Fachdidaktik Englisch - Fokus Literaturvermittlung. Jürgen Bona Meyer

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zu referentiellen Gebrauchstexten – oder im unmittelbaren Zusammenhang mit diesen – gelesen werden: „literature is treated in the same way as a factual text“ (Fenner 2012/13: 379; vgl. Steininger 2014: 46-47). Das bedeutet nicht nur, dass das Verständnis für den fiktionalen, ästhetischen Charakter eines literarischen Textes unterentwickelt bleibt. Es bedeutet darüber hinaus, dass mit dem überhöhten Anspruch auf den fachdidaktisch vielstimmigen Begriff „Authentizität“ (vgl. dazu Abschn. 1.4) im Umgang mit solchen hyperkodierten Texten den Lernenden unter Umständen die grundsätzliche Kompetenz abhanden geht, zwischen Fakten und Fiktionen, zwischen Realität und Realismus, zu unterscheiden – eine verheerende (und womöglich durch derlei curriculare Ansprüche ungewollt begünstigte) Dynamik gerade in einem postfaktischen Zeitalter. Daher ist zunächst der Blick auf die curricularen Taktgeber zu richten, die den ‚traditionellen‘ Literatur-Unterricht stark beeinflusst und verändert haben.

      Seit Einführung des CEFR im Jahr 2001 war dem fremdsprachlichen Literaturunterricht an deutschen Schulen das Dilemma zwischen kommunikativer Kompetenz und Wissenschaftspropädeutik eingeschrieben. Dieses wurde schon bald nach dessen Einführung von Literaturdidaktiker:innen erkannt und moniert: Hingewiesen wurde dabei auf den marginalisierten Stellenwert von fremdsprachlicher Literatur in einem eher kommunikativ-pragmatisch gewendeten, berufsvorbereitenden Unterricht, der dem Anspruch auf die wissenschaftspropädeutisch ausgerichtete Kursstufe konträr entgegenstehe (vgl. dazu auch Freese 2009: 13). Dieses Dilemma und die damit einhergehende Abwertung der textnahen Erarbeitung von Literatur wurde als „unproduktiver deadlock“ (Surkamp 2012: 79) beschrieben, und Eva Burwitz-Melzer stellte fest:

      Der Sinn eines Textes, der sich durch seine Analyse und seine Interpretation erschließt, hat [für die Formulierung von Deskriptoren im CEFR, JM] auf den Kompetenzstufen A1 bis C1 noch keine Rolle gespielt. Es kann aber nicht angehen, dass zentrale Kompetenzen wie ‚den Textsinn erschließen‘ erst in der letzten Niveaustufe eingeführt werden, wenn zuvor nicht einmal Vorstufen oder vorbereitende Leistungen auf niedrigeren Niveaustufen erwähnt worden sind. (Burwitz-Melzer 2007: 129; Herv.i.Orig.)1

      „Wissenschaftspropädeutik“? An dieser Stelle ist es sinnvoll, einen kurzen Blick in die aktuellste Fassung der „Vereinbarung zur Gestaltung der gymnasialen Oberstufe und der Abiturprüfung“ seitens der Kultusminister-Konferenz (KMK) zu werfen. Dort wird man feststellen, dass gegenüber berufsvorbereitenden kommunikativen Kompetenzen folgende Kriterien als privilegiert hervorgehoben sind: „vertiefte Allgemeinbildung, allgemeine Studierfähigkeit sowie wissenschaftspropädeutische Bildung“, in deren Verlauf insbesondere der Unterricht der Qualifikationsphase „exemplarisch in wissenschaftliche Fragestellungen, Kategorien und Methoden“ einführt (KMK 2018: 5). Die Bildungsstandards für die fortgeführte Fremdsprache (Englisch / Französisch) für die Abiturprüfung präzisieren den Ausdruck wie folgt:

      Im Unterricht in der gymnasialen Oberstufe geht es darüber hinaus um die Beherrschung eines fachlichen Grundlagenwissens als Voraussetzung für das Erschließen von Zusammenhängen zwischen Wissensbereichen, von Arbeitsweisen zur systematischen Beschaffung, Strukturierung und Nutzung von Informationen und Materialien, um Lernstrategien, die Selbstständigkeit und Eigenverantwortlichkeit sowie Team- und Kommunikationsfähigkeit unterstützen. (KMK 2012: 5)

      Diese grundlegenden Aspekte werden auf der anschließenden, tertiären Bildungsstufe laut dem revidierten Qualifikationsrahmen für deutsche Hochschulabschlüsse von 2017, in deutlicher „Differenzierung zu den Bildungsaufträgen anderer Bildungsbereiche, insbesondere der beruflichen Bildung“ (Bartosch et al. 2017: 4) schon auf dem ersten akademischen Level (Bachelor-Ebene) „wesentlich“ ausgeweitet und in ein „kritisches Verständnis der wichtigsten Theorien, Prinzipien und Methoden“ überführt, ehe auf Master-Ebene die „Besonderheiten, Grenzen, Terminologien und Lehrmeinungen […] zu definieren und zu interpretieren“ sind (KMK 2017: 7-8).

      Die deutlich anti-ästhetische, utilitaristische Einstellung des ursprünglichen CEFR lässt, in Vorwegnahme der folgenden Kritik, das vage Bekenntnis zur Bedeutung von nationalen Literaturen im Unterricht in ihrer Funktion als ‚kulturelles Erbe‘ als Lippenbekenntnis („lip service“, Grimm/Meyer/Volkmann 2015: 176) erscheinen.2 Folgender Abschnitt des Referenzrahmens, „Aesthetic uses of language“, war für viele literaturdidaktische Urteile über den CEFR wesentlicher Stein des Anstoßes:3

      Imaginative and artistic uses of language are important both educationally and in their own right. Aesthetic activities may be productive, receptive, interactive or mediating […], and may be oral or written. They include such activities as:

       singing (nursery rhymes, folk songs, pop songs, etc.)

       retelling and rewriting stories, etc.

       listening to, reading, writing and speaking imaginative texts (stories, rhymes, etc.) including audio-visual texts, cartoons, picture stories, etc.

       performing scripted or unscripted plays, etc.

       the production, reception and performance of literary texts, e.g.: reading and writing texts (short stories, novels, poetry, etc.) and performing and watching/listening to recitals, drama, opera, etc.

      This summary treatment of what has traditionally been a major, often dominant, aspect of modern language studies in upper secondary and higher education may appear dismissive.

      It is not intended to be so. National and regional literatures make a major contribution to the European cultural heritage, which the Council of Europe sees as ‘a valuable common resource to be protected and developed’. Literary studies serve many more educational purposes – intellectual, moral and emotional, linguistic and cultural – than the purely aesthetic. It is much to be hoped that teachers of literature at all levels may find many sections of the Framework relevant to their concerns and useful in making their aims and methods more transparent.

       Users of the Framework may wish to consider and where appropriate state:

       which ludic and aesthetic uses of language the learner will need/be equipped/be required to make.

      (CEFR 2001: 56, Herv.i.Orig.)

      Es wurden seit 2001 verschiedene Versuche unternommen, die Literaturkompetenzen angemessener zu evaluieren und – falls überhaupt möglich – zu standardisieren. Lothar Bredella hat dies für die Englischdidaktik in einem ausführlichen Beitrag versucht, in dem er verschiedene (entwicklungspsychologische) Stadien als Leser:in, die ein/e Heranwachsende/r zwischen Grundschulalter und fortgeschrittener Adoleszenz durchläuft, beschreibt. Er postuliert dabei eine Sukzession von mehreren Stufen, ausgehend vom „mythische[n] Verstehen“ im Kleinkindalter über ein identifikatorisches „romantisches Verstehen“, gefolgt von einem distanzierten, beobachtend-kritischen Zugang zur Literatur bis hin zum „philosophischen Verstehen“ bei jungen Erwachsenen, das eine ironisch-subversive Lesart von literarischen Texten ermöglicht (vgl. Bredella 2004: 81-138). Burwitz-Melzer (2007) macht in ihrer Kritik an den supranationalen und bundesweiten Referenzwerken einen Vorschlag zur Formulierung von schulischen Lesekompetenzen in einem modellhaften Entwurf für die Jahrgangsstufen 12/13. Dabei unterscheidet sie, im Gegensatz zu den „nicht begründeten und schwammig formulierten“ Kriterien der drei Anforderungsbereiche (im folgenden: AFB) Comprehension / Analysis / Activities für gymnasiale Aufgabenstellungen, wie sie seit Herausgabe der Einheitlichen Prüfungsanforderungen (KMK 2003) auch für die neueren Bildungsstandards verbindlich sind (KMK 2012), fünf unterschiedliche Kompetenzbereiche. Diese lassen sich psycholinguistisch begründen bzw. der Lernprogression und Lesesozialisation folgend organisieren: Es handelt sich um motivationale, kognitive, interkulturelle Kompetenzen sowie solche der Anschlusskommunikation und Reflexion (vgl. Burwitz-Melzer 2007: bes. 139-143). Letztere führen, wie die zuvor genannten Kriterien mit ihren unterschiedlich komplexen Stufen von Sinnkonstitution, zur schriftlichen Textproduktion bzw. zu mündlichen Sprachleistungen der Schüler:innen, die ihrerseits im Unterricht einsetzbar bzw. zu bewerten sind. Im Anschluss an diesen Vorschlag entwickelt Hallet seine vier Kompetenzebenen, die die Lernenden von der „literarischen Lesefähigkeit“ über die „literarische[n] als kulturelle Kompetenzen“ und die „Reflexionsfähigkeit“ bis hin zur „fremdsprachlichen Diskursfähigkeit“