Varius. Adina Wohlfarth

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Название Varius
Автор произведения Adina Wohlfarth
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783991072430



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so etwas wie ein Opa für mich.

      Ich küsste ihn lächelnd auf die Wange und winkte ihm zum Abschied zu, bevor ich mich beeilte, den anderen zu folgen.

      Als wir endlich unter uns waren, gesellte sich auch der Rest der Gruppe zu uns. Brian, Jess und Nara wünschten mir ebenfalls alles Gute, doch mein Blick fiel auf May. Sie war tatsächlich auch gekommen.

      May war ein schlankes Mädchen mit hüftlangen, blonden Haaren. Sie zog jeden Jungen an sich, der sich ihr auch nur näherte. Aber sie sah nun mal wirklich gut aus, das konnte selbst ich nicht leugnen. Dazu kam, dass außer Jess keiner sie so wirklich leiden konnte – Jungs ausgeschlossen –, deshalb wunderte es mich auch, dass sie gekommen war.

      „Hi, Nell“, trällerte sie, doch ihr Blick huschte gleich weiter zu Luan, der dicht hinter mir stand. „Bist du der Austauschschüler von den Blue Eyes?“, rief sie übertrieben und riss die Augen auf.

      Luan trat neben mich und lächelte sie breit an. „Freut mich, dich kennenzulernen.“ Er reichte ihr die Hand.

      Ich unterdrückte ein Augenrollen, als May ihre weißen Zähne zeigte und sich an ihn ranschmiss. „Ich liebe die Blue Eyes. Auch wenn unser Anführer diesen hirnrissigen Krieg gegen euch führt, weil er denkt, ihr seid böse.“

      Ich ballte die Hände zu Fäusten. Was war bei der denn für ein Schalter ausgefallen? Sie beleidigte gerade in aller Öffentlichkeit meinen Vater! Eine Hand legte sich auf meine Schulter, ich fuhr herum.

      Es war Liam. „Reg dich nicht auf. Sie wird sich nur freuen, wenn du jetzt auf sie losgehst“, murmelte er und seine grünen Augen funkelten verständnisvoll. Ich schloss die Augen und als ich sie wieder öffnete, hatte May Luan bereits mit sich gezogen und lief dicht neben ihm auf den Wald zu.

      Mit steifen Schritten folgte ich ihnen.

      Da ich heute Geburtstag hatte, durfte ich mir auch aussuchen, wo wir hingingen. Ich schlug den schmalen Pfad zur Waldlichtung ein, meinem Lieblingsort. Dort wuchs hohes Gras, man konnte die perfekten Sonnenuntergänge beobachten und es gab genug Platz, um mit Pfeil und Bogen zu üben. Da ich aus feinem Hause kam, wie es Mom immer nannte, gehörte es sich für mich eigentlich nicht, wie ein Junge zu schießen oder im Wald unterwegs zu sein. Ich ging auch nicht mit den anderen zur Schule, sondern wurde von Ozea im Schloss unterrichtet. Ich hasste es.

      Seit meinem zwölften Geburtstag durfte ich zum Glück Bogenschießen und hatte diese Sportart schnell für mich entdeckt. Seither verbrachte ich jede freie Minute beim Training im Wald.

      „Und, wie findest du es hier?“, fragte May engelsgleich und blickte mit großen Augen zu Luan auf. Er grinste schief. „Es ist wunderschön.“

      Ein warmes Gefühl breitete sich in mir aus, als er das sagte. Ihm gefiel dieser Ort genauso sehr wie mir.

      „Das ist mein absoluter Lieblingsplatz!“, schwärmte May und hüpfte auf die Lichtung zu. Ihre langen Haare wellten sich leicht und die Sonne glitt über ihren Kopf hinweg, als könne sie kaum genug von ihr bekommen.

      Ich presste die Lippen aufeinander. May verbrachte nie Zeit im Wald.

      „Jaaaa“, Liz dehnte das Wort bewusst lang und zog mich hinter sich her. „Wir haben uns ja noch gar nicht richtig vorgestellt. Also das ist Nell, wie du sicher schon mitbekommen hast. Sie ist die beste Bogenschützin in ihrer Altersklasse und total begabt darin, ihren Mittelpunkt aufzurufen“, meinte sie zu Luan.

      Ich errötete, als ich sah, wie sich seine Lippen erneut zu einem Lächeln formten. Es stimmte zwar, was sie sagte, ich war eine ziemlich gute Bogenschützin und den Mittelpunkt aufrufen konnte ich besser als die meisten. Das war das A und O des Trainings. Der Mittelpunkt war sozusagen die Quelle unserer Kräfte. Die Green Eyes hatten Efeu als Kennzeichen. Mit dieser Kraft konnten wir die verrücktesten Dinge anstellen. Aber es war mir mehr als unangenehm, dass Liz mich so hervorhob.

      „Und das sind Jess, Nara und Brian. Wir gehen alle in dieselbe Klasse“, stellte Liz weiter vor. „Nur Nell hat das Glück, im Schloss unterrichtet zu werden – privat.“ Das letzte Wort betonte sie besonders und sah Luan dabei mit großen Augen an.

      „Ich wüsste nicht, was das mit Glück zu tun hat“, stichelte May und schob sich neben den Blue Eye.

      „Ist doch egal“, schaltete sich Liam ein und stellte auch sich und seine Zwillingsschwester vor.

      „Und jetzt lasst uns endlich anfangen“, drängte Jess mit leuchtenden Augen. Bevor jemand etwas erwidern konnte, hob sie die Hände und richtete ihre Fingerspitzen auf einen der Bäume, der am Rand der Lichtung stand.

      Mit konzentriertem Blick hob sie langsam die Arme und aus den Wurzeln des Baums schoss Efeu. Es wuchs und wuchs, schlängelte sich den Stamm hinauf und verharrte, als Jess die Arme wieder sinken ließ.

      „Wow“, machte Luan und nickte anerkennend. Jess strahlte ihn an.

      „Aber ich kann noch viel mehr“, behauptete May und stellte sich vor Jess.

      Luan hob eine Braue. May lächelte süß. Dann drehte sie sich um und warf sich die langen Haare über die Schulter. Sie deutete mit dem Kinn auf eine kleine, blaue Blume, deren Blüten sie in voller Pracht präsentierte. May schloss langsam ihre Finger und richtete den Blick unverhohlen auf die kleine Blume. Die Blüten der Pflanze wackelten, dann knickte der Stiel ein. Das Blau wurde von einem modrigen Grau erstickt und schließlich löste sich die Blume in Staub auf. Mit einem arroganten Lächeln drehte sich May wieder zu uns.

      Luan hatte schweigend zugesehen. Dann streckte er die Hand aus und deutete auf ihr Werk. „Das war echt gut! Nein, es war hervorragend.“

      May kicherte und ihr Blick huschte über seine Schulter hinweg zu mir. Ohne, dass sie die Worte aussprach, konnte ich sie deuten.

      Tja, das war’s dann wohl für dich.

      2

      Nell

      Meine Lust auf diesen Tag schwand zusehends. Und als sich May auch noch bei Luan einhakte, wurde es mir endgültig zu viel.

      „Ich geh wieder zurück“, flüsterte ich Liam ins Ohr, als Nara gerade versuchte, einen Schmetterling auf einer von ihr erschaffenen Efeupflanze landen zu lassen.

      Er drehte sich zu mir um und seine Stirn lag in Falten. „Ich komme mit.“

      Ich winkte ab. „Lass dir von mir nicht den Tag verderben.“

      Er umfasste meine Handgelenke und beugte sich vor. „Hast du eigentlich vergessen, dass das dein Geburtstag ist und nicht Mays?“

      Ich spürte seinen Atem an meiner Wange und schloss die Augen.

      „Aber alle sehen sie an“, brach es plötzlich aus mir heraus. Liam gegenüber hatte ich mich immer geöffnet. Bei ihm waren selbst die verworrensten Geheimnisse in Sicherheit. „Sie ist der Mittelpunkt – sie war es schon immer. Ich bin nicht mal ihr Schatten. Alle sehen …“

      „Schhh“, machte Liam und zog mich an sich. Ich spürte sein Herz unter meiner Wange schlagen und entspannte mich etwas.

      „Es stimmt, alle sehen sie an, aber nur, weil sie sich in den Vordergrund schiebt. Und das tut sie, weil sie gegen dich sonst keine Chance hätte. Du hast nämlich einen gewaltigen Vorteil ihr gegenüber und dafür beneidet sie dich sogar im Schlaf“, redete er leise auf mich ein.

      Ich schnaubte in seine Brust hinein. „Und welcher sollte das sein?“

      Ich spürte seine Lippen, die sich neben meinem Ohr zu einem Grinsen formten. „Du bist die Tochter des Anführers unseres Volkes. Du bist Nell Ivy. Du bist nicht nur unter den Green Eyes, sondern auch unter allen anderen Völkern bekannt. Und das macht sie so wütend.“

      Ich biss mir auf die Lippe und löste mich von ihm. „Und was soll mir das nützen?“, fragte ich skeptisch.

      Er legte den Kopf schief. „Du musst diesen Vorteil nutzen. Versuche deine Eltern davon zu überzeugen, dass du mit uns in die Ausbildung gehst.