lucis, die Göttin der Blaukutten, musste das Erdbeben verursacht haben.

      Bea riss mich aus meinen Gedanken, indem sie mich am Handgelenk fasste und mit den Schülermassen aus der Mensa drängte.

      Kaum waren wir in unserem Zimmer, platzte Bea heraus: »Wo warst du, Sofia? Wir haben uns solche Sorgen gemacht!«

      Ich ließ mich auf mein Bett sinken und überlegte, was ich erzählen sollte. Ich sah meine beste Freundin nachdenklich an. Sie war immer für mich da. Bei der Frage ob ich Mary vertrauen könnte, war ich mir zwar noch sehr unschlüssig, aber sie kannte sich mit Schwarzkutten am besten aus. Wenn jemand eine Erklärung hatte, dann sie. Ich seufzte noch einmal und ließ mich auf mein Bett fallen.

      »Ihr müsst versprechen, dass ihr das jetzt nicht weitererzählt«, ich sah Bea, die sich unter ihre Decke gekuschelt und Mary, die wie immer ein Buch in den Händen hatte, ernst an. Dann erzählte ich ihnen alles; angefangen von meiner Schlaflosigkeit und dem Besuch des Dachs, dem Klappern der Leiter und meiner Angst. Auch von dem Flimmern vor meinen Augen berichtete ich, auch wenn ich befürchtete, dass sie