Название | Bella mia |
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Автор произведения | Donatella Di Pietrantonio |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783956141072 |
Olivia war bereit für die Begegnung mit Marco. Auch daran erinnere ich mich nicht, oder vielleicht bin ich hinausgegangen.
In letzter Minute habe ich ihr eine Strähne abgeschnitten, hinten im Nacken, sonst hätte sie mir nie verziehen. Ich habe sie eingesteckt und bewahre sie in einem Schächtelchen aus geblümtem Papier auf, das ich ab und zu öffne, um nachzusehen, ob wenigstens diese Locke die Zeit, die sie von ihr trennt, unverändert überdauern kann. Die einzige erkennbare Veränderung ist bisher, dass die Haare ein wenig spröder und stumpfer wirken; wenn man sie mit Daumen und Zeigefinger befühlt, merkt man den Unterschied sofort. Sie sind nicht ans Leben angeschlossen.
Ich trete hinaus in dieses eherne Licht des frühen Morgens. Den restlichen Cognac werfe ich in die Mülltonne, nicke dem Mann in der Bar zu, der mir nach einem prüfenden Blick einen starken Espresso vorschlägt. Er serviert ihn in einem dieser dickwandigen Tässchen, die ich mir auch für zu Hause gekauft hatte, das Erdbeben hat sie fast alle zertrümmert. Daneben legt er drei kleine Hefeteilchen, die ich brav aufesse. Ich zahle und verabschiede mich mit einer Handbewegung; an der Tür wird mir klar, dass ich kein einziges Wort gesprochen habe. Ich gehe Richtung Stazione Tiburtina.
An einem Stand, der gerade am Bürgersteig aufgebaut wird, halte ich inne, in den Kartons liegen alte Comics. Der Mann hat einen Packen mit Dylan-Dog-Bänden geöffnet und legt sie in die erste Reihe. Spontan rufe ich Marco an, der um diese Zeit wahrscheinlich seine Milch trinkt. Auf meine Frage zählt er mir verblüfft die Nummern auf, die ihm fehlen, und ja, der Großmutter geht es gut, wir beenden das Gespräch rasch, er ist schon etwas spät dran. Drei davon finde ich, so ein Glück, und in der Tasche wiegen sie weniger als der Cognac. Jetzt muss ich mich beeilen, die Beine bestehen die Prüfung.
Auf dem Rückweg ist der Bus halb leer, ich sitze sehr weit hinten am Fenster, doch das schützt mich nicht vor der Bekannten, die einsteigt und beschließt, sich neben mich zu setzen. Sie fängt an zu reden, fragt nach meinem bandagierten Finger und erzählt, wann sie in die Hauptstadt gekommen ist und wozu und wie. Nach einer kurzen Pause will sie das Gleiche von mir wissen. Ich antworte nicht sofort, blicke hinaus auf die vorbeiziehende römische Campagna, dann bitte ich um Verzeihung, ich muss mich weiter nach vorn setzen, die übliche Autoübelkeit. Selbstverständlich, selbstverständlich, und sie hat nicht den Mut, mir zu folgen.
Der Fahrer verlangsamt, um in L’Aquila West abzufahren, an der Mautstelle wabert der leichte Nebel einer unfruchtbaren Jahreszeit. Die Stadt bietet den Heimkehrenden keine Sehenswürdigkeiten, sie nimmt uns wieder auf und fertig; es schnürt mir die Kehle zu, dass sie mich mit kreuz und quer verlaufenden Rissen an den Häuserfassaden, fehlenden Stockwerken, um ihre eigene Achse gedrehten Pfeilern empfängt. Freiwillig kehre ich an den Ort zurück, der meine Schwester ermordet hat.
8
Marco kommt mürrisch nach Hause, wirft seinen Rucksack hinter die Tür und geht ins Bad, wobei die Hosenbeine seiner Jeans aneinanderreiben. Er war zum Mittagessen und Lernen bei einem Freund, der Großmutter hatte er Bescheid gesagt. Als er dann ins Wohnzimmer tritt, wirft er aus Versehen mit dem Ellbogen meine Handtasche herunter, die auf einem Schränkchen steht. Mit spitzen Fingern, wie einen Wurm, hebt er sie auf und stellt sie wieder hin. Jedes Mal, wenn er mit den Armen, den Beinen oder einer Kante seines Körpers die imaginäre Blase durchstößt, die ich um ihn gezogen habe, passiert ihm ein Missgeschick. Er ist so schnell gewachsen, ist noch nicht an seine Länge gewöhnt, muss noch die Maße verinnerlichen, um nicht in der Welt anzuecken. Ich gebe ihm die in Rom gekauften Comics; nervös nimmt er sie an sich und legt sie irgendwohin, ohne sie überhaupt anzuschauen. Merkwürdig, als ich ihn heute Morgen am Telefon nach den fehlenden Nummern gefragt habe, schien er sich zu freuen. Doch was konnte ich anderes erwarten, nach gestern? Auch an diesem Geburtstag habe ich ihn wieder allein gelassen.
Nun sitzt er mir bei Tisch wie gewohnt gegenüber. Meine Mutter hat schon vorher gegessen und ist zu einer Messe für das Seelenheil der Erdbebenopfer gegangen. Sie versucht gar nicht erst, uns zu fragen, ob wir mitgehen. Also habe ich ihn direkt vor mir, mit abgewandtem Blick, den Kopf über den bunten Teller gesenkt. Aus seiner Ferne wirft er mir eine Frage zu.
»Warum hat das Erdbeben manche Stadtteile zerstört und andere fast unversehrt gelassen?«
»Wie meinst du das?«, erwidere ich ausweichend, erschreckt über seine Direktheit. Dieses Thema hatte er noch nie angeschnitten.
»Ich meine, dass in der Via xx Settembre die Häuser eingestürzt sind und dabei alle diese Studenten umgekommen sind. Auch noch andere, wie Mamas Zahnarzt. In der Via Strinella, die die Fortsetzung ist, hat es nur ganz wenige Schäden gegeben. Dort wohnt Rash, mein Klassenkamerad.«
»Es hängt davon ab, wie gebaut wurde, von den verwendeten Materialien. Sie haben minderwertigen Stahlbeton genommen, mit wenigen, glatten, zu dünnen Eisenstreben. Und man kann die Verantwortlichen nicht einmal mehr verklagen, denn die sind inzwischen an Altersschwäche gestorben. Außerdem hat eine geologische Untersuchung ergeben, dass sich in der Via XX Settembre Abraum unter den Gebäuden befindet, ein besonders ungeeigneter Untergrund«, erkläre ich und trockne mir mit der Serviette die Hände ab, die sofort schweißnass geworden sind.
»Was bedeutet das?«
»Dass Erde aus der Umgebung hier abgeladen worden war, als man dort Gruben für die Fundamente von Neubauten ausgehoben hat. Logisch, dass so ein Boden bei einem Erdbeben keinen fünf- bist sechsstöckigen Wohnblock aushält.«
»Und in der Altstadt?«, bohrt er nach.
»Viele Häuser haben nicht standgehalten. Früher waren die Renovierungen nicht erdbebensicher«, erkläre ich weiter, während ich das liegen gebliebene Fleisch betrachte, das auf meinem Teller kalt und hart wird.
»Warum ist unser Haus eingestürzt?« Der Ton wird schärfer, und ein paar Speichelspritzer treffen mein Gesicht.
»Ich weiß es nicht. Deine Mutter und ich haben einem erfahrenen Ingenieur vertraut, der nach den ersten Stößen zur Inspektion vorbeikam, sowohl bei euch wie bei mir. Auch im Dorf bei der Großmutter. Er hat uns garantiert, dass wir in Sicherheit seien.« Unbehaglich rutsche ich auf dem Stuhl hin und her.
»Wer ist dieser Arsch?«, schreit er, und seine seit kurzem erwachsene Stimme kippt in ein lächerliches Falsett.
»Beruhige dich. Das ist doch jetzt egal, ich wüsste überhaupt nicht, wo ich ihn suchen sollte …«, antworte ich, ohne auf seine spuckende Wut einzugehen.
»Ach ja, egal?! Auch bei Rash hatten sie kontrolliert und gesagt, es bestünde keine Gefahr, aber dort ist das Haus nicht eingestürzt! Vielleicht haben sich seine Eltern nicht an dasselbe Genie gewandt wie ihr!«, keucht er anklagend.
»Warum legst du dich mit uns an? Es gab keinen Einzigen, der dieses Erdbeben vorhersehen konnte! Marco, die Experten der Risiko-Kommission hatten die gesamte Bevölkerung beruhigt, und dafür sind sie jetzt verurteilt worden. Niemand von uns konnte sich vorstellen …« Und ich breite hilflos die Arme aus.
»Na klar, natürlich nicht! Und jetzt weiß auch niemand was. Von allen diesen Scheißkerlen, die was von Abraum faseln, weiß keiner, warum ein Haus eingestürzt ist und das andere nicht!« Er zappelt unter dem Tisch, und wir stoßen mit den Füßen zusammen, ein leichtes Zittern überläuft seine trockene, blutleere Unterlippe. Ich brauche nicht viel Einfühlungsvermögen, um zu begreifen, dass er seinen Freund Fabio, genannt Rash, nicht um die heile Wohnung beneidet, sondern um seine Mutter, die noch am Leben ist.
Er hat den Haarvorhang wieder fallen lassen, doch bald hebt er den Blick vom Salat, den er seit zehn Minuten auf dem Teller hin und her schiebt, und sagt brüsk: »Du sollst morgen in die Schule kommen.«
Die Klassenlehrerin fordert mich auf, ihr ins multimediale Klassenzimmer zu folgen. Ich gehe im Rhythmus ihrer klappernden Absätze, gehüllt in ihr zu starkes Parfüm. Sie zeigt mir die zwei von Marco geknackten Computer, sie sehen aus wie ganz, lassen sich aber nicht mehr anschalten, er hatte