Fachdidaktik Englisch - Fokus Literaturvermittlung. Jürgen Bona Meyer

Читать онлайн.



Скачать книгу

Begriffssetzungen, eingeführt, während dieselben Begriffe im akademischen Kontext zu größeren Begriffssystemen und Theorien aufgebaut, in Beziehung zu konkurrierenden Modellen gesetzt und schließlich jenseits der reinen Definitionsmerkmale theoretisch reflektiert und differenziert bzw. diversifiziert werden. Dadurch bedingt werden im akademischen Diskurs immer wieder signifikante Bedeutungsverschiebungen gegenüber schulischer Textarbeit erlebt, die seitens vieler Studierender nicht etwa als eine Wissenserweiterung oder -vertiefung anerkannt werden (diese Wahrnehmung wäre positiv besetzt, da bekannte kognitive Schemata wiedererkannt und neue darauf aufgebaut werden), sondern als eine (zu späte) Korrektur von an der Schule gelernten Inhalten.

      Die Wiederbegegnung mit schulischem Literatur-Wissen in akademisch vertiefendem Kontext wird somit häufig nicht als hermeneutischer Zirkel durchschritten, sondern als Teufelskreis durchlitten, weil die erweiternde Differenzierung zum (potenziell schon angelegten) Schulwissen übers Lesen als Degradierung der eigenen Kompetenz, gar des eigenen Leseverhaltens, empfunden wird. Daher wird eine theoretisierend-kritische, sinn- und bedeutungsstiftende Durchdringung der literarischen und literaturwissenschaftlichen (einschließlich der diskursiv-terminologischen) Inhalte häufig nicht mehr zugelassen.

      Wenn also in Publikationen um die Jahrtausendwende aus fachdidaktischer Sicht, d.h. vor Einführung der kompetenzorientierten Bildungsstandards und Landescurricula, „die neuphilologische, an Literatur und Landeskunde orientierte Tradition des Englischunterrichts“ (Tenorth 2001: 157) kritisiert wurde mit der Ermahnung, dieser dürfe „nicht nur eine Hinführung zur Literaturwissenschaft“ (Voss 2001: 255) sein, so liegt es mittlerweile nahe, als wäre daraus eine Schwundstufe mit den zuvor skizzierten Auswirkungen entstanden. Umso auffälliger ist es, dass sich auch auf empirischer Ebene eine ähnliche Tendenz abzeichnet: Im Rahmen einer nicht-repräsentativen Interview-Studie, in der jeweils fünf erfahrene und unerfahrene Lehrkräfte das didaktische Potenzial einer Kurzgeschichte für den Einsatz in der Sekundarstufe II beschreiben sollten (vgl. Hohwiller 2020: 60), ergab sich folgende Einsicht:

      Fasst man […] das intertextuelle Bewusstsein, die Detailbeobachtungen inklusive der Deutung des Titels sowie den Umgang mit narrativer Offenheit allgemein als philologische Kompetenz zusammen, so kann man festhalten, dass diese bei den fünf expert teachers in fast allen Unterbereichen stärker ausgeprägt ist. Kurzum: Die philologische Beweisführung der erfahrenen Lehrrkräfte übertrifft quantitativ und qualitativ die der Novizen. Die ist insofern überraschend als das Anglistik-Studium der novice teachers, das auch ein literaturwissenschaftliches ist, kurz vor Abschluss steht, während das der Experten zum Teil Jahrzehnte zurückliegt. (Hohwiller 2020: 63; vgl. auch ebd. 109)5

      Ganz so überraschend ist dieser Befund denn doch nicht: Ein weiterer Blick in die fachdidaktische Praxis der Lehramtsausbildung offenbart, dass „sich [literaturdidaktische, JM] Publikationen, aber auch studentische Seminar- und Staatsexamensarbeiten, kaum mehr mit der literarischen Grundanalyse und Interpretation eines spezifisch zu behandelnden Textes auseinander[setzten]“. Stattdessen wendeten sie „das inzwischen vielfach ausdifferenzierte Methodikrepertoire der kreativen, produktiven, handlungs- und ergebnisorientierten, bisweilen noch analytisch ausgerichteten Verfahrensschritte“ (Volkmann 2017: 217, Herv. JM). Folglich erscheint schon hier die literarische Sachanalyse des zu vermittelnden literarischen Gegenstandes hintangestellt – ein sinnstiftendes Interpretationsverfahren, mit dem Lehramtsstudierende an einen literarischen Text herangehen und dies als fremdsprachliche wie auch hermeneutische Handlungskompetenz später in den Unterricht einbringen, wird nicht einmal mehr erwähnt. In Konsequenz ist zu erwarten, dass es den zukünftigen Lehrkräften schwerfallen wird, sich selbst auf die Literarizität von ästhetischen Texten einzulassen und einen Grundbestand an deren spezifischen Merkmalen (Form, Fiktionsmarker, Strukturelemente, Diskurstechniken) später an die Schüler:innen weiterzugeben. Literaturtheoretische Modelle und darauf aufbauende Lektüreverfahren spiegeln die Vielfalt der Möglichkeiten unterschiedlicher Textannäherungs und -aneignungsformen wieder. Ihre Kenntnis ist daher insbesondere für eine solide Lehramtsausbildung von hoher Bedeutung. Daraus resultiert häufig der Vorwurf einer zu theorielastigen Orientierung literaturwissenschaftlicher Seminare, die ihre Rechtfertigung aber aus der Vieldeutigkeit von literarischen Texten bezieht.6

      Materialauswahl. Als Basis für die folgende Untersuchung dienen vier Bände aus der Lehrwerksgeneration für die Qualifizierungsphase (11.-13. Schuljahr) mit Erscheinungsdaten von 2015 bis 2019. Sie alle fußen auf den Bildungsstandards der ständigen Kultusministerkonferenz (KMK) von 2012 und auf dem von 2014 bis 2019 gültigen Kernlehrplan für das Fach Englisch an der Gymnasialen Oberstufe in Nordrhein-Westfalen. Materialien für dieses Bundesland eignen sich – produziert für einen der von Verlagsseite bevorzugten Märkte – besonders für eine Analyse der vorliegenden Art.7 Es werden im Folgenden namentlich Schülerbuch und Lehrer-Handreichungen, verschiedentlich auch das supplementäre workbook für die Analyse herangezogen. Das Untersuchungskorpus setzt sich im Einzelnen aus den folgenden Bänden zusammen:

       Diesterweg: Camden Town Oberstufe (Qualifikationsphase), 2019 (ISBN 978-3-425-73644-0) = CT;8

       Cornelsen: Context, 2015 (ISBN 978-3-14-040161-6) = C;

       Klett: Green Line Oberstufe, 2015 (ISBN 978-3-12-530485-7) = GL;9

       Schöningh: Pathway Advanced, 2017 (ISBN 978-3-06-033482-7) = PA

      Jenseits der Konzeption der Schülermaterialien und ihrer Ergänzungen werden auch die Lehrerhandreichungen mit ihren thematischen Informationen und methodisch-didaktischen Hinweisen analysiert und kritisch reflektiert:

       Camden Town Oberstufe (QP): „Lehrerhandbuch“ = CT-LHB

       Context: „Handreichungen für den Unterricht“ = C-HRU

       Green Line Oberstufe: „Lehrerband“ = GL-LB

       Pathway Advanced: „Lehrerhandbuch“ = PA-LHB10

      Der Blick in diese Lehrwerke zeigt, dass zumindest elementare Begrifflichkeiten von gattungsspezifischen Repräsentationstechniken und von stilistischen / kommunikativen Gestaltungsmitteln in Texten und Medien, seien sie fiktional oder ein dokumentarisch, den Lernenden prinzipiell zugänglich gemacht werden: Es müsste also in den universitären Einführungsveranstaltungen eigentlich produktive kompetenz-, aber auch wissensbezogene Wiedererkennungsmomente mit schulischem Lernstoff geben. Ebenso stünde es zu erwarten, dass diverse Lese- und Schreibstrategien, die dem Verfassen von schriftlichen assignments, Klausuren und wissenschaftlichen Hausarbeiten dienen, zur Anwendung kämen. Gleichwohl kritisiert Hallet, dass aufgrund dieser auch curricular vorgesehenen Trennung von Inhalten und Kompetenzen insbesondere „die Produktion mündlicher und schriftlicher Texte, die doch eigentlich den Kern aller Kommunikation und aller kommunikativer Kompetenzen bilden müsste, aus unerfindlichen Gründen den ‚Methodenkompetenzen‘ zugeordnet [sind]“ (Hallet 2016: 14). Denn jedes Lehrwerk hält einen umfangreichen Apparat mit Kompetenzseiten bereit,11 die nicht nur als Unterstützung für die Lern-Autonomie deklariert sind, sondern auch im Unterrichtsgeschehen Verwendung finden: „Verweise im Topic-Teil dienen der Integration der Skills section in den Unterricht.“ (GL-LB 10; Herv.i.Orig.)12 So findet sich in Pathway Advanced ein substanzieller Anhang zu Competences, Skills & Methods (PA 489-548), während Camden Town und Green Line einen Diff[erentiation] Pool, Intercultural Competences, Skills und einen Anhang mit einem Glossar zu literarischen Begriffen sowie einem Kompendium von kooperativen Unterrichtsmethoden anbieten (CT 294-389; GL 276-360). Context liefert seinerseits eine „Reference Section“ mit Language Files, Skill Files und Exam Practice (C 218-348).

      Die Skill Files der einzelnen Lehrwerke teilen sich in verschiedene Kategorien. So gibt es neben diskursförderlichen (hier: textlich bzw. medial geprägten) auch solche, die die individuelle Sprachproduktion ausbauen sollen – wie z.B. im Bereich der Lese- und Schreibtechniken. Die folgende Tabelle listet in einer Synopse eine Auswahl der verschiedenen Skill Files in allen verglichenen Lehrwerken auf, die jeweils eine Entsprechung in den Vergleichslehrwerken haben – bezogen auf die text- und medienanalytischen Kompetenzen und auf zwei der fünf wesentlichen skills, Schreiben und