Fachdidaktik Englisch - Fokus Literaturvermittlung. Jürgen Bona Meyer

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Tendenzen. Insgesamt lässt sich sehr wohl feststellen, dass die Lehrwerkforschung neuerlich eine gewisse Dynamik entwickelt hat. Vor dem Hintergrund der Studien aus den letzten zwei Jahrzehnten ergibt sich folgendes Bild: Mit Blick auf den Stellenwert des Lehrwerks für den Unterricht besteht weitestgehend Konsens darüber, dass zumindest in der Primar- und Sekundarstufe I Lehrwerke eine weite Verbreitung erreichen und insgesamt ein recht hohes Ansehen genießen; lediglich Grimm/Meyer/Volkmann äußern sich reserviert und weisen darauf hin, dass auf eine gute Durchmischung von allgemeinen lehrwerks- und lerngruppenspezifischen Zusatzmaterialen zu achten sei, da ansonsten die Gefahr durch wenig authentische Unterrichtsgegenstände sowie durch stereotypisierende Themenzuschnitte entstehe, die zudem für die Lernenden oft uninteressant sind und wenig Kreativität zuließen. Im gleichen Maße würden die Lehrenden ‚entlehrt‘, oder „deskilled“ (Grimm/Meyer/Volkmann 2015: 250), da ihnen mit den entsprechenden Lehrerhandreichungen alle methodischen Schritte vorgeschrieben würden. Daher mag Kurtz’ Regel nach wie vor Gültigkeit zugeschrieben werden: „Optimale Lehrwerkverwendung bedeutet nicht maximale Lehrwerkbindung.“ (Kurtz 2001: 43) In der Regel aber vereinen die jüngsten Lehrwerksgenerationen verschiedene Vorzüge, die eine Lehrkraft in mehrfacher Hinsicht unterstützen (können):

      The new generation of textbooks offer [sic] a variety of different text forms and activities that aim at the integrated practice of language skills […]. They follow the common principles of EFL teaching and learning by incorporating meaningful communicative tasks, catering to different learner styles and offering manifold activities for language practice. Modern textbooks for the secondary classroom embed grammar and vocabulary practice in meaningful contexts and they illustrate and explain the value of learning strategies and techniques, supporting learners in their individual learning processes. With this, textbooks are valuable timesavers in terms of teachers’ preparation times and they offer a secure learning progression that is transparent to students, teachers and parents alike. Given the fact that there is hardly a textbook anymore that does not come with a language learning software for the computer and CDs with texts and songs spoken / sung by native speakers, textbooks are also an effective resource for self-directed learning. (Elsner 2018: 30; Herv.i.Orig.)

      Gleichwohl gibt es gewisse Vorbehalte gegenüber dem Lehrwerk-Einsatz auf dem Niveau der Sekundarstufe II: „As teachers are more or less free to choose how they want to approach the topics and texts set by curricular guidelines, the use of classical textbooks is not very popular at secondary II level.” (Elsner 2018: 33) Eine entwicklungspsychologische und fremdsprachenerwerbs-typische Lernprogression ist hier nämlich gegenüber der Gestaltung von Lehrwerken für die Sekundarstufe I nicht mehr zu erwarten. Da die eigentliche Spracherwerbsphase zu diesem Zeitpunkt als abgeschlossen gilt, werden grammatische Phänomene nicht von Grund auf erarbeitet, sondern zumeist situativ und wiederholend angewendet bzw. vertieft; in den thematischen Modulen werden zudem immer wieder grammatische Strukturen in Gestalt eines „focus on form / language“ eingefügt. Auch sind zu diesem Zeitpunkt verschiedene Lesetechniken mit jeweils eigenen Funktionen thematisiert worden, so dass die vielfältigen Skill Files einer weiteren Automatisierung und Autonomisierung des fremdsprachlichen Lernens und Arbeitens dienen – als (inter-)subjektiver Akt der Informationsbeschaffung und Meinungsbildung, als kognitive Methode der Bedeutungskonstruktion.

      Somit erscheint es aus fachdidaktischer Sicht insbesondere seit Einführung erstens der inhaltlich offen gestalteten, kompetenzorientierten Bildungsstandards, zweitens der landesspezifischen Kerncurricula für die Sekundarstufe II und drittens angesichts zunehmender Zentralisierung der Abiturprüfungen mittlerweile durchaus naheliegend, dass Lehrwerke im Sinne einer weitgehenden Wissensstandardisierung und Vergleichbarkeit das Rückgrat des Fremdsprachenunterrichts im modernen Klassenzimmer bilden sollten, auf das sich sinnvollerweise auch die schulinternen didaktischen Jahreslehrpläne stützen.

      Eine Mehrzahl der aktuellen lehrwerkanalytischen und / oder -kritischen Studien aus der Zeit nach 2001 (namentlich Anton 2017, Vali 2015 und Hammer 2012) wendet sich Untersuchungsgegenständen für das Fach Englisch zu, die mittlerweile zur (vor-)vorletzten Generation der Lehr- und Lernmaterialien zu rechnen sind, d.h. die zwar die im CEFR von 2001 vorgesehene Kompetenzorientierung i.d.R. schon erfasst haben, aber noch nicht die seit 2014 erschienenen Lehrwerksreihen untersuchen. Fünf neuere Monographien richten dabei die Aufmerksamkeit auf die Anlage und Entwicklung interkultureller (kommunikativer) Kompetenzen im Englisch-Unterricht der Primar- (Staab-Schultes 2010, Vollmuth 2004; Brunsmeier 2016; Kirchhoff 2019a) bzw. der Sekundarstufe I (Hammer 2012, Lehmann 2010, Merkl 2002)3; zudem gibt es nur wenige Studien mit einem Fokus auf der Sekundarstufe II: neben Renges (2005) und Eick (2020) sind für dieses Bildungsniveau erneut die Arbeiten von Anton (2017) und Vali (2015) sowie Freitag-Hild (2010) zu nennen. Diese Studien sind ausnahmslos der Vermittlung allgemeiner (ziel- oder inter-) kultureller (kommunikativer) Kompetenzen gewidmet.4

      Desiderata. Demgegenüber besteht noch immer eine empirische Forschungslücke bezüglich des schulischen Umgangs mit literarischen Inhalten, die Volkmann auf den „erheblichen argumentativen Legitimationsdruck“ zurückführt, dem die „Literatur im kommunikativ orientierten Fremdsprachenunterricht“ ausgesetzt ist (Volkmann 2017: 210; vgl. Kirchhoff 2019b: 219). So gibt es zwar eine Fülle von Unterrichtsbeispielen über die Vermittlung von interkulturellen (kommunikativen) Kompetenzen anhand literarischer Texte, doch stehen diese i.d.R. lehrbuchunabhängigen Unterrichtsprojekte in ihrer bei weitem überwiegenden Mehrzahl mit Texten und -materialien parallel zu den Inhalten von Lehrbüchern mit ihren eigenen thematischen Schwerpunktsetzungen (vgl. z.B. Delanoy/Eisenmann/Matz 2015, die Beiträge in Teil II von Hallet/Surkamp/Krämer 2015; Teil III in Surkamp/Nünning 2010; Hallet/Nünning 2009; oder in Teil IV von Bredella/Burwitz-Melzer 2004). Es bleiben die Arbeiten von Britta Freitag-Hild (2010) und Ann Kimes-Link (2013) zu erwähnen, die beide aus empirischer Sicht die Literaturaufgaben im fremdsprachlichen Unterricht untersuchen. Während Freitag-Hild ihre Aufgabentypologie speziell für den Literaturunterricht unter interkulturellen Vorzeichen entwickelt, setzt Kimes-Link den Akzent auf die Erarbeitung u.a. von umfangreicheren Ganztexten wie Shakespeares Romeo and Juliet, Carol Matas’ Cloning Miranda und Joyce Carol Oates’ Big Mouth Ugly Girl. Beide Arbeiten lassen die Entwicklung literarischer Kompetenzen im Medium der Lehrwerke unberücksichtigt.

      Die vorliegende Betrachtung mit ihrem Schwerpunkt auf der Literaturvermittlung über Englisch-Lehrwerke für die Qualifikationsphase an der gymnasialen Oberstufe und somit an der Schwelle zum tertiären Bildungssektor dringt folglich in ein weitgehend unbekanntes bzw. fremd gewordenes Territorium innerhalb des Gebietes der anglistischen Lehrwerkforschung vor. Sie erweitert den aktuellen Schwerpunkt der Lehrwerkforschung, der sich auf die Vermittlung interkultureller kommunikativer Kompetenzen konzentriert, um die bislang unzulänglich betrachtete Inhaltsebene: was wird den Schüler:innen wie angeboten bzw. was fordert man von ihnen auf welche Weise ein? In diesem Sinne erinnert Weskamp emphatisch daran, „dass Literaturunterricht nicht nur ‚Unterricht‘ ist, der mit den Methoden der empirischen Forschung beschreibbar ist, sondern dass es auch um Literatur geht, die hermeneutisch betrachtet werden muss.“ (Weskamp 2019: 133) Dazu gehört nicht zuletzt, wie Carola Surkamp eine zentrale „Aufgabe des Literaturunterrichts“ formuliert, dass den „Lernenden Einblicke in die Wirkungs- und Funktionsweisen textueller Strategien zu vermitteln“ seien (Surkamp 2019a: 141). Dementsprechend argumentiert die vorliegende Studie für eine moderate, themenbezogene Re-Philologisierung des gymnasialen Literaturunterrichts und damit für eine intensivierte Betrachtung der Literatur als Literatur.

      1.3 Literaturunterricht in der SEK II: Bildungspolitische/curriculare Rahmungen

      Nach dem Forschungsüberblick zur Lehrwerkkritik ist nun zum einen darzulegen, in welcher Hinsicht bildungspolitische Rahmenwerke und Standardformulierungen den praktischen Literaturunterricht beeinflusst haben. Zum anderen werden drei aktuelle Beispiele von Systematisierungen literarischer Kompetenz angeführt, die in kritischer Distanz zu sprachlich-kommunikativen Standard-Setzungen stehen und diese als Korrektive zu optimieren suchen.

      Für die verschiedenen Kompetenzbereiche gibt es Beschreibungskriterien, die von supranationalen Curricula bis zu schuleigenen Jahreslehrplänen eine Standardisierung der Leistungen leisten sollen. Die Akzentuierung des aktuellen Literatur-Unterrichts an der gymnasialen Oberstufe,