Fachdidaktik Englisch - Fokus Literaturvermittlung. Jürgen Bona Meyer

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Ausführungen Abschn. 1.3 und 1.4). Dieser Wechsel wirkte sich wiederum auf den Stellenwert von Literatur im Unterrichtsgeschehen gerade der gymnasialen Oberstufe aus und betraf folglich auch die Konzeption von Lehrwerken mit ihrer Einbettung von literarischen Texten in die geforderten authentischen, lebensweltnahen Themenblöcke und schülerzentrierten Aufgabenstellungen.

      Beide Prozesse der vergangenen zwei Jahrzehnten – gesellschaftliche Digitalisierung und pädagogische Kompetenzorientierung – haben zu einer grundlegenden Veränderung in den Bereichen Lesesozialisation und Leseverhalten innerhalb und außerhalb der Bildungseinrichtungen beigetragen, und sie haben eine Definition von „literarischer Kompetenz“ erforderlich gemacht. Was aber versteht man also darunter und wozu dient diese? Im Gegensatz zu anderen Kompetenzbereichen gibt es hierzu nur recht wenige verbindliche Maßgaben.3 Eher sind es einzelne Literaturdidaktiker:innen, die sich um eine gewisse Standardisierung auf dieser Ebene bemühen. Christiane Lütge benennt hierzu im Anschluss an Wolfgang Hallet vier verschiedene Ebenen: die „Literary Reading Competence“ mit der Befähigung zum analytischen wie empathischen Lesen; die „Literary as Cultural Competence“ samt der Fähigkeit, interkulturelles und historisches Wissen in literarischen Texten zu aktivieren; die „Competence of Reflection“, die den in Texten eingeschriebenen, zumeist impliziten Wertesystemen auf den Grund geht und die individuelle reader response auf einer übergeordneten Ebene zu entschlüsseln in der Lage ist; schließlich die „Competence of Foreign Language Discourse“, die in der zielsprachlichen Auseinandersetzung (Rezeption) und Verbalisierung (Produktion) besteht (vgl. Lütge 2012/13: 198-199; vgl. dazu auch Hallet 2007). Mit Ralf Weskamp lassen sich, in Antwort auf die zweite Teilfrage nach den Funktionen und Zielen des fremdsprachlichen Literaturunterrichts, diese wie folgt darstellen:

Bildung die inneren Kräfte des Menschen freisetzen und entwickeln zu Freiheit und Autonomie des Menschen beitragen ästhetische Urteilskraft und ästhetisches Bewusstsein entwickeln den Intellekt schulen
Kompetenzerwerb zur employability beitragen zu lebenslangem Lernen befähigen zur allgemeinen Lesefähigkeit ( literacy ) beitragen Input-, Output- und Interaktionsmöglichkeiten beim Fremdsprachenerwerb schaffen
Kulturvermittlung die überzeitliche Bedeutung von Literatur deutlich machen zeigen, dass Literatur Teil diskursiver Systeme ist, die sich wechselseitig beeinflussen Literatur als Teil des ‚kulturellen Gedächtnisses‘ verstehbar machen einen literarischen Kanon als Orientierungshilfe vorstellen Literatur als Dokument einer Zeit untersuchen die wechselseitige Bedingtheit von Literatur und Geschichte aufzeigen
Kognition / Kommunikation zeigen, dass Narrative ein Element des Denkens und eine Form der Kommunikation darstellen die eigene Lebensgeschichte als Narrativ erfahrbar machen Literatur als Spiel mit der eigenen Gedankenwelt erleben lassen die sprachliche Form von Literatur als Ursache für ihre ästhetischen und emotionalen Effekte aufzeigen
Moralische Bildung zeigen, dass Literatur nicht dazu geeignet ist, ein Modell für ein gutes Leben zu liefern zeigen, dass Literatur analysierbare menschliche Konflikte enthält dazu beitragen, menschliche Verhaltensweisen zu verstehen

      Tab. 1:

      Funktionen und Ziele des Literaturunterrichts (Weskamp 2019: 132-133, Herv. JM)

      Nimmt man die verschiedenen Parameter, so zeigt sich eine große Diskrepanz zwischen den Ansprüchen an eine fortgeschrittene fremdsprachliche Lesekompetenz (sowohl an der Schule als auch der Hochschule) und der Realität der Lernenden.4 „Fakt ist“, bilanziert Christa Jansohn in einem Beitrag zur Qualität der Lehrerausbildung im Fach Englisch, „dass die Schere zwischen schulischen Anforderungen und universitären Visionen immer weiter auseinandergeht.“ (Jansohn 2015: 83) In der Tat gelangen viele Studierende der Anglistik nicht nur der ersten zwei Semester rasch an die Grenzen ihrer Lesekompetenz. Lesepensen von mehr als drei Romanen oder Dramen im Semester, oder mit mehr als ein bis zwei Gedichten pro Seminarsitzung werden häufig nicht nur als zeitliche, sondern auch sprachliche Überforderung betrachtet – erst recht im Verbund mit der Sekundärliteratur, die auch Verständnishilfen sein können, aber vor allem zur Reflexion des Gelesenen sowie zur Metareflexion einer methodisch oder theoretisch informierten Texterschließung anregen sollen. Komplexe uneigentliche Schreibweisen wie Ironie und Satire oder stilistische Mittel jenseits von Alliteration, Paarreim und Metapher werden kaum selbstständig erkannt und entsprechend wenig von den Studierenden selbst thematisiert. Stilanalysen erfolgen in der Regel auf rein deskriptive Art – nicht selten in Stichwort- und Tabellenform, die allenfalls eine grobe funktionale Deutung präsentieren, ohne in zusammenhängende Interpretationstexte zu münden. Kritische, historisch und ästhetisch begründete Einsichten über einen komplexen literarischen Text zu formulieren überfordert viele Studierende noch am Ende ihres Erststudiums.

      In literaturwissenschaftlichen oder -didaktischen Lehrveranstaltungen fällt auf, dass in der Arbeit mit umfangreicheren Werken allmähliche Figurenentwicklungen, achronologisch angeordnete Handlungsstränge oder mehrsträngige Plot-Konstruktionen immer wieder allzu rigide simplifiziert werden, nicht zuletzt vor dem Hintergrund eines selbstverständlichen Einsatzes von in der Schule üblichen Recherchetools wie shmoop, sparknotes, nosweatshakespeare oder vergleichbaren Informationsplattformen, deren Angebote oft die Primärtextlektüre ersetzen. In Seminardiskussionen wie in wissenschaftlichen Hausarbeiten wird eifrig über die Autorintention spekuliert; dagegen werden Stadien eines ein- oder mehrsträngigen Handlungsverlaufs ebenso wenig berücksichtigt wie Perspektivwechsel in erzähltechnisch anspruchsvollen Texten wahrgenommen. Demzufolge kommt es immer wieder zu textlich begründbaren Missverständnissen bezüglich der Chronologie von Ereignissen, komplexer Charakterzeichnungen und mehrschichtiger Figurenkonstellationen. Häufig werden Hypothesen darüber formuliert, was eine Figur in einer bestimmten Situation zu ihrem Handeln bewegt, ohne dass die entsprechenden Textsignale zuvor oder später zur Kenntnis genommen würden, die über Entwicklungsdynamiken in einer Figurenkonzeption Aufschluss geben könnten. Imaginäre Charaktere werden entweder identifikatorisch (und weniger empathisch) erfasst, indem Rezipient:innen ihre eigenen Lebenserfahrungen in den jeweiligen Stoff ‚hineinlesen‘. Oder die Studierenden bieten, in Ermangelung dessen, was angelehnt an ein summarisches Konzept von „Fiktionskompetenz“ (Gschwind 2020) als Fremd-Fiktionskompetenz zu konkretisieren wäre, ihrerseits eine alternative Version zum Handlungsverlauf einer Erzählung bzw. eines Dramas, womit sie sich von einer ästhetisch-analytischen auf eine adaptierend-performative Rezeptionsebene begeben, die aber im Bereich einer literaturwissenschaftlichen Annäherung an Texte äußerst selten eingefordert wird.

      Ein zentrales Moment der Fremdheitserfahrung insbesondere von Teilnehmer:innen der ersten Studienjahre im Hörsaal oder Seminarraum ließe sich dadurch vermeiden, dass sie nicht länger schon in ihren ersten literaturwissenschaftlichen Veranstaltungen erkennen müssen, dass verschiedene Lerninhalte, v.a. der autorzentrierte Zugang zur Textlektüre – jedenfalls bei fiktionalen Stoffen, die den bei weitem überwiegenden Anteil von literaturwissenschaftlichen Seminaren ausmachen – mindestens als historisch veraltet, wenn nicht gar als konzeptuell irreführend betrachtet wird. Denn die Schüler:innen verlassen die Schule in der sicheren Erwartung, dass Text- / Materialnähe allenfalls für sekundäre Zwecke gefordert ist, und dass Wissenschaft nicht darin liege, divergierende explizite und implizite Sinnstrukturen zutage zu fördern, sondern kreativ etwas ‚Neues‘, ‚Anderes‘ aus dem Vorhandenen zu schaffen. Nicht