Название | Bella mia |
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Автор произведения | Donatella Di Pietrantonio |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783956141072 |
Der Tag draußen ist so klar, dass es schmerzt. Vom Hang des Monte Sirente fegt der Wind herunter und schlüpft in die vor ihm liegenden Gassen wie Finger in einen Handschuh. Er riecht nach Schnee und nach Harz, das an den Stämmen getrocknet ist. Ich muss meine Augen abschirmen, um das von blauen Stützbandagen zusammengehaltene Haus gegenüber zu betrachten. Aus der offen stehenden Balkontür im ersten Stock flattert träge der schmutzig-weiße Vorhang heraus, tanzt eine Runde und verschwindet, dann erscheint er wieder, je nach Laune der Luft, die ihn bewegt. Von dort duftete es nachmittags nach den Kräutertees von Signora Leda. Sie war sympathisch und litt an Arthrose, allerdings ein wenig geschwätzig. Wenn ihre Beine es erlaubten, kam sie herunter und überquerte mit einer vollen, auf dem Tellerchen zitternden Tasse die Straße, andernfalls rief sie durchs Fenster, um mich nach oben einzuladen. Ich stieg in die warme, dampfige Küche hinauf, und sie zählte mir gern die stets verschiedenen Namen der Mischungen auf, aus denen sie ihre Tees braute: Kaminfeuer, Wintergarten, Zauberwald. Wenn ich keine Lust hatte, ihr zuzuhören, schützte ich eine heikle Arbeitsphase vor und blieb unten. Für sie habe ich eine Teekanne bemalt mit den Früchten und Blüten der Zutaten und ihren Initialen L B über den Heidelbeeren. Auch die wird zerbrochen sein.
Ich denke fast nie an Leda. Doch jetzt reiße ich das Unkraut aus, das ungestört vor ihrer Tür in den Ritzen zwischen den Pflastersteinen wuchert. Es hat schon seine Samen ausgestreut, der Winter hat es verdorren lassen, aber es leistet zähen Widerstand und schneidet mir in die Handflächen. Zu spät bemerke ich dabei das Motorengeräusch, das unten auf der Via Cascina näher kommt. Ich habe keine Zeit, mich zu verstecken, halte mir die Ohren zu und warte. Es dauert nur einen Augenblick, der Panzerwagen der Armee fährt schnell vorbei; flüchtig sehe ich die zwei Soldaten im Tarnanzug, sie reden und lachen, schauen nicht in meine Querstraße hinein.
Zurück bleibt ein Zittern und Schaudern, dann verhallt der Lärm in der Ferne, und über das Viertel legt sich wieder eine tödliche Stille. Auf dem Rückweg zum Parkplatz mache ich einen weiten Bogen um die Via del Drago, erfinde ich einen langen, gewundenen Umweg. Zum Verlassen der Roten Zone wähle ich einen Durchgang, der als sicher gilt, wo die Patrouillen nie vorbeikommen. In der Scheibe meines wartenden Autos spiegeln sich die schmutzigen Rückseiten aller Mauern, an denen ich entlanggeschlichen bin.
4
Am Anfang waren wir zwei dunkle Zellklümpchen, die unsere Eltern noch für eines hielten. Wir wuchsen heran im sanften mütterlichen Ozean, der rund um uns ganz langsam weniger wurde. Im neunten Monat schob sich der Fötus Olivia eines Tages mit der raumgreifenden, ruhigen Bewegung eines kleinen Körpers, der sich im Schlaf herumdreht, nach vorne, direkt unter die elastische Bauchdecke. Dort drang eine Ahnung von Sonnenlicht herein und undeutlich, gedämpft, der Klang der Welt. In jenem Bereich konnte man sich noch ausdehnen, den Umfang der unvollkommenen Kugel und die Spannung der mütterlichen Haut erhöhen. Das hat Olivia getan. Ich war dahinter in meiner Hülle zwischen ihr und den harten Knochenringen der Wirbelsäule eingezwängt. Ich habe die verbleibende Zeit in der Enge, im Dunkeln, in der Stille verbracht. Meine Schwester fing äußere Schwingungen und Einflüsse auf und behielt sie für sich. Sie genoss die kreisenden Liebkosungen der gewölbten Hände, die Rundung, hinter der sie lag, war den Blicken ausgesetzt. Ich konnte mich nur über die Nabelschnur und das Blut versorgen.
So malte ich mir, als ich ungefähr acht Jahre alt war, unser Leben in der Gebärmutter aus. Ich war überzeugt, einen Urnachteil erlitten zu haben, der alle meine Schwächen rechtfertigte. Daheim wollte ich immer wieder die Geschichte unserer Geburt hören, wie viel Gramm und wie viele Zentimeter mehr ihr zugefallen waren, von ihrem helmförmigen dichten Haarschopf und den Extra-Mahlzeiten, die sie unserer Mutter durch ihr unerträgliches Wimmern abtrotzte. War mein geringer Hunger gestillt, kam ich wieder in die Wiege, und sie wurde erneut am Busen angelegt für diese zusätzliche Ration Milch, die ich mir dicker, gehaltvoller, auch gelber vorstellte. Als Kinder trugen wir die gleichen Kleider in verschiedenen Größen, meine immer eine Nummer kleiner. Oft nannten sie uns Olivia und ihre Zwillingsschwester oder, noch schlimmer, Olivia und die andere.
»Du heißt nach einer Königin, das schüchtert die Leute ein bisschen ein, deswegen sagen sie nie deinen Namen«, tröstete mich unsere Mutter, wenn ich sie nach dem Grund fragte.
In der fünften Klasse Grundschule sah ich, wie ein Gassenjunge aus dem Dorf mich, als ich vorbeiging, seiner Bande zeigte, etwas sagte und alle losprusteten. Sie gingen schon auf die Mittelschule. Meine Schwester beobachtete sie finster und stumm. Als wir eines Nachmittags lässig aus dem Kommunionsunterricht kamen, saß er auf einer Gartenmauer an unserer Straße. Er musterte uns schon von weitem, Olivia ging in der ungewöhnlichen Junischwüle einige Schritte vor mir. Zu ihr hat er nichts gesagt, doch als ich auf der Höhe seiner baumelnden Beine ankam, trällerte er dreimal: Da ist ja die miese Kopie, und streckte den Fuß aus, bis er mich anstieß. Olivia drehte sich um, musterte ihn von unten, bevor sie ihn am Hosensaum herunterzerrte und auf den Boden warf. Wie versteinert, den Kopf zwischen den Händen, sah ich bewundernd zu, während sie ihn verprügelte wie ein Junge, ohne ihn zu kratzen oder an den Haaren zu ziehen. Mit Fäusten schlug sie zu und bekam durch den Überraschungseffekt selbst wenig ab. Schließlich richtete sie sich auf, ließ ihn geifernd im Staub liegen und versetzte ihm einen letzten Tritt in den Hintern. Sie sammelte auch unsere auf den Steinen verstreuten Katechismusbüchlein ein, ich weiß nicht, wie sie mir heruntergefallen waren. Dann, auf dem Heimweg, strich sie mir mit ihrer vom Raufen schmutzigen Hand sanft über die Wange. Als Entschuldigung für die zu meiner Verteidigung eingesetzte Gewalt und als Versprechen, mich lebenslang zu beschützen, auch vor ihrer eigenen Überlegenheit.
Später tat unsere Mutter so, als machte sie ihr Vorwürfe; gewisse Dinge, mahnte sie, müssten ihr oder Papa mitgeteilt und nicht mit Fäusten geregelt werden.
»Schließlich seid ihr nicht allein auf der Welt«, setzte sie noch hinzu. Schonend betupfte sie Olivias Wunden mit einem Desinfektionsmittel und versicherte sich ab und zu, dass ich noch hinter ihr stand, um ihr sauberen Verbandsmull zu reichen. Wie immer sorgte sie sich mehr um mich als um Olivia und die Schwellungen in deren Gesicht.
Am nächsten Tag sollten in der Schule die Klassenfotos gemacht werden, aber man konnte sich auch einzeln ablichten lassen. Der Fotograf zögerte kurz, als Olivia sich selbstbewusst in die Bank vor der Tafel setzte, auf der »Es lebe die 5b« stand.
»Du willst auch ein Einzelbild?«, fragte er mit einem Blick auf ihre blauen Flecken.
»Eins allein und eins mit meiner Schwester«, erwiderte sie und fuhr sich durch die Haare. Bevor sie zum Stift griff, um sich in Schreibhaltung in Positur zu setzen, zog sie aus der Schützentasche eine wer weiß wo ergatterte Sonnenbrille, mit der sie ihr blaues Auge und das angeschlagene Lächeln kaschierte. Im Objektiv eine zehnjährige Diva, heldenhaft und draufgängerisch.
Die Episode mit der Schlägerei erwies sich bei späterer Betrachtung als treuer Spiegel der ungleichen Beziehung zwischen uns Zwillingsschwestern. Aus Angst, uns zu verlieren, sind wir nie aus diesem Rahmen herausgetreten. Und in meinem inneren Album ist das Foto ihres kämpferischen Gesichts aus der fünften Grundschulklasse im Lauf der Jahre auf den ersten Platz vorgerückt und hat andere Momentaufnahmen unseres gemeinsamen Lebens in den Schatten gestellt.
Später, als die Gesichter ausgeprägter wurden, ließen winzige Details eine von uns heiter und gewinnend erscheinen, und mich gewöhnlicher. Einige Millimeter Unterschied im Augenabstand genügten, ein etwas wärmerer Hautton, am Mund eine leichte Betonung des Amorbogens. Beim Malen erfahre ich jeden Tag, wie wenig es braucht.
Auf dem Gymnasium gingen wir in verschiedene, aber nebeneinandergelegene Klassen, doch ab der Hälfte des Vormittags durchdrang ihre Gegenwart die Wand, und ich spürte, wie sie sich, für die anderen unsichtbar, in meinem Klassenzimmer ausbreitete. So breitet sich jetzt, während ich arbeite, ab der Hälfte