Wahre Kriminalfälle und Skandale. Walter Brendel

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Название Wahre Kriminalfälle und Skandale
Автор произведения Walter Brendel
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754936580



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genehmigte Stellen beschränkt ist. Die Berater dürfen keinerlei Adressen von hilfsbereiten Ärzten oder Kliniken hergeben. Vielmehr soll laut Regierungsdekret "klargestellt werden, dass der Abbruch die rechtswidrige Tötung eines Kindes darstellt"; nur "im besonders gelagerten Ausnahmefall" dürfe "auf Strafverfolgung verzichtet" werden.

      Die Absicht ist unverkennbar: Die Frauen sollen sich wie Kriminelle fühlen - wie die Memminger Justizopfer, die fünf Jahre lang das Stigma einer Vorstrafe tragen müssen.

      Das Wunschziel bayrischer Justizpolitik wird ebenso deutlich: Abschaffung der sozialen Indikation, Adoption statt Abtreibung. An dieser Vorgabe orientierten sich offenbar auch die Memminger Amtsrichter, die in allen Verurteilungsfällen die Möglichkeit zur Adoption unterstellt haben. Frauen sind, wie die alternative "Tageszeitung" kommentierte, "in Bayern zum Gebären verpflichtet". "Das Allgäu", kommentierte die damalige Bundesfamilienministerin Rita Süssmuth den Theissen-Prozess, "ist eine sehr katholische Gegend. Es herrscht allgemein die Meinung, dass es keine sozialen Indikationen geben darf."

      Politisch verantwortlich für den Memminger Massenprozess eine Frau: die damalige bayrische Justizministerin Mathilde Berghofer-Weichner, damals 57. Die oft als "Schwarze Hilde" apostrophierte Katholikin hat eine steile politische Karriere hinter sich. Schon 1968 wurde die resolute Juristin stellvertretende CSU-Vorsitzende unter Franz Josef Strauß. Zwei Jahre später zog sie in den bayrischen Landtag ein, schon nach einer Legislaturperiode wurde sie als erste Frau in der Landesgeschichte ins Kabinett berufen - als Staatssekretärin im Kultusministerium.

      Stets tritt die massige und überaus bayrisch wirkende Frau, die privat Orchideen züchtet und bemalte Eier sammelt, für das "Bollwerk Bayern" ein. So kämpft sie dagegen, "dass Bayern eines Tages ein Türkenstaat wird", oder sie fordert, die Namen von Kirchenabtrünnigen im Kirchenblatt zu veröffentlichen: "Man will doch wissen, wer dazugehört."

      Die Bescheinigung, "ihren Mann zu stehen", empfindet das Mannweib in Straußens Männerkabinett als "das höchste Kompliment". Neue Gelegenheit, sich zu bewähren, bekam sie, als sie im Oktober 1986 zur Justizministerin berufen wurde. Sie wies ihre Beamten an, gesetzgeberische Maßnahmen zur Verhütung einer "Abtreibungspille" zu prüfen, die noch gar nicht im Handel ist.

      Die Abtreibungsdebatte hatte die kinderlose Witwe bei Amtsantritt zunächst für eine "ausgestandene Sache" gehalten. Da musste sie inzwischen umdenken. Es gab sie in Landshut vor dem Arbeitskreis "Juristen in der CSU" die Anweisung aus, doch "zu schauen", wie man die Abtreibungsregelung "so gestalten kann, dass sie nicht in diesem Maße unterlaufen und missbraucht werden kann".

      Unter den Zuhörern war Landshuts Landgerichtspräsident Fritz Anders, ein Mann, der wie kaum ein anderer das repressive Klima in Straußens Südstaat repräsentiert. Bereits 1986 äußerte sich Anders auf eine Weise zur Abtreibungsproblematik, die einen Schwabenstreich wie in Memmingen auch anderswo in Bayern möglich erscheinen lässt: Öffentlich erörterte Anders, obschon sonst "kein Befürworter der Todesstrafe", deren Einführung im Zusammenhang mit der Abtreibung.

      Der niederbayrische Chef-Richter, nebenher auch Vizepräsident der Landessynode der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, forderte, der Freistaat dürfe sich mit der derzeitigen Abtreibungspraxis "nicht abfinden". Alle gesellschaftlichen Gruppen, so Anders, seien "aufgerufen, täglich neu Sturm zu laufen gegen das Unrecht, das um uns herum geschieht". Artikel 47 der bayrischen Verfassung gehe nach wie vor von einem "Weiterbestehen der Todesstrafe" aus. Nun, dass wurde mittlerweile geändert.

      Todesstrafe auf Abtreibung hatte es zuletzt unter dem Massenmörder Adolf Hitler gegeben, der den Paragraphen 218 im Jahre 1943 für Fälle verschärfte, in denen der Abtreibende "die Lebenskraft des deutschen Volkes fortgesetzt beeinträchtigt". Einer der leidenschaftlichsten Abtreibungsgegner im Freistaat ist der Münchner Nervenarzt Ernst Theo Mayer, CSU-Mitglied und Vorstandsmitglied der Bayerischen Landesärztekammer. Auf Ärztetagungen pflegt er seine Kollegen zur "Kratzdienstverweigerung" aufzurufen und den Frauen jede eigene Entscheidungsbefugnis abzusprechen: "Ihr Bauch gehört ihnen zwar, aber was bei einer Schwangerschaft auch noch in dem Bauch ist, das gehört ihnen nicht."

      Mayer ist Mitglied einer in Ulm residierenden "Europäischen Ärzteaktion", die gegen die "Embryonenkiller einer sozialistisch-liberalistischen Konsumgesellschaft" Front macht und die Finanzierung der "sozialen Hinrichtung ungeborener Kinder" aus öffentlichen Kassen und Krankenkassen für verfassungswidrig hält.

      Tatsächlich wurden in der alten Bundesrepublik jährlich 200 000 Schwangerschaftsabbrüche von Krankenkassen verrechnet. Hinzu kommen nach einer noch unveröffentlichten Studie des Freiburger Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht mindestens noch 100 000 Frauen pro Jahr, die abtreiben, ohne den Instanzenweg einzuhalten. Auf jährlich 15 000 wird die Zahl jener Frauen geschätzt, die den Eingriff im Ausland vornehmen lassen.

      Nur 88 540 Schwangerschaftsabbrüche wurden 1987 an das Statistische Bundesamt gemeldet. Die weitaus meisten Fälle kamen aus Hessen und Nordrhein-Westfalen - Aufnahmeländer für Frauen, denen anderswo nicht oder nur unter erschwerten Umständen geholfen wird.

      Mittels "wallraffmäßiger Recherchen" hat Strauß-Gefolgsmann Mayer herausgefunden, dass zum Beispiel 1984 statt der 5011 statistisch erfassten Abbrüche in Wahrheit mehr als 30 000 Abtreibungen, getarnt durch unverdächtige Befunde, von bayrischen Ärzten vorgenommen wurden.

      Staatsminister Edmund Stoiber, der spätere Ministerpräsident, wollte die hohen Dunkelziffern, die freilich auch die Wirkungslosigkeit des Strafrechtsparagraphen 218 belegen, dazu nutzen, die Ärzte an die Kandare zu nehmen. Mit Leistungsverweigerung durch die Kassen und verschärften Strafbestimmungen will Stoiber die Ärzte zur Ehrlichkeit zwingen - oder zum Verzicht auf Abtreibungen. Stoiber scheut dabei auch nicht vor einem weiteren jener Alleingänge Bayerns zurück, wie sie die CSU auf vielen innenpolitischen Feldern sucht. In einem Streitgespräch mit Rita Süssmuth nahm Stoiber sogar einen Bruch mit der CDU in Kauf: "Dann müssen halt die im Norden ihr eigenes Wahlprogramm auflegen."

      Zwar hielt auch Stoiber eine Änderung des Paragraphen 218 bei den gegenwärtigen Mehrheitsverhältnissen nicht für möglich, er baut aber auf eine zunehmende "Bewusstseinsänderung in der Bevölkerung". Die soll offenbar durch Prozesse wie in Memmingen beschleunigt werden - mit einer auf schiere Abschreckung angelegten Justizstrategie.

      Die 1. Strafkammer am Landgericht - mit fünf Männern schon bedrohlich besetzt - hat nicht weniger als 32 Verhandlungstage anberaumt. Erst am 17. Februar soll nach bisheriger Planung das Urteil über den Ketzer in Weiß gesprochen werden - so lange dauern selbst Mordprozesse selten.

      Worauf das Spektakel hinauslaufen soll, ist offenkundig. Nicht, ob der damals einzige Frauenarzt am Ort die soziale Indikation im Einzelfall vielleicht auch einmal zu Unrecht angenommen hat, steht im Vordergrund des juristischen Interesses. Die wahre Funktion des Justizschauspiels liegt in dem Versuch, die im Paragraphen 218 a fixierte Notlagen-Indikation auf dem Umweg über die Rechtsprechung auszuhöhlen oder gar abzuschaffen.

      Die bayrische Grünen-Abgeordnete Bause ist überzeugt, diese Marschrichtung für das Memminger Gericht sei von oben verordnet - vom bayrischen Staatsministerium der Justiz. Tatsächlich hätte schon die Anklagebehörde die Möglichkeit gehabt, eine Vielzahl der aufwendig zusammengekratzten Fälle gar nicht erst zur Anklage zu bringen.

      Ausdrücklich lässt die Strafprozessordnung eine solche Begrenzung des Prozessstoffs zu - gerade auch, um überflüssige Großverfahren zu vermeiden. Doch für die Memminger Staatsanwälte mussten es immer noch 156 Fälle sein, die sich dem Gynäkologen heute noch vorwerfen lassen, offenbar damit das Spektakel richtig rund wird und auch zur erwünschten saftigen Strafe führt.

      "Die Höhe der zu erwartenden Strafe" war schon im letzten Herbst für den Haftrichter der Grund, den bis dahin unbescholtenen Frauenarzt wie einen Schwerverbrecher für sechs Wochen hinter Gitter zu bringen. Länger allerdings ließ sich die Meinung, der Arzt - verheiratet, zwei Kinder - würde womöglich fliehen und sich ins Ausland absetzen, selbst in der bayrischen Justiz nicht mehr aufrechterhalten; er bekam Haftverschonung.

      Die 156 Fälle angeblich illegaler Abtreibung soll Theissen zwischen Dezember 1981 und März 1987 vorgenommen haben. Im Schnitt