Carola Pütz - Verlorene Seelen. Michael Wagner J.

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Название Carola Pütz - Verlorene Seelen
Автор произведения Michael Wagner J.
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847695493



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weiter steigend. Doch sie bemerkte es nicht. Ihre Zählmacke arbeitete, ohne Schaden anzurichten, im Offline-Modus. Schnell und präzise.

      Ihr war das Schwimmbad vom Samstag her bekannt, doch hatte es jetzt etwas Fremdes, Bedrohliches. Durch die mit Jugendstilblüten verzierten Fenster fiel kein Licht.

      Im Gegenteil, wie durch finstere Höhleneingänge glotzte die Dunkelheit herein. Alle Strahler in der Halle schienen in Betrieb zu sein und beleuchteten sie mehr als taghell. Dennoch blieb die Stimmung düster.

      Sie bemerkte, wie ihr Blick durch den gesamten Raum flog, ein Detail hier und ein Detail dort aufnahm.

      Die Leiche weiblich und nackt.

      Carola sah am Beckenrand und im Wasser keine Kleidung. Nur die Uniform des Polizisten lag auf einem Haufen neben einer Leiter, die ins Wasser führte.

      Kein Badeanzug, Bikini oder Badetuch.

      Keine Schuhe oder Sandalen.

      Sie hob ihren Kopf und ließ den Blick wandern.

      Alle Fenster verschlossen.

      Alle Türen geschlossen.

      Am Beckenrand, etwa zehn Meter entfernt, bemerkte sie Wasserpfützen. Hatte diese Spuren jemand hinterlassen, als er aus dem Wasser kletterte?

      Die Spuren endeten vor einer Tür am hinteren Ende der Halle.

      Carola wettete, dass man auch dahinter noch nasse Fußabdrücke finden würde.

       Ein Fluchtweg. Der Weg des Mörders?

      Der Körper wurde aus dem Becken gezogen und auf ein Handtuch der Notärzte gelegt. Carola Pütz kletterte die drei Stufen hinunter und ging mit festem Schritt zu der Leiche hinüber. Mit betroffenen Gesichtern standen drei Polizisten und der Notarzt neben der Toten. Der Beamte, der die Tote aus dem Wasser geholt hatte, kletterte heraus und trocknete sich ab.

      Vor Carola lag eine junge Frau, noch keine zwanzig Jahre alt. Blondes Haar ruhte wie Seetang auf dem Handtuch und auf ihren Schultern. Schlank war sie, eine beinahe knabenhafte Figur. Ihre Augen starrten an die hellblau gestrichene Decke.

       War diese Decke das Letzte, was sie gesehen hatte?

      Wie war diese Frau hierher gelangt? Sie schaute wie gebannt auf die Tote. Dunkle Einblutungen an ihrer Kehle schienen auf einen Tod durch Erwürgen hinzudeuten. Was Carola außerdem noch wahrnahm, ließ sie erschaudern. Der Vaginalbereich der Frau schien ebenso blutunterlaufen. Vor ihren Tod hatte man ihr massiv Gewalt angetan. Eine Vergewaltigung erschien mehr als wahrscheinlich, sie würde die Tote auf jeden Fall auf Sperma untersuchen.

      »Was haben Sie denn hier zu suchen?«, fragte einer der Beamten, der nun auf Carola und Herrn Winterhalter aufmerksam geworden war.

      »Ich bin von der Presse, man hat uns durchgelassen«, sagte Winterhalter cool.

      »Ausweis«, herrschte ihn der Beamte an.

      Winterhalter zückte seinen Presseausweis.

      »Aus der Schweiz?«

      »Ja, was dagegen?«, fragte Winterhalter frech und nahm dem Beamten den Ausweis aus der Hand.

      »Ich weiß nicht, was ein Schweizer Pressemann hier zu suchen hat«, sagte der Beamte leicht irritiert.

      Reto Winterhalter beugte sich leicht nach vorne, denn der Beamte war einen Kopf kleiner als er. »Auch wenn Sie es nicht glauben, auch in der Schweiz interessiert man sich für Mordfälle. Vor allem, wenn sie in mondänen Kurorten geschehen.«

      Der Dialekt.

      Carola kam es so vor, als setzte er ihn in diesem Moment gezielt als Waffe gegen die scheinbare Begriffsstutzigkeit dieses Beamten ein.

      »Mord? Wer spricht hier von Mord? Wir haben bisher nur eine Tote im Pool. Niemand redet von einem Mord.« Als hätte er sich vor seinen eigenen Worten erschrocken, blickte er sich unsicher um.

      Wenn solche Pfeifen in dem Fall ermitteln, spricht auch niemand von einem Mord, weil sie zu unbedarft sind, ihn zu erkennen.

      »Wer leitet denn hier die Ermittlung?«, fragte Carola.

      »Darf ich mal fragen, wer Sie sind? Auch Presse? Vielleicht aus Österreich?«

      Er grinste, weil er seine Worte für witzig hielt.

      »Nein, keine Presse. Tut mir leid, Sie da enttäuschen zu müssen. Mein Name ist Dr. Carola Pütz aus Deutschland. Ich bin Gerichtsmedizinerin und plastische Forensikerin an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt. Wer leitet die Ermittlungen?«

      Dem Polizisten blieb der Mund offen stehen. Das Grinsen war verschwunden. Reto Winterhalter allerdings grinste in sein kleines Bärtchen. Jetzt also hatte seine Begleiterin ihr Inkognito aufgegeben. Gerichtsmedizinerin. Welcher Beruf passte besser? Keiner.

      »Der Kommissar und sein Team sind noch nicht eingetroffen. Es kann eine Weile dauern, bis sie aus Plauen hier vor Ort eintreffen«, sagte der Mann recht kleinlaut.

      Carola konnte nicht länger an sich halten. »Und in der Zeit zerstören sie hier wie eine Herde Elefanten alle Tatortspuren. Na toll, wo haben Sie denn Ihre Ausbildung gemacht? Im Hühnerstall?«

      »Tatortspuren?«, fragte der Beamte. Er hatte die Beleidigung entweder nicht verstanden oder einfach überhört.

      »Ja, Tatortspuren. So etwas nennt man zum Beispiel Tatortspuren«, sagte sie und zeigte auf die kleinen Wasserpfützen, die bis zu der Tür in der Ecke führten.

      Der Beamte schaute in die Richtung, in die Carola mit ihrer rechten Hand zeigte.

      »Die haben wir noch nicht bemerkt«, gab der Mann beschämt zu.

      Carola kam in Fahrt. »Das denke ich mir. Lag die Tote auf dem Bauch oder auf dem Rücken im Wasser?«

      »Auf dem Rücken«, antwortete der Beamte behäbig.

      »Aha, das lässt darauf schließen, dass der Täter oder derjenige, der die Tote ins Becken gelegt hat, eine Beziehung zu seinem Opfer hatte. Er wollte ihr noch einmal in die Augen schauen. Hätte man sie auf dem Bauch liegend vorgefunden, könnte man davon ausgehen, dass er sie einfach entsorgt hat; sie ins Wasser warf. Aber dagegen sprechen auch die Wasserspuren am Beckenrand. Der Täter ist zusammen mit dem Opfer hineingestiegen und ist später erst wieder herausgeklettert. Wenn Sie den Spuren hinter dieser Tür dort folgen, können Sie Ihren Kommissar enorm beeindrucken, weil sie bereits wissen, wohin der Täter geflohen ist. Und sperren Sie alles hier ab. Ist nur ein gutgemeinter Rat von mir.«

      Man sah dem Mann die Überraschung an, doch nach einer Sekunde des Nachdenkens reagierte er, schrie quer durch die Halle zu seinem Kollegen: »Wir müssen hier absperren. Der Mörder ist sicher durch diese Tür dort geflohen.«

      Er fuchtelte mit seinem rechten Arm in der Luft herum und zeigte auf die besagte Tür. Der angesprochene Beamte verstand überhaupt nichts und der, der ihn angesprochen hatte, spurtete zu ihm hinüber, um ihm sein Wissen vorzutragen.

      »Ich bin beeindruckt, Frau Doktor Carola Pütz. So etwas lernt man als Gerichtsmedizinerin? Ich dachte immer nur, das wäre: Leiche auf, die Todesursache suchen und Leiche wieder zu.« Winterhalter machte eine kleine, elegante Verbeugung vor Carola Pütz.

      Sie fühlte sich geschmeichelt und gleichzeitig amüsiert durch die beiden niedlichen schweizerischen ‘ch‘ in dem Wort Leiche. Dennoch, so oder so wollte diese kleine Neckerei nicht zur Situation passen.

      »Nein, das lernt man in langen Jahren als Ermittlerin am Tatort. Ein Toter gibt seine Geheimnisse viel schwerer preis. Naja, manchmal jedenfalls.«

      »Was denken Sie? Ist sie ermordet worden?«

      Diese Frage stellte er hoffentlich rhetorisch. Jeder konnte sehen, dass die Frau keines natürlichen Todes gestorben war. Selbst Ertrinken schied mit den immensen Würgemalen