Название | Natürlich waschen! |
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Автор произведения | James Hamblin |
Жанр | Сделай Сам |
Серия | |
Издательство | Сделай Сам |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783956144783 |
Die neunundachtzigjährige Claire aus Ontario schrieb mir, sie und ihr Mann (der mit sechsundneunzig starb) hätten nie geduscht. Das hielten sie einfach für gesund, und als Beweis schickte sie ein Foto mit, auf dem sie jünger wirkt, als sie ist. Mit weißer Schirmmütze und Shorts winkt sie in die Kamera: »Alle sind erstaunt, wie außergewöhnlich gesund ich bin. Vielleicht liegt es daran, dass ich Sport treibe und mich SEHR bedacht ernähre«, schrieb sie. »Gestern habe ich zweimal den Schnee von der Auffahrt geschippt und mich kein bisschen müde gefühlt.«
Ich antwortete ihr und fragte, wie sie auf die Idee gekommen seien, nicht zu duschen. »Tja, warum waschen wir uns überhaupt so oft?«, fragte sie zurück. »Wir haben doch eine wunderbare Haut, die sich beständig schuppt und selbst reinigt, durch Seife wird sie nur entfettet.« Das sei Teil einer Lebensphilosophie, die ja neuerdings sogar populär geworden sei. Sie empfahl mir, »wie ein Höhlenmensch« zu essen.
Ja, Claire war eine der ersten Verfechter*innen der Steinzeiternährung. Ihre »Höhlenmensch«-Vorstellung tauchte auch in vielen anderen Zuschriften auf, die ich erhielt. Das moderne Leben sei die Ursache der vielen chronischen Erkrankungen; wenn wir uns nur wie in der Steinzeit, also im Wesentlichen von Rindfleisch und Butter ernährten und auf Agrartechnologie verzichten würden, dann wäre alles gut. Nur leider wurden die Menschen in der Steinzeit längst nicht so alt wie heute. Und Kühe gab es auch nicht.
Aber unbestritten hatte die Steinzeit auch ihre Vorteile. Damals lebten die Menschen in derart dünn besiedelten Landschaften, kleinen Dörfern oder Höhlen, dass sie Flüsse und Bäche bedenkenlos als Toilette nutzen konnten. Sie konnten jagen und sammeln, ohne die Ressourcen aufzubrauchen. Die Menschen waren Sonne, Hitze und Kälte ausgesetzt und kamen mit der Erde und mit nach unseren heutigen Vorstellungen »unsauberen« Tieren und Menschen unmittelbar in Berührung.
Wenn man die Menschheitsgeschichte betrachtet, war diese Lebensweise eigentlich bis eben noch möglich. Noch um 1600 hatte London nur ungefähr 200.000 Einwohner. Im Zweiten Weltkrieg waren es dann schon 8,6 Millionen. Auch in New York City leben heute etwa so viele Menschen. Die Innenraumflächen von Manhattan sind insgesamt mittlerweile dreimal so groß wie die Insel selbst.
In diesen vertikal in den Himmel wachsenden Siedlungen werden, in einem radikalen Versuch am lebenden Objekt, Menschen und Ressourcen immer mehr verdichtet. Die weltweite durchschnittliche Lebenserwartung beträgt heute um die zweiundsiebzig Jahre. Und alle auf dieser Erde brauchen regelmäßig Strom, Transportmittel und Produkte aus der industrialisierten Landwirtschaft. Dazu holzen wir Bäume ab und verbrennen fossile Kraftstoffe, die Smog und Rußpartikel in die Luft entlassen. Diese gelangen tief in unsere Lunge und sind eine der häufigsten Ursachen für Krebs und Herzerkrankungen. Die Weltgesundheitsorganisation schätzt die Zahl der Todesfälle durch Luftverschmutzung auf jährlich sieben Millionen.
In der Steinzeit gab es auch darum selten chronische Krankheiten, weil viele Menschen früh an Infektionen und Unfällen starben. In den vergangenen zweihundert Jahren ist die Wahrscheinlichkeit, an einer Infektionskrankheit zu sterben, rapide gesunken, die, an einer chronischen Erkrankung zu sterben, dagegen erheblich gestiegen. Letztere werden weltweit schon bald für drei von vier Todesfällen verantwortlich sein.
Trotz aller modernen Medizin und Technologie führt die heutige Lebensweise zu Krankheiten, die früher viel seltener waren. Autoimmunkrankheiten, Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen nehmen einerseits zu, weil wir heute länger leben als die Generationen vor uns. Andererseits leiden aber auch viele Jüngere an chronischen Erkrankungen, es besteht also wohl ein Zusammenhang mit unserer Lebensweise und unserer Umwelt.
In den letzten Jahren rückten unsere Ernährung und unser Bewegungsmangel als mögliche Faktoren für chronische Erkrankungen in den Fokus. Anderen Faktoren widmen wir hingegen erheblich weniger Aufmerksamkeit. Etwa dass der Mensch in vielen Weltregionen sein Leben überwiegend in klimatisierten Räumen verbringt, wo es keinen Dreck und kaum Tiere und Pflanzen gibt, wo die Fenster nur an strahlenden Tagen geöffnet werden. Die meisten Menschen kommen mit vielem, was früher einmal normal war, nicht mehr in Berührung.
Manchmal muss man sich auch abschotten. So sollten die Menschen 2019 im smogverhangenen Delhi tagelang nicht ins Freie gehen und körperlich anstrengende Tätigkeiten vermeiden. Solche Umweltereignisse oder auch Infektionskrankheiten, bei denen man sich abschotten muss, werden in Zukunft noch häufiger sein und in zunehmend mehr Regionen auftreten.
Bislang verstehen wir erst in Ansätzen, welche Folgen es für unser Immunsystem und unser wichtigstes Immunorgan, die Haut, hat, wenn wir, gezwungenermaßen oder freiwillig, in von der Außenwelt abgeschotteten Räumen leben. Die längste Zeit der Menschheitsgeschichte lernte unser Immunsystem durch beständigen Mikrobenbeschuss, wann und wie es reagieren muss. Doch heute ist es durch die evolutionär völlig neuen Umwelteinflüsse häufig verwirrt und weiß nicht mehr, wogegen es sich mit einem Hautausschlag wehren soll und wogegen nicht. Dies wird auch dadurch gefördert, dass wir uns gründlich, täglich oder sogar mehrmals täglich waschen, weil wir dies für gesund oder unabdingbar halten. Selbst wo die Gefahr von Infektionskrankheiten gering ist, sollen wir am besten alles tun, um ihnen vorzubeugen. Wenn wir nicht als heruntergekommen, faul, unattraktiv, primitiv, unhöflich, unprofessionell, kurzum als unsauber gelten wollen, darf an uns nirgends das geringste bisschen Schmutz, Schlamm oder Staub zu entdecken sein.
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Wenn Kanadas Luft im Oktober trockener wird, strömen besonders viele Männer in die Praxis von Sandy Skotnicki. Den Männern juckt die Haut.
Skotnicki verfolgt einen ganzheitlichen Ansatz. Ehe sie Professorin für Dermatologie, Arbeitsmedizin und Umwelthygiene an der University of Toronto wurde, arbeitete sie als Mikrobiologin. In den zwanzig Jahren, die sie bereits in der Dermatologie tätig ist, hat sie die Folgen der Umwelt, auch der Mikroben, für unsere Hautgesundheit nie aus dem Blick verloren.
»Ich frage die Leute: >Wie duschen Sie?<«, sagt sie. Ihre Patienten, so Skotnicki, würden gern der Jahreszeit die Schuld geben, als könne die Haut nur im Sommer normal funktionieren. Doch dann erkundige sie sich nach den Waschgewohnheiten: »Die Männer schrubben den ganzen Körper mit irgendeinem >Männerduschgel<. Weil sie draußen arbeiten, duschen sie zweimal täglich. Aber wenn ich ihnen sage, dass sie damit aufhören sollen, und sie nur noch bestimmte Stellen waschen, geht es ihnen wieder gut.«
Ich frage nach den »bestimmten Stellen«.
»Achseln, Genitalbereich, Füße«, sagt sie. »Muss man sich, wenn man in der Dusche oder Wanne ist, hier«, sie zeigt auf den Unterarm, »auch waschen? Nein.«
Mit fast verzweifelter Stimme berichtet sie, wie oft sie den Männern erklären müsse, dass sie sich nicht vollständig mit Duschgel einschäumen sollen. Die Haut brauche Feuchtigkeit oft nur, weil sie schon zu lange zu häufig gewaschen wurde.
Und selbst Wasser allein habe Folgen für die Haut. Insbesondere warmes Wasser spüle die Fette ab, mit denen unsere Drüsen die Haut feucht halten. Alles, was die Haut trockener und poröser mache, erhöhe die Wahrscheinlichkeit, dass sie auf Reizstoffe und Allergene reagiere.
Skotnicki ist überzeugt davon, dass zu häufiges Waschen die Haut schädigt und Menschen mit entsprechender genetischer Prädisposition dadurch häufiger Neurodermitis entwickeln. Doch Neurodermitis, die an sich schon nervenzehrend genug ist, kommt häufig nicht allein. Offenbar gehört sie zu einem Symptomkreis, der durch irrtümliche Immunreaktionen verursacht wird. Rund die Hälfte aller Kinder mit schwerer Neurodermitis entwickelt später, in einem sogenannten »Allergischen Marsch«, immunologische Überreaktionen wie allergischen Schnupfen oder Asthma.
Der Allergische Marsch mit den genannten Symptomen wurde von Allergolog*innen der Universitäten von Pennsylvania und Chicago erstmals 2003 beschrieben. Später wurde das Krankheitsbild noch erweitert. In neueren Studien wird sogar die immer häufigere Erdnussallergie dazugezählt. So zeigten sich Fachleute am King’s