Bella mia. Donatella Di Pietrantonio

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Название Bella mia
Автор произведения Donatella Di Pietrantonio
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783956141072



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zum Herzen. Ich trete an das große Fenster, das auf die Felder hinausgeht. Im Vorübergehen streichle ich den runden Mahagonitisch, der in meinem Wohnzimmer stand. Olivia und ich hatten ihn vor Jahren auf einer Antiquitätenmesse erworben, es sei ein englisches Stück aus dem 19. Jahrhundert, ein echtes Schnäppchen, hatte uns der Verkäufer versichert. Nach dem Erdbeben habe ich ihn gesäubert und vorerst auf seinen Messingrollen hier abgestellt. Ich weiß nicht, ob ich mir früher oder später wieder eine Wohnung um diesen Holztisch schaffen werde, der sich so angenehm anfühlt durch die ausgelöschten Spuren der anderen, die ihn vorher besessen haben.

      Von draußen kommt auch an diesen kurzen Wintertagen immer viel Licht herein. Häufig genügt mir zum Malen der Sonnenschein, der durch die Fenster fällt. Und ich friere nie, der alte gusseiserne Ofen heizt den ganzen Raum, der Besitzer hatte recht. Gegen eine geringe Miete hat er mir das Erdgeschoss seiner Villa überlassen, dazu Berge von Brennholz und einen verrotteten Tisch an der Außenmauer, damit ich in der warmen Jahreszeit im Freien arbeiten kann. Es muss sich um eine Erbschaft handeln, aber ich weiß nichts darüber, ich werde mal die Briefträgerin fragen. Er lebt in Bologna und kommt einmal im Monat übers Wochenende, außerdem vierzehn Tage zu Weihnachten und den ganzen August. Innerlich nenne ich ihn den Professor; ich weiß, dass er an der Universität lehrt. Beim letzten Besuch vor den Feiertagen kauft er einen großen Karton voller Sachen von mir zum Verschenken, er wirkte ehrlich oder will mir einfach helfen.

      Olivia würde dieser Ort hier gefallen, seltsam, dass er uns auf unseren endlosen Autofahrten entgangen ist. Jetzt würde sie mit dem Rücken zum Fenster sitzen und mir beim Malen zusehen. Wenn ich daran denke, fängt die Farbe an zu spinnen. Sie wird zäh und weigert sich eigensinnig zu fließen, oder aber sie wird zu flüssig und tropft auf die getrocknete Glasur. Der Pinsel stolpert über die mikroskopischen Unebenheiten der geschrühten Keramik.

      Ich bin auf einer Insel gestrandet, die unversehrt geblieben ist, keine Bruchlinie führt hier vorbei, und außerdem war die Villa schon länger restauriert. Doch am Hang gegenüber kann man ein Dörfchen sehen, das durch eine Laune des Erdbebens zerstört wurde, und in der anderen Richtung, ganz unten dieser undeutliche Fleck, das ist L’Aquila. Von hier aus gesehen, könnte sie noch immer die sagenhafte Stadt der neunundneunzig Kirchen und neunundneunzig Brunnen sein. Ich könnte mich für heute Abend mit jemandem an der Fontana Luminosa verabreden und nach einem Film im Rex noch bis spät in die Nacht in einem Bierkeller in der Altstadt sitzen. Am nächsten Morgen würden mich um sieben die Glocken von San Pietro wecken, und ich könnte zu Fuß zur Arbeit gehen, quer durch die gewohnten Gassen.

      5

      Marco kam eines Nachmittags, als es in Strömen regnete.

      Wir holten ihn am Parkplatz unter unserem Block zwischen den Erdbebenisolatoren ab. Er ließ die vier Wangenküsschen über sich ergehen, lud die Reisetaschen aus, stellte sie auf die Betonfläche und entfernte sich dann ein paar Meter. Roberto, der Exmann meiner Schwester, stieg mit der Langsamkeit eines alten Mannes aus dem Auto und wollte nach einem Gruß mit niedergeschlagenen Augen sofort wieder die Frage der Unterhaltszahlung anschneiden, als wäre die von seiner verstorbenen Frau auf uns übertragbar. Ich bekräftigte noch einmal unsere schon mehrfach am Telefon geäußerte Ablehnung. Wenn du meinst, tu das Geld auf die Bank für deinen Sohn, sagte meine Mutter herablassend, so kalt wie noch nie. Ich unterhielt mich kurz mit ihm über Marcos neue Schule, über die problemlos gefundenen Bücher, zum Glück war erst Oktober, der nach dem Erdbeben.

      Der Junge achtete nicht auf unser schleppendes Gespräch, er hatte sich sofort die an irgendein Gerät angeschlossenen Ohrstöpsel reingeschoben. Ein bisschen krächzende Musik drang bis zu uns, als unter uns Erwachsenen Stille eingetreten war. Nach einem imaginären Fußball tretend ging er hin und her, ab und zu quietschten seine nicht zugebundenen Schuhe auf dem Zement.

      In Rom bei seinem Vater hatte er es kaum sechs Monate ausgehalten, das restliche Frühjahr nach dem Erdbeben und den stumpfen Sommer über, und sich hinter einer undurchdringlichen Stummheit verschanzt. Seine Großmutter und ich hatten ihn in jener ersten Trauerzeit häufig gesehen und angerufen, doch er war auch mit uns nicht sehr gesprächig. Mein Schwager dagegen rief oft an, um sich über Marcos Untaten zu beklagen. Wenn es ihm nicht gelang, bemitleidet zu werden, nannte er ihn in pathetischem Ton dein Neffe. Mein Neffe hatte seiner jungen Geigerin, derentwegen er sich von Olivia getrennt hatte, die Autoreifen zerstochen.

      »Dabei war sie so rücksichtsvoll«, tönte Roberto schamlos, »sie ist noch vor Marcos Ankunft in ein anderes Stadtviertel gezogen, damit wir unter uns sein können.« Durch sein nutzloses Warten auf meine Antworten entstanden im Gespräch immer wieder peinliche Pausen.

      »Ab und zu kommt sie und kocht uns etwas Leckeres, aber Marco setzt sich nicht mal mit an den Tisch …«, ging das elende Gejammer weiter. Marco ernährte sich lieber von Crackern oder von Luft. Bei einem dieser Besuche war er hinuntergegangen und hatte die Operation Aufgeschlitzte Reifen durchgeführt.

      »Mit einem Küchenmesser, stell dir mal vor«, wunderte sich Roberto noch immer.

      Bei der Gelegenheit hatte ich meine ganze Sympathie für den jungen Saboteur verraten: »Wieso, was hätte er denn sonst nehmen sollen? Ein Skalpell?«

      Enttäuscht von meinen kargen sporadischen Kommentaren, erzählte er dann ein paar dramatischere Episoden, um wenigstens ein bisschen Empörung auszulösen.

      »Er muss unsere SMS gelesen haben … Er hat ihr von meinem Handy aus unanständiges Zeug geantwortet, so weit ist es schon gekommen. Und er traut sich sogar, es zu leugnen, sagt, dass er es nicht war. Oder vielmehr, er sagt gar nichts, schüttelt nur den Kopf.«

      Marco weigerte sich stur, mit seinem Vater zu sprechen. Mittlerweile war er in Anbetracht des erlittenen Traumas von der zweiten in die dritte Klasse Mittelschule versetzt worden.

      Als seine Großmutter und ich zum letzten Mal mit ihm telefoniert hatten, schien er aufzuhorchen bei der Nachricht unseres Umzugs in eine der Wohnungen des Projekts C.A.S.E. im Ortsteil Coppito 3. Am selben Abend wandte er sich unvermittelt an seinen Vater, aber nur, um ihm mitzuteilen, dass er zu uns ziehen würde, wenn wir ein Zimmer für ihn hätten. Roberto brauchte nur wenige Tage Bedenkzeit, um sich zu überzeugen, dass das die beste Lösung war. Zwanghaft wiederholte er es jedes Mal bei den häufigen Telefongesprächen jener Woche. Für ihn und für alle, für ihn und für alle, murmelte er hektisch, statt zu sagen, für mich, was die unangenehme Wahrheit gewesen wäre.

      Während wir immer noch auf dem Parkplatz standen, kam ein Wind auf und wehte den Regen schräg bis auf die Motorhauben der Autos, die in der vordersten Reihe parkten. Ein Typ aus dem ersten Stock fuhr mit seinem Lieferwagen herein, der meterlange nasse Spuren hinterließ. Es wurde allmählich kalt da unter dem Block, und wir schwiegen seit ungefähr zwei Minuten, die uns in unserer quälenden Befangenheit ewig vorkamen. Alle drei blickten wir auf Marco, in ständiger Bewegung und zu dünn angezogen für ein so rauhes Klima. In einem letzten Versuch, seinen Sohn vor der Trennung noch einmal zu erreichen, ergriff Roberto diesen Vorwand.

      »Kannst du nicht ein Sweatshirt überziehen?«, fragte er ihn laut, aber schon resigniert, und Marco hielt kurz inne, fixierte ihn und verzog leicht angeekelt den Mund. Dann trug er sein Gepäck noch ein paar Meter weiter von dem Auto weg, das ihn hergebracht hatte, als wollte er die überfällige Abfahrt beschleunigen, und schlenderte weiter in seinem Nirvana-Hemd in der feuchten Kälte herum.

      Ich verschränkte fröstelnd die Arme, da begriff Roberto.

      »Es wird spät, ich habe heute Abend ein Konzert in Rom«, flüsterte er. Er wirkte sehr schwach. Es gab keinen Grund, ihn hinaufzubitten.

      Um sich nicht von seinem Vater verabschieden zu müssen, tat Marco so, als gelte seine ganze Aufmerksamkeit plötzlich einem Hund, der auf der Suche nach der richtigen Karosserie zum Pinkeln herumschwänzelte. Meine Mutter und ich sahen zu, wie er davonfuhr, der gebeugt in seinem leeren Auto sitzende Musiker. Der Junge kam erst näher, als das Motorengeräusch Richtung Staatsstraße verklungen war. Dann stiegen wir im Gänsemarsch mit den Taschen die Treppe hinauf, er stampfte auf jeder Stufe. Ich schloss ihm die Tür auf, und er betrat die Wohnung mit angehaltenem Atem, nach einigen Sekunden lief er sogar rot an. Instinktiv ging ich zum Balkon,