Am Rande. Eine Bemerkung. Anna Lohg

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Название Am Rande. Eine Bemerkung
Автор произведения Anna Lohg
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742722935



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stelltest Du plötzlich fest. Tatsächlich war es Dir eine schlichte Feststellung, keinesfalls eine Beleidigung.

      Ausgerechnet Du, vor der Wahl stehend, solltest Dich für die junge Frau entscheiden. Kaum wegen ihren ordentlich gekämmten Haaren hattest Du Dich für sie entschieden, nicht wegen ihrem brillianten Intellekt, noch weniger wegen ihren soziologischen Standpunkten, nein, Du hattest Dich für die junge Frau entschieden wegen ihren Manieren! Das sollte Dich mehr erschüttern als mich, wenigstens in dem Moment. Wir, so dachtest Du bestimmt, wir kannten doch die feinen Unterschiede und wir würden uns davon nicht beeindrucken lassen. Doch im dirketen Vergleich eben dieser feinen Unterschiede solltest Du erweichen, dieser Gestus, der nicht Dein eigener ist, sollte Dich überzeugen.

      Das kann ich sogar verstehen, ohne damit zu meinen, dass ich mich ebenso für die angeblichen Manieren entschieden hätte. Aber so ein Habitus aus gutem Haus kann durchaus ganz eindrücklich ausfallen, letztlich ist er etwas Besonderes, schon weil es vergleichsweise nicht viele dieser guten Häuser gibt und darin nicht um jeden Preis die vermeintlich gute Erziehung gelingt.

      Mir ist klar, dass es bei den Manieren nur vordergründig mit einer zahmen Frisur und einer passenden Hose getan ist. Die Verkleidung ist bloß ein erstes sichtbares Zeichen, allerdings nicht zu unterschätzen. Die Texturen sind wichtig, die Makellosigkeit eines Stoffes, der Glanz der Fäden, die Reinheit eines Webmusters, die Sorgfalt der Nähte, die Spuren des Gebrauches und der tadellose Sitz eines jeden einzelnen Kleidungsstücks. Das sind Äußerlichkeiten die einen Eindruck ergeben, so wie die Haut, ob sie glatt ist, sorgenfrei gefaltet, wenn sie geschont werden konnte, hat sie keine Schwillen, Beulen, grob verheilte Narben. Zähne, Nägel, Haare all das zusammen ergibt einen sichtbaren feinen Unterschied. Aber wäre es das alleine, es ließe sich mehr oder weniger gekonnt nachahmen.

      Die kostbarste Mitgift der vermeintlich guten Häuser ist das Gemüt, und das lässt sich nicht nachäffen, als sei die reichliche Ausstattung in jede Pore eingedrungen. Jede Faser drückt Zuversicht aus, wenn der Zweifel ein unbekannter Gast ist; die Augen strahlen, wenn sie nie eine Niederlage gesehen haben; die Bewegungen fließen, wenn sie keine Bedrohung kennen; die Gedanken können sich wohl ordnen, wenn sie frei von erdrückenden Sorgen sind. Es ist ein Ausdruck der Gewissheiten verheißt, als sei alles machbar, als gäbe es stets ein sicheres Ziel, wirkt genau das mitreißend, es wird verführend dem zu folgen, obschon unbeirrt meist nur Wahnsinnige sind. So ein Habitus aus gutem Haus ist wie ein Versprechen auf wahre Größe, überzeugend, imposant, majestätisch, denn wer in Watte gepackt ist, hat keine Angst davor, auf die Schnauze zu fallen, als ob das jeder könnte. Nur die Spitze der Nahrungskette gewährt eine solch gnadenlose Lässigkeit, erst wenn all Beutetiere restlos ausgerottet sind, gibt es einen ernsten Grund die Contenance zu verlieren.

      Und dazu fielen Dir als erstes Manieren ein. Bei Manieren denke ich sofort an Tischsitten, an Regeln für ein affiges Gehabe, welches seinen Zweck verschleiert. Nach der Soziologie im zweiten Semester erfasste der Zivilisationsprozess auch die Reglementierung bei Tisch, allerdings ging es dabei weniger um ein manierliches Hantieren mit Messer und Gabel, als vielmehr darum, sich nicht im Streit um die größte Keule an Gurgel zu gehen. Danach meint zivilisiert nicht den Umgang mit dem Besteck, sondern das schnöd Friedliche, immerhin wird anderswo ausgesucht kultiviert mit den Fingern gegessen. Doch übrig geblieben sind offenbar nur die Manieren, als das alberne Getue mit welcher Hand das Messer geführt werden soll, dabei sei es gänzlich gleichgültig, wie die Keulen aufgeteilt werden. Der Zivilisationsprozess dürfte damit unweigerlich im Morast stecken bleiben, weil das Hauen und Stechen um das größte Stück Fleisch wieder ansteht, immerhin darf dann seelenruhig bei Tisch gerülpst, gefurzt und gekotzt werden.

      Und Du solltest plötzlich feststellen, dass ich nicht aus gutem Haus sei, mir entsprechend diese Manieren abgingen, als hätte ich am Zivilisationsprozess nicht teilgenommen.

      "Du hast dich auch hochgearbeitet.", sagtest Du anschließend mehr zu Dir selbst. "Wie ich.", hörte ich Dich murmeln. "Aus der Arbeiterklasse."

      Diese kurzen, schwer hörbaren Fragmente reichten aus, um mir vorzustellen, wie Du Dich hochgearbeitet hattest. Du hättest um Deine Rechte gekämpft, Dich durch einzelne Schichten nach oben gebissen, um einen Status zu erlangen. Einen gesellschaftlichen Rang einnehmen, für den es als unsichtbares Abzeichen die scheinbar allgemeine Anerkennung gibt. Dafür wolltest Du studieren, aber das hätte in Deiner Familie nie zuvor jemand getan, das lag jenseits aller denkbaren Möglichkeiten. Als Kind der Arbeiterklasse war womöglich nicht einmal klar, ob Du überhaupt den nötigen Verstand für ein solches Abenteuer mitbringen würdest. Das Neugier und Eigensinn nichts mit sozialen Klassen zu tun haben, das hattest Du zwar geahnt, aber eben nicht gewusst. Den Unmut darüber, oder ist es sogar Wut, jemals geglaubt zu haben, Du seist als Arbeiterkind zum Studium nicht fähig, wolltest Du Dir bewahren. Doch jetzt solltest Du Dich dabei ertappen, mich zu benachteiligen, ein offensichtlich armes Kind aus der untersten Schublade, eindeutig an den fehlenden Manieren zu erkennen. Ausgerechnet Du, solltest ein reiches Kind aus den vermeintlich besseren Kreisen vorziehen.

      Das war der Schrecken, der sich deutlich auf Deinem Gesicht abgezeichnet hatte, als sei Dir eine feste Überzeugung entglitten. In dem Moment dürfte Dir ebenso die soziologische Tragweite Deiner Entscheidung bewusst geworden sein, als hättest Du es gesehen, wie sich die gesellschaftlichen Kreise schließen und wie sie gleichsam ausgrenzend wirken. Zumindest habe ich es so gedeutet, als Du mich fragtest, ob ich auch einen Cognac möchte. Der sollte wohl den bitteren Beigeschmack übertünchen. Doch wohin mit all den schönen sozialen Wissenschaften, wenn diese junge Frau, selbstsicher, aufgeschlossen und wunderbar ungetrübt, Dich einfach nur an Deine Tochter erinnert hat? Beide fast gleich alt, beide aus gutem Haus, beide gut erzogen und Du wärest zu dem geworden, der Du nie sein wolltest. Prosit, es möge nützen.

      Wie gesagt, ich wusste schon lange vor dem Cognac, dass ich die Stelle, die Du mir angeboten hattest, nie antreten würde. Nicht, dass mir das einerlei gewesen wäre, lediglich klar. Denn manche Figuren ziehen notgedrungen die Arschkarte, wenn eben solche im Spiel sind. Und weil es davon immer mehr gibt, ist es gar nicht mehr ungewöhnlich quasi am Arsch zu sein, inzwischen verschiebt sich der Durchschnitt dahin. Von daher kann ich mich ganz lässig zu den durchschnittlichen Verlierern zählen, was vor ein paar Jahrzehnten noch die Spießbürger waren, friedfertig, selbstvergessen und prall im Mittelmaß. Noch jene halbwegs zufriedenen Bürger, die von einer selbsternannten Avantgarde gerne als bieder tituliert wurden, um selbige sodann zum banausigen Publikum zu erklären, welches unbedingt belehrt werden muss, als gelte es die Zufriedenheit auszutrieben, weil die bloß langweilig wäre. Doch Spießbürger kann sich heute niemand mehr leisten, weswegen es auch keine Avantgarde mehr gibt, da selbige sich ohne Publikum langweilt. Zum Glück gibt es dafür jetzt ganz viele arme Leute, an denen es sich bei einem Galadiner für die Wohltätigkeit erfreuen lässt. Etwa beim fünften Teller angekommen, spätestens beim Dessert, lässt es sich dann genüsslich und durchaus sehr verständig über den Hunger auf der Welt parlieren.

      Soweit also alles keine Rede wert, meine Güte, hättest Du mir diese vermaledeite Absage wie auch immer zukommen lassen, mir wäre wenigstens die Freude geblieben, darüber, dass Du an mich gedacht hast, wie an mich geglaubt. Die Stelle dann doch nicht zu bekommen, hätte ich als ganz normalen Misserfolg in Zeiten statistischer Verschiebungen abtun können. Statt dessen hast Du mir Zeit zum grübeln spendiert, grübeln über den Grund der ausbleibenden Absage, über diese Stummheit, die mich vielleicht frustrieren würde, könnte ich sie denn begreifen. Dass Du keine Absagen verteilst, wäre leicht zu erklären, wenn Du eine empfindsame Seele wärest, aber Du doch nicht, denn jene, die sich nach oben beißen, sind selten zartbesaitet. Auf Dein Schweigen ist mir also kein guter Reim eingefallen, wiewohl das Hirn so lange reimt bis Alles einen scheinbaren Sinn ergibt. Bis an die Grenze des Wahns wird fleißig gereimt, um auch das Unerklärliche zu erklären, deswegen gibt es Gott, der letzte Beweger als Beruhigung gegen ratlose Verwunderung.

      Und mir blieben nach übermäßigem Reim nur die fehlenden Manieren übrig, als einzige Erklärung für Dein beharrliches Schweigen, scheine ich Dir wohl peinlich geworden zu sein. Zumal mir fehlende Manieren schon beachtlich oft vorgehalten worden sind, bloß weil ich nicht darauf achte, mit welcher Hand ich das Messer halte. Ehrlich, sollte ich Dich damit enttäuscht haben, dann tut es mir leid, auch mir kommt es manchmal so vor, als wäre ich mitten in einem Schönheitswettbewerb