Carola Pütz - Verlorene Seelen. Michael Wagner J.

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Название Carola Pütz - Verlorene Seelen
Автор произведения Michael Wagner J.
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847695493



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Mit zusammengezogenen Schultern stand sie neben Silvia Schleisieck. Beiden traten auf der Stelle, um sich ein wenig aufzuwärmen. Einlass war Punkt neunzehn Uhr, das Konzert begann eine halbe Stunde später. Sie sah auf ihre Armbanduhr. Es war fünf vor sieben.

      »Mensch, die sind ja hier so pünktlich wie in der Klinik«, sagte Frau Schleisieck.

      »Hmh, stimmt«, antwortete Carola zähneklappernd.

      Mit einem Mal öffneten sich zeitgleich die beiden schweren Flügeltüren. Zwei livrierte Herren baten die Konzertbesucher hinein.

      Prompt erhob sich ein Stimmengewirr. Die Wartenden drängten sich über den roten Teppich ins Warme, um dort erneut gebremst zu werden. Von einer netten Dame, die den Gästen den Weg zur Garderobe anwies. Niemand durfte seinen Mantel mit in den Saal nehmen, trotz der Temperaturen. Carola und Silvia Schleisieck bahnten sich den Weg zur Kasse. Dort waren die Karten für sie hinterlegt. Es klappte reibungslos, fünf Minuten später standen beide Frauen im Saal und schauten sich um.

      Es gab einen erbitterten Kampf zwischen den Kliniken in Bad Elster um die Vergabe der besten Plätze. Dieser Kampf war beinahe so alt wie der Kurort selbst und wurde mit einer besonderen Hingabe gepflegt. Da die Klinik ‚Sachsenglück‘ zu den ältesten am Ort zählte, hatte sie auch ein gutes Renommee. Die beiden Frauen schauten auf ihre Karten und gingen ein paar Schritte weiter, um sich zu orientieren. Ein uniformierter Platzanweiser trat zu ihnen und nahm die Karten kurz in die Hand. Dann gab er sie zurück und murmelte dienstbeflissen, die Damen sollten ihm bitte folgen. Doktor Pütz hatte vorher schon die Befürchtung geäußert, dass sie vielleicht irgendwo rechts oder links außen sitzen würden, wo die Akustik grottenschlecht sein würde. Doch ihre Befürchtungen waren unbegründet. Der Platzanweiser zeigte auf zwei Plätze in der zehnten Reihe, ziemlich mittig gelegen. Die Klinik ‚Sachsenglück‘ hatte mal wieder gewonnen und sehr gute Plätze ergattert.

      »Perfekt«, entfuhr es ihr, als sie sich setzte. Silvia Schleisieck nahm rechts neben ihr Platz.

      »Diese Atmosphäre. Da können moderne Bauten einfach nicht mithalten. Schauen Sie sich das an, wie herrlich.«

      Mit strahlenden Augen sah sich ihre neugewonnene Bekannte um. Sie hatte zweifelsohne recht. Der Bau hatte mehr als Stil. Er hatte Geschichte. Verglichen mit modernen Häusern, in denen klassische Musik dargeboten wurde, war dieses Theater hier sicher eher klein. Klein, aber fein.

      Binnen einer Viertelstunde war das König Albert Theater bis auf den letzten Platz gefüllt. Wie an solchen Orten üblich, herrschte ein gedämpftes Gemurmel. Ein paar alte Männer hasteten noch rasch zur Toilette. Mit erleichterten Gesichtern kamen sie zurück, kurz bevor die Musiker ihre Instrumente stimmten. Auf der Empore standen einige Personen und sahen ihnen dabei zu.

      Sie setzten sich erst, als der Dirigent durch eine Seitentür die Bühne betreten und seine Noten auf dem Dirigentenpult abgelegt hatte. Er verbeugte sich vor dem Publikum, nachdem er sich mit einem eleganten Schwung herumgedreht hatte. Die Musiker standen erneut auf, begrüßten das Publikum und verneigten sich. Applaus brandete auf. Der Dirigent wandte sich seinem Orchester zu.

      Dann wurde es still. Ein letzter Zuhörer ließ einen erstickten Huster los. Der Dirigent hob den Taktstock. Carola konnte kaum den ersten Ton abwarten.

      Wehmütig klang er, ebenso auch die ganze Einleitung des Adagios.

      Ohne es zu bemerken, zählte Carola die Musiker. Es fiel ihr leicht, weil sie nicht in einem Orchestergraben, sondern etwas erhöht saßen und daher gut zu sehen waren. Sie zählte zwei Flöten, zwei Oboen, zwei Klarinetten, zwei Fagotte sowie vier Hörner, zwei Trompeten, dazu drei Posaunen, eine Tuba, eine Pauke, eine Triangel, ein Becken und zehn Streichinstrumente.

      In dieser Art von Musik konnte sie aufgehen. Es fiel ihr nicht schwer, sich fallenzulassen. Warum ihr ausgerechnet diese 9. Symphonie so eine Freude bereitete, vermochte sie nicht einmal zu sagen. Auch Dvoráks Polowetzer Tänzer gefielen ihr sehr. Doch nur diese spezielle Orchestrierung hatte es ihr besonders angetan. Es kam ihr beinahe so vor, als hätte Dvorák ihr die Noten aus der Seele entwendet.

      Zwischen dem zweiten und dem dritten Satz gab es eine Pause. Carola erwachte wie aus einem Tagtraum, als im Saal plötzlich das Licht eingeschaltet wurde. Sie hätte die Pause später erwartet, nach der Symphonie, zwischen den beiden Komponisten. Denn danach spielte das Orchester ein weiteres Stück. Ein modernes Stück von Kodály, das ihr nicht geläufig war.

      »Ungewöhnlich, jetzt eine Pause zu machen«, empfand auch Frau Schleisieck. Das Gemurmel im Saal schwoll an. Sie sahen sich um. Einige standen auf, um sich die Beine zu vertreten, andere gingen ins Foyer.

      »Gehen wir auch?«

      »Warum nicht. Gefällt es Ihnen?«, fragte Carola.

      »Sehr schön. Ich genieße es. Es war eine hervorragende Idee, Sie zu begleiten, Frau Doktor Pütz«, sagte sie.

      Als sie im Foyer ankamen, war dieses bereits gut besucht. Ein Kellner reichte ein Glas Sekt.

      »Auf diesen schönen Abend«, prostete Carola ihrem Gegenüber zu. Diese hob ebenfalls ihr Glas.

      »Auf diesen vielversprechenden Abend. Ich finde es interessant, wie viele kultivierte Menschen man an einem solchen Ort trifft. Ich hatte keinerlei Erwartungen an Bad Elster, als ich erfuhr, dass ich hier meinen Kuraufenthalt verbringen würde. Der Name klingt wie aus einem Roman. Und jetzt stehen wir hier.«

      »Ja«, sagte Carola lachend, »mir ging es ähnlich. Der Ort nimmt einen mit seinem Charme gefangen.«

      Etwas drang an ihr Ohr. Fremd und doch ein wenig vertraut. Der Schweizer Dialekt, den sie schon einmal gehört hatte. Sie sah sich um, tatsächlich, keine drei Meter entfernt stand der Mann, der ihr am Nachmittag in der Albert Quelle begegnet war. Er unterhielt sich angeregt. Silvia Schleisieck fing ihren Blick auf.

      »Sie haben einen vortrefflichen Geschmack. Nicht meine Altersklasse, aber sehr attraktiv.« Sie schmunzelte.

      Carola fühlte sich ertappt. »Entschuldigung.«

      »Wofür? Wir sind doch hier, um uns zu amüsieren.«

      Sie antwortete mit einem verlegenen Lächeln. Wieder schaute sie zu dem Fremden herüber. Diesmal bemerkte er ihren Blick. Die Fältchen um seine Augen vereinigten sich zu einem Lächeln. Sekunden später machten auch die Muskeln um den Mund mit. Er hatte sie erkannt und legte die Hand auf die Schulter seines Begleiters. Carola schaute ihn nun unverwandt an. Sie fand, er hatte etwas Aristokratisches an sich. Die graumelierten Haare, das kleine Bärtchen am Kinn. Ein attraktiver Mann. Die Fliege, die er zu einem schwarzen Anzug trug, stand keck ab.

      Wieso auch immer, sie stellte sich vor, er trüge einen Schottenrock und musste lachen. Wie kam sie auf so eine blöde Idee? Mit einem Seitenblick erhaschte er noch so eben ihr Lachen. Er reichte dem Mann zum Abschied die Hand.

      »Der Mann kommt rüber«, sagte Silvia Schleisieck und drehte sich in Carolas Blickfeld. Sie sollte recht behalten. Mit einer eleganten Bewegung wich der Mann einem Kellner mit einem gefüllten Tablett aus. Sechs Schritte zählte Carola.

      Mit einem Lächeln stand er vor ihnen.

      »Ich hoffe, ich bin nicht der Grund für Ihr Amüsement«, sagte er.

       Dieser Akzent.

      »Nein, bestimmt nicht«, log sie.

       Glaubte er ihr?

      »Darf ich mich Ihnen vorstellen? Mein Name ist Reto Winterhalter, ich komme aus Basel in der Schweiz.« Frau Schleisieck hielt ihm ihre Hand hin. Zu ihrer Verwunderung ergriff er sie und deutete einen Handkuss an.

      »Sehr angenehm, Silvia Schleisieck«, antwortete sie sichtlich überrascht. Dann wandte er sich Carola zu. Wieder ein Handkuss. Dabei versuchte er, ihren Blick zu erhaschen. Sein herausfordernder Blick ärgerte sie ein wenig und verunsicherte sie obendrein.

      Daher vergaß sie total, sich vorzustellen.

      »Sehr