Fachdidaktik Englisch - Fokus Literaturvermittlung. Jürgen Bona Meyer

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Abschnitte 2.2 und 2.3). Dabei sei zunächst erläutert, dass es sich im Wesentlichen um ein allgemein ästhetisches Raum-Konzept handelt, das in der Phänomenologie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine wichtige begriffliche Blüte erfahren hat, die auch in jüngeren Arbeiten weiter tradiert, kritisiert und modifiziert werden.4 Diese fanden Niederschlag in den zahlreichen literatur- und kulturtheoretischen Arbeiten (vgl. dazu den Überblicksartikel von Sasse 2010: 303-304).

      Als Spezialfall des sogenannten spatial turn in den Literatur- und Kulturwissenschaften ist dem Konzept „Stimmung“ hingegen nur marginal Aufmerksamkeit zuteil geworden (die anglistische Arbeit von Hoffmann 1978 mag noch als Vorreiter gelten, vgl. aber die germanistische Herausgeberschaft von Gisbertz 2011, die Essaysammlung des Komparatisten Gumbrecht 2011 sowie die interdisziplinären Beiträge in Lehnert 2011 und Arburg/Rickenbacher 2012).5 Einschlägige Wörterbücher wie das Glossary of Literary Terms tun sich schwer mit dem Begriff und widmen ihm zwar einen Eintrag, deuten damit aber lediglich seine prekäre Stellung zwischen sujet, Text und Rezipient:in an, ohne damit das komplexe Phänomen hinreichend zu erklären: „‘Atmosphere’ is the emotional tone pervading a section or the whole of a literary work, which fosters in the reader expectations as to the course of the events, whether happy or (more commonly) terrifying or disastrous.“ (Abrams/Halpham 2015: 20) „atmosphere“ wird hier zu einer formalen, generischen Texteigenschaft, da sowohl das Drama als z.B. auch die Gothic Novel sich aus jeweils spezifischen – und demzufolge anscheinend objektivierbaren – ‚Stimmungen‘ speisen (vgl. Abrams/Halpham 2015: 96, s.v. „drama“, und 152 s.v. „Gothic Novel“).6 Ein:e Rezipient:in nutze demzufolge die textlich generierte atmosphere lediglich, um dramaturgische Voraussagen über einen Plot und dessen Ausgang zu machen: von immersiven, empathischen Reaktionen auf Figuren oder Ereignisse ist hier keine Rede. Das Dictionary of Literary Terms and Literary Theory stellt immerhin eine ungreifbare – damit auch die unbegriffliche, nicht-diskursive? – Wahrnehmung des Kunstwerks durch die Rezipient:innen stärker in den Vordergrund („the intangible quality which appeals to extra-sensory as well as sensory perception, evoked by a work of art“, Cuddon 2013: 57) und unterscheidet davon Henry James’ Begriff einer Rekonstruktion der Autor-Intention durch die Rezipient:innen: Diese „atmosphere of the mind“ spiegele „what the subjective writer of the novel tries to convey to the reader. After a time we in a sense ‘inhabit’ the writer’s mind, breathe that air and are permeated by his vision.“ (Cuddon 2013: 57) Ein Konsens darüber, inwieweit nun schöpferischer Prozess, das Kunstwerk als Produkt und Objekt, oder dessen subjektive Wahrnehmung im Rezeptionsmoment von „Stimmung“ gezeichnet sind, wird mit diesen Definitionsversuchen nicht erreicht – in dem Begriff konvergieren zu viele „Phänomenbereiche, in denen sich herkömmliche Kategorien überschneiden und sich wechselnde Sinnzuschreibungen ergeben. Stimmungen entziehen sich eindeutigen Kategorisierungen.“ (Gisbertz 2011: 8)

      Eingedenk dieser Faktoren sei hier an Gerhart Hoffmanns Arbeit erinnert, die den Untersuchungsakzent von der Peripherie des Kommunikationssystems „Text“ (mit dem Einschluss der Rezeptionsebene) auf die innere Repräsentationsebene mit ihren Gestaltungselementen verschiebt und damit, im Einklang mit Böhme (vgl. 1995: 34-39), auf die Ebene der Produktionsästhetik vordringt. Hoffmann, an Ludwigs Binswanger anschließend, sieht im Begriff des atmosphärisch „gestimmten Raumes“ einen für die Rezipient:innen wichtigen „Sinnträger eines epischen Kunstwerks“ (Hoffmann 1978: 51):

      Im gestimmten Raum sind die Dinge Ausdrucksträger, die eine geschlossene Ausdruckseinheit bilden. Auch Form, Farbe, Größe und andere ‚objektive‘ Eigenschaften haben im gestimmten Raum allein expressiven Charakter: Sie lassen die Dinge traurig oder heiter, sanft oder streng erscheinen, rufen das Erlebnis des Gewaltigen und Erhabenen oder des Zarten und Anmutigen hervor. In ihrer Gesamtheit und in ihrer einmaligen, nicht beliebig auswechselbaren Komposition bilden sie die Atmosphäre des Raums. (Hoffmann 1978: 51)7

      Er ruft im folgenden weitere ‚objektive‘ Eigenschaften wie musikalische Geräusch und Licht, aber auch andere Lebewesen als Konstituenten von „gestimmten“ räumlichen Darstellungen auf, die in der Perspektivierung des Erzählten durch ein Medium (Erzähler, Reflektor oder Figur, um Franz K. Stanzels klassische Terminologie zu verwenden) ihre jeweilige Färbung erhalten. Auf dieser „Ebene der sprachlichen Manifestation ist schließlich die Frage des Stils, also etwa der möglichst exakten objektiven Beschreibung der Dingwelt oder der Umsetzung des Eindrucks eines Subjekts in metaphorischen Ausdruck von Bedeutung, weil sich hier die aktive, rational-gedankliche bzw. die passive, emotional-unbewusste Verarbeitung der optischen Daten […] äußern.“ (Hoffmann 1978: 56)

      Insgesamt erweist sich der in den hier betrachteten Lehrwerke so prominente Akzent einer schülerzentrierten Herausarbeitung von literary atmosphere sowohl aus literaturwissenschaftlicher als auch aus literaturdidaktischer Perspektivierung als riskant – weil dieser theoretisch heftig umstrittene Analysefokus ausgerechnet den Unterrichtsmodulen zu „Science / Technology / Utopia / Dystopia“ und „Shakespeare“, die für eine textnahe Herangehensweise an literarische Kunstwerke prädestiniert wären, vorbehalten bleibt und folglich Lehrende wie Lernende potenziell in prekäre Diskussionssituationen hineinmanövriert. Wie ließe sich damit überhaupt ein Lerneffekt erzielen, der es den Lernenden ermöglichte, die jeweils aktuelle Lektüre auf das Verständnis anderer Texte zu übertragen?

      Primat der Rezipient:innen? Es ist in diesem Zusammenhang auch auf eine provokative Frage einzugehen, die seinerzeit ein Vertreter der einflussreicheren Rezeptionstheorien, Stanley Fish, gestellt hat: „Is there a Text in this Class?“. Seine Antwort lautete, dass die Leser:innen im Lektüreakt natürlich zunächst individuelle und subjektive Text-Bedeutungen erzeugten, die dann aber im Rahmen einer „interpretive community“ – sei es das Klassenzimmer, sei es der Seminarraum – intersubjektiv verhandelt werden (vgl. Fish 1980). Auf die Literaturdidaktik für die Sekundarstufe I angewendet bedeutet dies:

      Die verstehende Auseinandersetzung beginnt bei der Interaktion zwischen Leser und Text, die sich aber zu einer Interaktion zwischen Leser und Leser im Unterricht wandelt, bei der Reaktionen auf das Gelesene, Inferenzen und Hypothesen kommunikativ ausgetauscht und verhandelt werden. Aus dieser kommunikativen Verhandlung in der Interpretationsgemeinschaft entsteht der Textsinn. (Steininger 2014: 419)

      Ein solches Verfahren der gemeinschaftlichen Sinnkonstitution wird jedoch am ehesten in Kenntnis des gesamten Textes zu angemessenen Ergebnissen führen, was für die meisten im Unterricht der Sekundarstufe I behandelten literarischen Formen wie Gedicht und Kurzgeschichte gilt.8 Mit der Lektüre von isolierten Passagen aus umfangreicheren Werken im Unterricht der Sekundarstufe II, wie sie in den Lehrwerken angeboten werden, müssten hingegen nach einer solchen gemeinschaftlichen Sinnkonstitution bestimmte Lesarten eines Textes im Zweifelsfall modifiziert, vielleicht sogar ‚korrigiert‘ werden – mit Hinweis auf den Situationscharakter der jeweils behandelten Passage, oder durch Lektüre von weiteren Textausschnitten, die eine differenzierte Sicht auf komplexere Anlage des Werkes zulassen. Denn, und hierin liegt eine weitere Gemeinsamkeit der hier betrachteten Lehrwerksgeneration, die Schüler:innen werden aktuell nur mehr mit ein- bis zweiseitigen snippets aus umfangreicheren Erzähl- und Dramentexten konfrontiert und sollen,9 ohne hinreichende (Er-)Kenntnisse über das literarische Werk als Ganzes, einen Satz Aufgaben von der bloßen Zusammenfassung über die Erfassung der Atmosphäre und der Figuren-Charakterisierung bis zu kreativen Transformationen des Gelesenen bearbeiten.

      Nicht selten stellt sich bei einer solchen Sicht auf einen umfangreicheren Text angesichts der learning outcomes die Frage: „What happened to the text in this learning environment?“ Einem weiteren wichtigen Rezeptionsforscher, Wolfgang Iser, zufolge setzt die Vorstellungskraft angesichts einer hohen Zahl von „Leerstellen“ nicht nur einen imaginativen Ergänzungsvorgang ersten Grades frei (im Sinne der „good continuation“, die Iser aus der Wahrnehmungspsychologie entlehnt; vgl. Iser 1976: 287): Vielmehr verursache die Vorstellungskraft angesichts der „Leerstelle“ im Text eine „verstärkte Kompositionsaktivität des Lesers, der nun die kontrafaktisch, oppositiv, kontrastiv, teleskopierend oder segmentierend angelegten Schemata – oftmals gegen eine entstehende Erwartung – kombinieren muß“ (Iser 1976: 288), um fehlerhafte Voraussagen (und also Füllungen früherer Leerstellen) zu korrigieren. Derartige kompositorische