Die größten Klassiker der deutschen Literatur: Sturm und Drang. Johann Gottfried Herder

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Название Die größten Klassiker der deutschen Literatur: Sturm und Drang
Автор произведения Johann Gottfried Herder
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 4064066398903



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Weg dahin erfüllte mich mit Traurigkeit. Gegend und Menschen und Gebäude hatten den vorigen Reiz verloren und standen da wie Schatten. Ich erkannte innig, daß zu allem Genuß zwei Herzen notwendig sind, die sich lieben.

      Die Zärtlichkeit meines Vaters, meiner ältern Brüder und verwittibten Schwester, die ihn begleitet hatten, linderten und versüßten allein meinen Gram zu Hause. Cäcilia saß noch in strenger Verwahrung: doch war jedermann für sie, wegen ihrer ehemaligen klugen und bescheidnen Aufführung bei aller ihrer Schönheit. Auch ich tat unter der Hand mein Bestes; das zärtliche Geschöpf hatte sich von dem Zuge der Natur überwältigen lassen und konnte hernach nicht anders handeln.

      Verschiedne junge Leute, alle von großem Talent und genaue Bekannten von Ardinghello, kamen zu mir, seinen gegenwärtigen Aufenthalt zu erfahren, welchen ich ihnen aber nicht entdeckte, mit Vorspiegelung, er habe in seine Heimat gewollt.

      Zu Anfang Novembers erhielt ich folgenden Brief von meinem Freunde.

       Genua, November.

      Wie ich aus dem fruchtbaren großen Tale der Lombardei, von hundert Flüssen durchströmt, das seinesgleichen in der Welt nicht hat, durch die wilden kahlen Felsenkrümmen des Apennin hinauftrat und endlich aus der Bocchetta hervor, von heitern Lüften umspielt, daß die Locken um meine heißen Schläfe flatterten, oben auf der Höhe das tiefe breite Meer unter mir glänzen sah, von süßen Strahlengewölk des Abends umlagert: Gott, wie ergriff das mein Herz und alle Sinne! Wie die Thetis Homers mit einem Sprung vom Olymp hätt ich mich in die ewige Lebensfülle hineinstürzen und wie ein Walfisch darin herumtaumeln und alle meine Leiden abkühlen mögen.

      Ich blieb hier die Nacht bei einem alten Schäfer, der Chronik der Gegend, und sah die Sterne auf- und untergehen und das Weltlicht wieder erscheinen, und thronte so über Italien, dies Paradies mit allen seinen Bewohnern von Anbeginn der Zeit, Menschen und Tieren und Pflanzen und Bäumen, und ich, machten ein friedliches Eins, so rein und heilig zerflossen war meine Seele.

      Den Morgen schritt ich hinab und schlief des Nachmittags in einem reizenden Dorf an der Küste nicht weit von der Stadt. Gegen Mitternacht wacht ich wieder auf vom Saitenspiel und einer Stimme, die lieblich mein Wesen durchdrang. Ich lauschte und vernahm die Worte und sprang ans Fenster: die Musik kam aus einem alten Gemäuer, an einen Hügel gebaut, der in hohen Pinien und Zypressen und niedern Fruchtbäumen sich aus dem Meer hervorstreckte; es waren Stanzen eines Märchens vom Pulci, die ich gar wohl kannte. Als darauf noch eine weibliche Stimme zu der männlichen einfiel, so zog auch ich meine Guitarra hervor, brachte sie leis in Stimmung und sang, als sie aufhörten, nach einigen Griffen von ihrer traurigen Harmonie in eine fröhlichre hinüber: »Wer seid ihr süßen Sänger dort, die ihr mich so entzückend aus dem Schlafe weckt? Habt Dank, habt Dank, daß ihr den Menschen so Freude macht und ihr Herz rührt in der stillen Dämmerung.«

      »Wir sind Vater und Tochter, die ein holdes Kind in Schlummer spielen samt dem Gatten, den der heiße Tag abgemattet«, ertönte zur Antwort herüber, indem ein Alter mit langem Bart an den Bogen der Tür sich stellte.

      »O ihr Glücklichen!« verfolgt ich darauf und sang, von Begeisterung ergriffen, die Zeiten des Saturnus von Hesperien, wo alle so lebten, wo noch kein Phalaris die goldne Insel der drei Vorgebirge folterte und keine Cäsarn mit Bürgerblute die Felder düngten.

      »Und wer bist du, edler Geist?« fragt' er mich dann.

      »Ein junger Pilgrim, der nach dem Vortrefflichen auf Erden wandert und seine Seele nun hier an Honig labt.«

      Er ging herunter, ich ihm entgegen; wir bewillkommten uns und füllten die Becher. Es war ein herrlicher Mann, an die sechszig, ein echter Dichterkopf, viel vom Ideale des Homer, nur nicht blind: wie es der hohe Ionier auch nicht war, der nur nicht sah, was gewöhnliche Menschen immer gegenwärtig mit ihren leeren Köpfen sehen, wovon er endlich den launigten Namen bekam, und der griechische Künstler, der sein Bild erfand, richtete sich nach dem Volkswitz.

      Wir machten geschwind Bekanntschaft. Er war ein Architekt gewesen und, weil er wenig zu bauen fand, seinem Hange zur Poesie gefolgt; und man hielt ihn nun für einen der besten Reimer aus dem Stegreife weit und breit, und er zog als ein solcher im Lande herum und ergötzte die Leute. Seine Frau war früh gestorben, und seine einzige Tochter gab er vor wenig Jahren einem wackern Landmann zur Ehe, der hier ein Gut gepachtet hatte und bei dem er sich meistens aufhielt. Die Wirtschaft war wirklich aus der goldnen Zeit, wie ich hernach mit Vergnügen erfuhr.

      Ich sagte ihm, daß ich schier ebenso die Malerei triebe wie er ehemals die Baukunst. Dies freute ihn denn von Herzen; er faßte meinen jungen Kopf und steckte ihn in seinen grauen Bart hinein und küßte mich über und über: ergriff alsdenn das Saitenspiel und sang mit einer Schwärmerei das Lob der Dichtkunst, wie ein wahrer Priester des Apollo, daß ich mich vor Lust nicht regte. Das halbe Dorf kam zusammen und girrte vor den offnen Türen und Fenstern leisen Beifall. Und als er endigte, schien das Meer stärker ans Gestade zu brausen, und alle riefen: »Es lebe Boccadoro!« So nannte man ihn.

      Zur fernern Kurzweil fing ich darauf einen Gegengesang an und richtete Pindars Χρυσέα φόρμιγξ Απόλλωνος nach Ort und Umständen ein; und schilderte zum Beschlusse den Alten vor mir nach dem Leben und erhob seinen Stand über den eines Königs. Und mit einem Jubelgeschrei: »Es lebe der schöne fremde Jüngling und der göttliche Alte!« zog man von dannen, als wir gegen Morgen schieden.

      Ich machte, wie es Tag war, einen Spaziergang auf den Hügel und besah die Lage von Genua: ein reizendes Theater, das von jeher seine Bewohner angetrieben hat, das Meer zu beherrschen, und woheraus immer die größten Seehelden hervorgekommen sind. Heiliger Kolumbus und du, Andreas Doria, die ihr nun mit den Themistoklessen und Scipionen in Elysium Paar und Paar herumwandelt, euch Halbgötter unter den Menschen bet ich im Staube an. Ach, daß auch mir kein solches Los bestimmt ist! Ich sah hinaus in die unermeßliche Sphäre von Gewässer, und die ungeheure Majestät wollte mir die Brust zersprengen; mein Geist schwebte weit über der Mitte der Tiefen und fühlte ganz in unaussprechlicher Wonne seine Unendlichkeit.

      Nichts auf der Welt füllt so stark und mächtig die Seele; das Meer ist doch das Schönste, was wir hienieden haben. Sonn und Mond und Sterne sind dagegen nur einzelne glänzende Punkte und samt dem blauen Mantel des Äthers darüberher nur Zierde der Wirklichkeit. Dies ist das wahre Leben: hierauf gibt sich der Mensch Flügel, die ihm die Natur versagt, und verbindet in sich die Vollkommenheiten aller andern Geschöpfe. Wer das Meer nicht kennt, kömmt mir unter den Menschen wie ein Vogel vor, der nicht fliegen kann oder der seine Flügel nicht braucht, wie die Straußen, Hühner und Gänse. Hier ist ewige Klarheit und Reinheit; und alles Kleine, was sich in den Winkeln der Städte in uns nistet, wird hier von den großen Massen weggescheucht. Wie dort die Seealpen aufsteigen! gleich Helden bei Aspasien und Phrynen; wie die zarte Linie am Horizont sich so weich herumründet! In den Ozean hinaus möcht ich; wie klopft mir das Herz!

      Boccadoro wartete schon auf mich, als ich wieder ans Wirtshaus kam. Er sagte, ich müßte ihn heute begleiten zu einem großen Feste, das die ganze Woche fortdauerte.

      Marchese S*** vermählte sich mit einer jungen Fregosa in allem ersinnlichen Pomp; der Bräutigam sei wohl jetzt einer der reichsten Privatedelleute von Europa. Diesen Abend würde Wettrennen gehalten, darauf Schmaus und Ball; morgen Stierhetze, und so weiter fort, jeden Tag eine andre Lustbarkeit; Komödie, Seiltänzereien und allerlei Künste sollten sich auf dem Land und Wasser zeigen. Er wäre aufgefordert, zwischen andrer Musik bei der Tafel zu singen, und er bäte inständig, auch mich darauf vorzubereiten; wir könnten unterwegs ein hübsches Thema zum Wechselgesang ausdenken. Der Palast läge wenige Miglien weit von der Stadt auf der andern Seite der See; ein paar Knechte von seinem Schwiegersohne würden uns mit ihm selbst und seiner Tochter auf einer Barke dahin fahren. Doch er glaube, daß ich dieses alles schon wisse und vermutlich eben deswegen hier eingetroffen sei.

      Ich versicherte ihn, daß ich heruntergekommen wäre, ohne das mindeste von dieser Hochzeitfeier zu wissen. Aus dem Stegreife könnt ich in so hoher Gesellschaft nicht singen; und außerdem müßt ich immer erst ein wenig die Art meiner Zuhörer kennen, um leicht den Eingang in ihr Herz und ihre Phantasie zu finden: sonst tue überhaupt das Vortrefflichste oft nicht seine Wirkung. Doch