Carola Pütz - Verlorene Seelen. Michael Wagner J.

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Название Carola Pütz - Verlorene Seelen
Автор произведения Michael Wagner J.
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847695493



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Sie orientierte sich. Sie stand in der Bahnhofstraße. Auf der anderen Seite der Bahnhofstraße befand sich das hochherrschaftliche Gebäude. Eine kleine Brücke führte über die Weiße Elster, sie überquerte sie und schon stand sie vor dem alten, noblen Badehaus.

      Der Mittelteil des rosa gestrichenen Gebäudes hatte einen steinernen Vorbau. Dort befand sich der Haupteingang. Darüber gab es einen Balkon mit einem verschnörkelten Gitter. In goldenen Lettern stand über dem Balkon ‚Albert Bad‘ geschrieben. Auf der kupfernen Haube, die auf dem Dach des Hauptgebäudes saß, lag jetzt ein wenig Schnee auf der grünlichen Patina des Kupfers.

      Rechts und links des mit einem Walmdach gekrönten Mittelgebäudes schlossen sich niedrigere, langgezogene Bauten an. Hier dominierten die blau gestrichenen Schlagläden, die jedes der sechzehn Fenster rahmten. An den Eckpunkten saßen viereckige, dreistöckige Gebilde. Auch im Obergeschoss sah Carola große Fenster mit einem Balkon.

      Der Wind peitschte ihr die Schneeflocken heftig ins Gesicht. Sie fing zu blinzeln an und senkte den Kopf. Sie ging am Albert Bad vorbei in Richtung der Marienquelle weiter. Sie beschleunigte ihren Schritt. Das flache Gebäude besaß großflächige Glasflächen. Eine verglaste Rotunde saß mittig über dem Brunnen mit seiner Schale, aus der das Quellwasser floss. Auf diesem Dach stand, von Weitem sichtbar, eine vergoldete Statue einer Kugelträgerin.

      War das die Quelle, von der der Bademeister gesprochen hatte?

      Sie öffnete die Eingangstür. Carola war froh, dem Schneetreiben entfliehen zu können. Niemand außer ihr hielt sich in dem Quellengebäude auf. Sie setzte sich auf eine Bank und lauschte in die Stille, die nur von dem Plätschern des Quellwassers gestört wurde, auf eine sehr angenehme Art. Sie schloss ihre Augen. Horchte in sich hinein. Sie liebte das Geräusch von fließendem Wasser, es beruhigte sie. Ihre Macke hatte Pause. Seit dem unseligen Streit mit Lara Kaiser fühlte sie sich ruhiger. Es gab keine Reize. Weder von außen noch von innen.

      Was sie nie für möglich gehalten hätte: Der Aufenthalt in der Kurklinik tat ihr gut. Bislang war nicht viel mit ihr passiert, also schrieb sie es der veränderten Umgebung und der Ruhe zu, dass sie sich besser fühlte. Mit einem Strahlen öffnete sie ihre Augen.

      Neben der Schale mit der Quelle stand ein schlanker Mann mit dem Rücken zu ihr. Er trug einen langen schwarzen Mantel, der die leicht grauen Haare wirkungsvoll zur Geltung brachte. Carola Pütz nahm ihn nicht wahr, obwohl er die einzige Person weit und breit war. Bis er sich herumdrehte und sich ihre Blicke trafen. Sie erschrak.

      An wen erinnerte sie dieser Mann? An wen erinnerten sie diese Augen?

      Blau, intensiv, aber nicht stechend.

      Sie konnte den Blick nicht von ihm lassen. Sein Kinn zierte ein kleiner, zierlicher Bart, wie ein flüchtiger Pinselstrich eines Malers. Ebenfalls grau.

      Jetzt fingen seine Augen an zu lächeln. Eher etwas verwirrt als selbstsicher, lächelte sie zurück. Er ging an ihr vorbei und flüsterte ein »Guten Tag«, als wolle er die Stille des Ortes nicht stören. Ein Dialekt. Offensichtlich Schweizer. Sie antwortete mit einem gehauchten Gruß. Schließlich schlenderte er weiter. Carola schaute ihm nach, schüttelte den Kopf.

      Was ist denn los mit dir?

      Erst flirtete sie ungeniert mit dem Bademeister, jetzt ließ sie sich auf einen Augenflirt mit einem Fremden ein. Seit ihrer Scheidung vor über einem Jahr hatte sie so etwas nicht mehr zugelassen. Etwas in ihr hatte Nachholbedarf. Sie schmunzelte. Wohin wird es dich noch führen? Sie blickte sich erneut um. Der Fremde war aus ihrem Blickfeld verschwunden.

      *

      Nachdem sie nach ihrer Rückkehr völlig verfroren einen Kaffee zum Aufwärmen getrunken hatte, verbrachte sie eine Stunde in einer heißen Badewanne.

      Unwillig verließ sie die Wanne und trocknete sich mit einem riesigen Badetuch ab. Sie knotete sich das Tuch um, rubbelte sich die Haare trocken.

      Mit der linken Hand wischte sie den beschlagenen Spiegel frei. Dabei fiel ihr Blick auf die Narbe in ihrer Handfläche. Eine bleibende Erinnerung an den Tag, der ihr Leben so schicksalhaft verändert hatte. Als sie in Bonn für ihre Kollegin Dr. Beisiegel eine forensische Zeichnung anfertigte, hatte sie die bislang grauenvollste Zählattacke erlitten. Sie rettete sich in völlige Dunkelheit. Dabei hatte sie aus Wut über ihre körperliche Verfassung einen Instrumentenwagen umgestoßen. Im Dunkeln nach einem Skalpell tastend, hatte sie sich die Handfläche aufgeschnitten.

      Sie hielt inne und sah sich etwas verstört im Spiegel an. War das eine Erinnerung aus ihrem Leben?

      Wäre nicht die Narbe auf ihrer Hand ein Beweis dafür, sie hätte es für ein Bild aus einem Roman halten können. Sie nahm sich ein Handtuch und wischte den Spiegel blank. Carola Pütz dachte schnell nach. Diese Narbe würde sie immer an diesen Tag erinnern. Es gab keine Alternative. Überhaupt keine. So einfach erschien das Leben manchmal.

      Sie legte das Handtuch zurück und begann, sich zu schminken. Was sie auch selten tat. Carola Pütz hatte eine natürliche Schönheit. Sie trug etwas Rouge auf ihre hohen Wangenknochen, die ihr einen leicht slawischen Einschlag gaben. Dabei hatte sie keine Wurzeln im Osten. Ihre Eltern kamen aus dem Rheinland, verzogen später aus beruflichen Gründen ins Rhein-Main-Gebiet. Nach ihrem Studium hatte sie an verschiedenen Orten gelebt, um nach ihrer Heirat erneut in Frankfurt ansässig zu werden. Nachdem sich ihr Mann von ihr trennte, hatte sie überlegt, der Main-Metropole den Rücken zuzukehren. Weil sie sich jedoch ihrer Universität zugehörig fühlte, blieb sie dort. Durch ihre Lehrtätigkeit und die häufigen Vortragsreisen hatte sie genug Zerstreuung. Die Villa, die sie zusammen mit ihrem Mann bewohnt hatte, wurde verkauft.

      Die Verletzung, die dieser Mann, mit dem sie beinahe zwanzig Jahre zusammengelebt hatte, ihr zugefügt hatte, lag schwer auf ihrer Seele.

      Sie bezog eine Eigentumswohnung, stürzte sich noch mehr als bisher in die Arbeit.

      Ab und zu hatte sie sich eine Auszeit genommen. Nicht oft genug, wie sie leidvoll erfahren musste.

       Fang jetzt nicht an, frustig zu werden.

      Sie sprach laut vor sich hin, lächelte.

       Und bitte auch keine Selbstgespräche.

      Wie sie feststellen musste, hatte ihr Abendkleid auf der Reise gelitten, obwohl sie es in einem Kleiderschutzbeutel gelagert hatte. Sie hängte es auf einen Bügel und glättete die entstandenen Falten mit der Hand. Ohne Erfolg. Sie griff zum Telefon und fragte an der Rezeption nach, ob sie das Kleid zum Bügeln abgeben könnte.

      »Aber selbstverständlich«, erhielt sie zur Antwort. Sie legte sich das Kleid über den Arm und machte sich auf den Weg zum Empfang.

      Der Schneefall hatte nachgelassen. Das fiel ihr auf, als sie den Gang durchquerte. Draußen war der Hausmeister damit beschäftigt, den Weg mit einem Fahrzeug vom Schnee zu befreien. Sie hielt kurz inne und sah, wie er den Schnee zu einem Haufen auftürmte. Das Fahrzeug sah aus wie ein kleiner Bagger, vorne mit einer Schaufel versehen.

      Nachdem man ihr am Empfang versichert hatte, sie könne ihr Kleid am späten Abend abholen, ging sie zum Speisesaal. Warum auch immer. Möglicherweise, weil die Tür einen Spalt offenstand. Es war viel zu früh für das Abendessen, selbst die Angestellten waren noch nicht mit den Vorbereitungen zugange.

      Sie öffnete die Tür und ging hinein. Ohne Menschen hatte der Speisesaal etwas von einem Theatersaal. Stellte man die Bestuhlung anders auf und entfernte die Tische, so hatte man ein wunderbares Auditorium. Die schweren Kristalllüster in Verbindung mit der hohen Decke verliehen dem Speisesaal das Aussehen eines ehrwürdigen Theaters. Sie stellte sich vor, wie auf der Bühne ein Theaterstück aufgeführt wurde, als sie plötzlich Stimmen hörte. Sie kamen aus einem kleinen Raum, der sich rechts neben der Bühne befand, dort stand ebenfalls die Tür offen. Carola Pütz ging vorwitzig näher. Die Stimmen klangen aufgeregt, aber trotzdem gedämpft.

       War das ein Streitgespräch?

      Sie stieg leise die Stufen zur Bühne hoch und ging auf Zehenspitzen in Richtung Tür. Siebzehn Parkettfliesen