Fern von hier. Adelheid Duvanel

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Название Fern von hier
Автор произведения Adelheid Duvanel
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783038552208



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sei eine Warze, die man wegätzen müsse.

      Als Helga, die junge Erzieherin, ins Heim eintrat, hatte Wotanek sich eben in seinem Innern ein zärtliches Getüm erschaffen, das ihn zu Tode biss, ein Loch für seinen Leichnam grub und aus Verzweiflung über seinen Tod die Nächte mit Geheul sprengte. Wotanek war reif für die Liebe und beinah glücklich, was sich nicht änderte, als Helga ihn am Tage seiner Volljährigkeit heiratete. Sie hatte zwar ihre Stelle als Erzieherin verloren, doch da sie tüchtig war, arbeitete sie in verschiedenen Berufen zur Zufriedenheit ihrer Arbeitgeber. Sie verwöhnte und demütigte Wotanek, der nun kränkelte und in wenigen Jahren zu einem schönen Skelett wurde, das meist lesend in einem Lehnstuhl kauerte. Wenn Helga nach der Arbeit mit strammen Schritten die Wohnung durchmaß, summte sie: «Auf, du junger Wandersmann», was aber Wotanek nicht zu irritieren schien. Er lebte nun sozusagen hinter doppelten Mauern; hinter der Wand seines Gesichts und hinter den Deckeln der Bücher – und auch vor sich selber hatte er sich versteckt: So gestand er sich nicht ein, dass er von seiner Gattin, die er in jugendlicher Verstiegenheit mit dem Getüm verwechselt hatte, enttäuscht war; er verstummte, führte nicht einmal mehr Selbstgespräche.

      Ich trete im Zimmer des Kurhauses, in dem Wotanek nach einer Operation die letzten Tage seines Lebens verbringt und mit den Boten des Todes, den Schmerzen, geduldig umgeht, leise näher. Jenseits des Balkons sehe ich Wiesen, auf denen sich wie Reste einer Krankheit Schneegeschwulste erheben, und über einem Abgrund, die Füße von Stechpalmen bewachsen, einen Nadelbaum, der sich streckt, um den verschlossenen Himmel zu berühren. Weit unten bewegt sich die Schuppenhaut des atmenden Sees. Ich neige mich über Wotaneks kurzes, bleifarbenes Haar und flüstere: «Wotanek, ich, das Getüm …» Er wendet mir langsam das starre Gesicht mit der Nase ohne Spitze zu; sein Blick, nur bereit für das geschriebene Wort, buchstabiert mich mühsam, dann öffnen sich die Augen weit. Ich lege die Hände an seine Ohren, verbeuge mich tief und durchbeiße seine Kehle. Nun werde ich ein Grab schaufeln und schreien.

      Der Flügel

      Im sich schließenden Kelch des Himmels schimmert wie ein Wassertropfen der Mond; das Lied einer Amsel schlingt Girlanden aus Duft um die Stadt. Dunkel kauern Bäume in den Gärten, der Lärm einiger Autos und Motorräder fällt vorbei und löst sich auf in der Finsternis am Ende der Straße.

      Werner, ein rundlicher Mann mit einem Faultiergesicht, sitzt auf dem Bett in der Ecke – knapp einen Meter vom glänzenden Flügel entfernt – und erinnert sich: Im Saal der Musik­schule, wo es nach Bodenwichse riecht und die Luft abge­standen ist wie im Theatersaal eines Mädcheninternats (die Schülerinnen sprechen dort, zwischen den Stuhlreihen am Boden kniend, ihre Abendgebete), gab Esther ihr Diplomkonzert. Werners Herz formte sich zu einem spitzen, harten Kern, und der Magen schien wie ein Fetzen Tuch in einer schlecht geschlossenen Schublade eingeklemmt; er hatte Angst um sie, fürchtete, sie könne versagen, obwohl er sie nicht kannte, aber sie schien so zart. Sie hatte krauses Haar und Augen von einem erschreckenden Gasflammenblau, wie er es noch nie gesehen hatte. Während der Pause, als alle Leute hinausströmten, blieb Werner im Saal sitzen; eine Hummel irrte im Zickzack durch den hohen Raum; ihr Schatten huschte als grauer Fleck vorbei, ihr eintöniges Surren ging in unregelmäßigen Abständen in ein ersticktes Zischen über, wenn sie gegen eine Wand stieß.

      Werner besucht Konzerte, weil er Musikkritiken für eine mittelgroße Zeitung schreibt. Stets bangt er um die Musiker; er bewundert ihren Fleiß, ihre Hingabe und ihren Mut und ist froh, dass sie nicht in Ohnmacht fallen. Der Applaus des Publikums entzückt ihn, und wenn Blumen überreicht werden, weint er beinah. Er lobt die Interpreten in schwülstiger Sprache, beschreibt die mutmaßlichen Empfindungen des Publikums während des Konzerts und berichtet Anekdoten über die Komponisten, die er aus seinen in Buchantiquariaten erstandenen Musikerbiografien abschreibt. Er möchte seine Leser unterhalten, an den Strängen ihrer Gefühle ziehen und in ihren Herzen frommes Sonntagsgeläute erklingen lassen.

      Am Tag nach jenem Konzert sandte er Esther eine Kopie seiner Besprechung und kaufte für sie den Flügel; er ließ ihn in den einzigen Raum seiner Sozialwohnung stellen, in der er seit vielen Jahren haust, und zahlt ihn in Raten. Der Flügel wohnt im Zimmer wie ein düsteres Tier in einem zu engen Käfig. Werner benützt ihn, da er seinen Tisch aus Platzman­gel verkaufen musste, als Esstisch, Toilettentisch und Arbeitstisch und telefoniert Esther in regelmäßigen Abständen; sie antwortet ausweichend mit einer netten Kinderstimme. An einsamen Abenden stellt er sich vor, wie sie ihre kleinen, hellen Hände über der Klaviatur auf und ab würfe; flink paddelte sie durch den Strom der Melodien, so dass es im Zimmer strudelte und plätscherte und Werner, auf dem Bett sitzend wie Noah in der Arche, die Füße anzöge und über seine Rettung lächelte.

      Nun ist Esther tot, ohne Werner kennengelernt, ohne am Flügel gespielt zu haben, der sich in ihren Sarg und in ihr Denkmal verwandelt hat. Heute Morgen hat Werner die Todes­anzeige in der Zeitung gelesen, während er, am geschlossenen Instrument sitzend, seinen Kaffee trank; ein Unfall hat die junge Pianistin ihren trauernden Angehörigen entrissen. Werner, der über ihr Spiel eine Rezension wie ein Gedicht verfasst hatte – so blumentraurig, so zärtlich und bewegend –, hat man mit keiner Zeile erwähnt; er gehört nicht in den schwarzen Rahmen, in dem die gottergebene Familie sich in der Zeitung ausgestellt hat, grollend, weil sie von der Tochter, Nichte und Enkelin verlassen worden ist. Aber auch Werner ist von Esther im Stich gelassen worden; sie ist davongegangen in eine unüberprüfbare Welt, hat rücksichtslos Kunde gegeben von einer Bedürfnislosigkeit, die Werner zutiefst beleidigt.

      Die Nacht hängt ein schwarzes Tuch hinters Fenster, so dass kein Laut mehr hereintritt. Werner streckt sich auf dem Bett aus. Er weiß nun, wie Esther gestorben ist: Es waren Zündschnüre gelegt. Plötzlich stand Esther in Flammen! Sofort versprühte der Himmel seinen Saft, der hart auf Dächer, auf aufgespannte Schirme und in den Fluss sprang, ohne das wilde Feuer löschen zu können, von dem Esther beleckt und aufgefressen wurde, bis nichts mehr von ihr übrigblieb.

      Aufbruch mit drei Plüschaffen

      Über Nacht ist die Welt reif geworden; ein zarter, weißer Schimmel ist auf ihr gewachsen – Frühlingsschnee. Auf den Dächern gibt’s keine Spuren von Füßen und Rädern; dort oben ist die Welt jenseits der Angst. Hier unten zählen Menschen ihre Schritte, passen Stimmen sich den Stimmen an; es gibt aber Menschen, die sich nicht an das Hiersein gewöhnen können.

      Im Innern der Häuser sind die Paradiese und Höllen der Menschen aufgebaut, mit Lampenlicht beleuchtet und vor Neugierde abgeschirmt. Auf der Lampe im Wohnzimmer von Tante Martha schaukeln drei Plüschaffen, die Daniel von seiner Mutter geschenkt erhalten hat; hier wohnt auch Onkel Benno. Onkel Benno ist Gitarrenlehrer; seine Vogelbeine stecken stets in weißen, mit Benzinseife gewaschenen Hosen. Der achtjährige Daniel sagt zu ihm beispielsweise: «Du bist eine schiefhängende Hausnummer» und wartet dann ab. Onkel Benno lächelt und säuselt: «Du träumst.»

      Daniels Mutter hat vor einigen Jahren Selbstmord verübt; sie sprang mit dem Fotoalbum unter dem Arm aus einem Fenster, was ein peinlicher Tod ist, den man Daniel verheimlicht, doch er weiß alle Einzelheiten, als ob er ihn inszeniert hätte. Die Türpfosten von Onkel Bennos Haus sind rosa gestrichen; oben steht «guitar shop», und im Schaufenster warten die Instrumente in Reih und Glied auf Käufer.

      Daniel kommt aus der Schule; die getönten Brillengläser werfen einen gelben Schatten auf seine Wangen. Die Bläue des Himmels ist zwischen die Häuser gesunken, und von den Dächern tropft Wasser. Fremd sind die Leute, die sich auf der Straße bewegen, und fremd ist Daniel; wenn ihn Tante Martha einlässt, büßt er ein wenig von seinem Fremdsein ein. Sie öffnet sonst niemandem ihre Tür; sie hat nichts zu geben und erwartet nichts.

      Heute geht Daniel an den rosa Türpfosten vorbei und weiter die Straße entlang; seine Augen sind plötzlich mit grellem Sonnenlicht gefüllt. Er hat den Eindruck, sein Gesicht habe sich in diesem beißenden Licht verunstaltet; er bedeckt es mit den Händen, um die Leute nicht zu erschrecken. Alles ist in Auflösung begriffen. Er denkt, dass Tante Martha im Bett liege und über den Föhn klage, der ihr Herz zusammenpresst, während Onkel Benno mit seinen Schülern ein Frühlingslied übt. Daniel will fortgehen, um auf einem Dach zu leben; auf dem höchsten Dach der Stadt. Als seine Mutter tot war, hatte er den Eindruck, jemand habe ihn losgeschnitten,