Название | Am Rande. Eine Bemerkung |
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Автор произведения | Anna Lohg |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783742722935 |
Unter kargen Bedingungen bedarf es keiner eilig anberaumten Flurbereinigung, um für eine neue Straße hurtig eine Schneise in die Landschaft zu schlagen, denn kaum jemand kann es sich leisten zu bauen, ein eigenes Haus bleibt ein vollkommen ausgeschlossenes Vorhaben. Träumer, überhaupt nur daran zu denken. "Wo kommen wir denn hin, wenn hier jeder über seine Verhältnisse lebt?" Das dürfen nur Könige, wäre doch ansonsten die ganze schöne Benachteiligung futsch. Den stets unhinterfragten Verhältnissen ergeben, konnten sich die Generationen damals kaum fein säuberlich voneinander separieren: da hockte die gesamte liebe Anverwandtschaft dicht gepfercht in einem nur vermeintlich schnuckligen Häuschen, nur vorgeblich einträchtig um den einzigen Ofen gedrängt, vorläufig ohne Strom und fließend Wasser, aber was es nicht gibt, vermisst auch niemand, außer vielleicht sowas wie Gott. Und die gesamte versammelte Sippschaft mischte bei Allem und Jedem mit, sparte nicht mit guten Ratschlägen über den frommen Lebenswandel, der rechten Haushaltsführung, die passende Verheiratung, die ordentliche Aufzucht vom Nachwuchs, der richtigen Zubereitung vom Sauerkraut, den zu erfüllenden Pflichten bei mangelnden Rechten. Ausgehandelte Übereinkünfte gab es keine, vielmehr war die Familie um den Ofen generalstabsmäßig organisiert und strategisch durch geplant: ein Jeder stramm auf dem ihm zugewiesenen Platz, von Vaters Gnade abhängig. Liebe und so ein Kram war die Sache von reichen Leuten auf einem anderen Planeten. Individualismus wurde zur dringend überfälligen Erfindung, derweil die beklemmende Enge von einst inzwischen wegen zunehmender Vereinzelung idealisiert wird, so war in manch einer Zukunft nur die Vergangenheit rosig.
Als läge eine geheiligte Ordnung über dem Schauplatz wurde mein Großvater in diese Verhältnisse hinein geboren, etwa gestern vor kaum mehr als hundert Jahren. Er war eine späte Nachgeburt, der Letztgeborene von reichlich vielen Kindern, von denen die meisten Älteren längst das Weite gesucht hatten, vereinzelt auch unter der Erde. Als jüngstem Kind blühte ihm wenig aussichtsreiches, zumal der älteste Sohn alles erben würde, stets alles und stets ein Sohn, selbst wenn die Familie nur Töchter hatte. Das war so und wurde schon immer so gemacht, weil doch die Töchter im gebärfähigem Alter das Elternhaus sowieso verlassen würden, um den ältesten Sohn einer anderen Familie zu heiraten. Und außerdem, wenn alle Kinder gleichberechtigt erben würden, etwa Haus und Hof, müsste dies von Generation zu Generation in immer kleinere Stückchen geteilt werden, bis am Tag des jüngsten Gerichts alle nur noch knapp Platz für die Füße hätten. Folgerichtig sollte die unerschöpfliche Kinderschar eben einfach hart arbeiten, sich die Kindheit redlich verdienen, könnte sie dann anschließend sich artig ihr Glück schmieden gehen. So lautete die gottgefällig ökonomisch höchst duchdachte Überlieferung im Umgang mit dem überschüssigen Humanmaterial, mochten sich auch viele gewünscht haben, dass wenigstens das Keuschheitsgebot bei ihrer eigenen ungewollten Geburt gefruchtet hätte.
Als mein Großvater seinen ersten Seufzer tat, waren das seine Aussichten, dennoch sollte er gänzlich unerwartet eine unbeschwerte Kindheit erleben, so ganz ohne Gummibärchen und Satellitenanschluß. Seine Eltern waren alt und nach etlichen Kindern wurden sie von einer gewissen Ermüdung geplagt, da hatten sie keine Lust mehr, jetzt noch so einen Spross zu striezen. Und so kümmerten sie sich einfach nicht um ihn, sie ließen ihn in Ruhe und er konnte seine kindliche Arbeitskraft leichtfertig verschwenden, in dem er auf Bäume kletterte oder wie ein Wilder über Wiesen und durch Wälder raste. Diese Art der Aufzucht war ungefähr so bahnbrechend, wie gutes Essen an die Schweine zu verfüttern oder Kinder im Vorschulalter nicht Chinesisch lernen zu lassen. Doch die Eltern meines Großvaters konnten es sich leisten, den ungewollten Nachzügler nicht zu züchtigen, schließlich waren sie dank all seiner Geschwister längst mehr oder weniger versorgt. Insofern genoss mein Großvater keine Bevorzugung, erst recht nicht, weil er so ein süßes Kindchen gewesen wäre, war er mit seiner krumm wuchtigen Nase und seiner Stöpseligkeit obendrein nicht einmal niedlich. Ihm wurde durch reine Nachlässigkeit eine unbekümmerte Kindheit geschenkt und er wuchs in der Phantasie auf, die ganze Welt meine es gut mit ihm.
Er hatte keinen Vergleich, also sollte er nicht bemerken, wie beengt er aufwuchs, mit arg viel Verwandtschaft im kleinen Haus. Nebenan der Stall mit den Ziegen, ein kleiner Garten für das Gemüse und nah an der Kathedrale gelegen, ein Beleg dafür, dass dies Haus dort schon ziemlich lange stand. Nebst all seinen namenlosen Vorfahren war er in dem Haus geboren worden, seine Sippschaft war die Nachkommenschaft von jeweils dem Zweig der Familie, der sich eisern nicht vom Fleck gerührt hatte. Komme was da wolle: im Dorf geboren, im Dorf geheiratet, Kinder ins Dorf gesetzt, beerdigt auf dem höchsten Hügel im Dorf, jahrhunderteein, jahrhunderteaus. Als hätten sie ein Hügelvolk züchten wollen, lief das letztlich auf Reinrassigkeit hinaus, gewissermaßen Zweiburger mit Pedigree. Und für gewöhnlich kommt die Reinrassigkeit nicht ohne Inzucht aus, mit all ihren verheerenden Folgen, weswegen im Dorf auch immer mal wieder manch sonderbare Exemplare geboren wurden, die allerdings nicht unbedingt von den anderen zu unterscheiden waren.
Fraglos gab es auch die eine oder andere Zuwanderung, mit all den einhergehenden Strapazen für die Zugewanderten. Da soll es tatsächlich mal vorkommen sein, dass irgendeiner aus dem Dorf mit irgendeiner aus dem Dorf nebenan anbändelte, die waren sich wohl mitten im Wald im Grenzgebiet begegnet. Wider alle guten Ratschläge musste es dann unbedingt die sein, keine andere, obwohl es doch im Dorf die Schönsten von allen gäbe, da könne kein anderes Dorf mithalten, ohnehin ist das eigene Dorf in Allem immer besser als alle anderen Dörfer. Immer und in Allem, da gibt es gar kein Vertun. Und dann sollte der aus dem Dorf die Fremde aus dem Nachbardorf auch noch heiraten, als sich zart die Konturen eines runden Bauches abzeichneten. Mitsamt ihrer Brut und deren nachfolgenden Auswürfen sollte diese Fremde im Dorf immer fremd blieben, schließlich kam die von woanders her, brachte ganz fremde Sitten und Bräuche mit. Sowas lässt sich eben nicht einfach abwaschen. Etwas anders verlief dagegen die Integration bei so einem wie dem Pfarrer, dem Lehrer, Doktor oder Apotheker, die wurden nun einmal gebraucht, so kluge Leute, weshalb von deren Fremdartigkeit abgesehen werden konnte. Zumal die nicht kamen, um ein Teil der Gemeinschaft zu werden, diese Leute bildeten ganz andere Kreise, bevölkerten irgendwie weit oberhalb ihre ganz eigene Sphäre, in der sie sich als Hüter der Ordnung sahen, Wächter der Sitten und Bewahrer der Bräuche eines archaischen Hügelvolkes mit dem sie ansonsten nichts zu tun haben wollten.
In dieser Gemeinschaft, sei es die pure Heimeligkeit, wuchs mein Großvater auf. Hier hatte jeder seinen Platz und niemand sollte aus der Reihe tanzen, als gäbe es eine geheiligte Choreographie, waren die Bewegungen eingeschränkt. Der gesamte Reigen wurde von den Wächtern der Tanzschritte und Hütern des Ringeltanzes aus dem inneren Kreis beaufsichtigt, die dörflichen Honoratioren sorgten streng für die Einhaltung des gleichen Takts. Und zu dieser Elite des Dorfes zählte der Herr Hochwürden, weil der doch nach der Beichte so viel wusste, schätzungsweise mehr als sein Gott. Und der Herr Lehrer, der eine ganze Familie zu unverbesserlichen Schwachsinnigen erklären konnte und deswegen als unanfechtbare Autorität galt, da generell Macht gerne mit Weisheit verwechselt wird. Ferner der Herr Doktor, dessen Diagnosen auch von seinen Vorlieben abhängen konnten. Und der Herr Bürgermeister, der Genehmigungen nur nach Gutdünken verlieh. Später kam noch der Herr Fabrikant dazu, der sich furchtbar gerne den Arsch bekriechen ließ, bevor er einen Arbeitsplatz vergab. All diese Herren, mitsamt Ehefrauen, galten als selbstlos wohlmeinde, sich für die Gemeinschaft aufopfernde saubere Damen und Herrschaften, mochte dieses Ansehen letztlich auf Erpressung beruhen, da sich kaum jemand eine andere Meinung leisten konnte.
Allerdings galten diese Herrschaften aus besseren Kreisen nur bis zum nächst größeren Dorf als feine Leute, bereits da galt ihre Feinheit als provinziell, wiederum bis zum nächst größeren Dorf und so weiter und so fort, bis hin zum Hauptnest eines stets glorreichen Reiches in dem meist irgendein gekröntes Haupt von Gottes Gnaden thront. Damit gleicht so ein Staatsgebilde einem übersichtlichen,