Название | Natürlich waschen! |
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Автор произведения | James Hamblin |
Жанр | Сделай Сам |
Серия | |
Издательство | Сделай Сам |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783956144783 |
Alle Produkte, die Yoon auf meine Gesichtshaut gibt, versprechen zugleich Schönheit, Schutz und Pflege und weichen damit die Grenze zwischen kosmetischer Behandlung und dem notwendigen Schutz vor Giften und anderen Umweltgefahren auf. Bei einigen Ritualen erklärt mir Yoon, meine Gesichtshaut werde so mit Nährstoffen versorgt: »Damit bekommt Ihre Haut all die Vitamine, Mineralstoffe und Fettsäuren, die sie braucht.« Langsam bekomme ich das Gefühl, viel zu sorglos zu sein.
Kosmetika sind rechtlich gesehen keine Nahrungsmittel. Und weil sie nicht von sich behaupten können, bestimmte Erkrankungen zu behandeln oder zu verhindern, auch keine Medikamente. Trotzdem dürfen ihre Anbieter damit werben, sie würden der Gesundheit dienen. Doch den langen bürokratischen Prozess, den ein Medikament bis zur Marktreife zurücklegt, müssen sie nicht durchlaufen. Yoon gehört zu der jungen Unternehmer*innengeneration, die weder nur im Gesundheits- noch nur im Schönheitsbereich tätig ist, sondern in einer Mischung aus beiden. Die neuen Hautprodukte versprechen, Make-up und Medikamente überflüssig zu machen, weil die Haut »natürlich« schön werde. Angeblich lassen sie sie also nicht nur durch vorübergehende Erholungseffekte besser aussehen, sondern leisten etwas, was man normalerweise von Medikamenten erwartet: Hautproblemen vorzubeugen oder sie zu heilen.
Die aufstrebende Branche kann die sonst üblichen Markteintrittsbarrieren auch leicht umgehen, weil sie ihre Produkte aggressiv auf Instagram vermarktet. YouTube-Influencer*innen machen sich selbst zur Marke, setzen auf Lösungen von Haut-»Problemen«, die sich gegen das Establishment wenden, und reden mit einer Überzeugungskraft, die man an der medizinischen Hochschule wohl notgedrungen verliert. Jeder darf sich hier Expert*in nennen. Wenn etwas bei jemandem wirkt oder nicht wirkt, können selbst bergeweise Studien nicht das Gegenteil belegen.
Wenn Sie jemals mit Ihrer Haut unglücklich waren, wissen Sie wahrscheinlich, wie verlockend so etwas erscheinen kann. Als die Antibiotika, die mir mein Hautarzt gegen meine Pubertätsakne empfohlen hatte, nicht halfen, riet mir mein innovativer Zahnarzt-Vater, sie wegen der Nebenwirkungen nicht länger einzunehmen, sondern aufzutragen. Ich nahm die Tetracyclin-Kapseln, brach sie entzwei, vermischte den Inhalt mit Wasser und rieb mir damit das Gesicht ein. Nun war es nicht mehr rot und voller Pusteln, sondern gelb. Die Leute erkundigten sich, ob ich, wie damals viele Teenager*innen im Mittleren Westen, Bräunungsspray verwendet hätte. Lachend entgegnete ich, das sei doch albern. In Wahrheit hatte ich neben vielem anderen auch Selbstbräuner ausprobiert, um meine schreckliche Gesichtsfarbe irgendwie loszuwerden. Aber raten Sie mal, was man erhält, wenn man auf Rot und Gelb Orange gibt. Ein noch merkwürdigeres, unnatürlicheres, peinlicheres Orange.
Jetzt, da ich bei Peach and Lily auf frisch gestärkten Laken liege, weit weg vom Lärm und der Anonymität der Straßen unter mir, denke ich nicht an Marketing oder meine Teenager-Angst – und auch an sonst kaum etwas. Falls Sie noch nie eine Gesichtsmassage genossen haben, es ist wunderbar. Man spürt nicht nur die sanfte Massage und die Behandlung, sondern fühlt sich allen Alltagssorgen enthoben, einen Moment lang ist man König. Jemand nimmt sich die Zeit und streicht einem achtsam über das Gesicht, damit man besser aussieht und sich wohlfühlt.
Nachdem das Facelift abgeschlossen ist, packt mir Yoon jede Menge Pröbchen für zu Hause ein. Nur das »Glass Skin Refining Serum« könne sie mir leider nicht mitgeben, es sei überall ausverkauft, sie habe selbst nicht genug. Es sei in der Tat sofort nach Markteinführung ausverkauft gewesen.
»Sie sollten sich mehr um Ihr Gesicht kümmern«, sagt sie zum Abschied, zumindest solle ich eine Reinigungslotion verwenden. Ich lache. Sie nicht. Ich erröte. Als ich den Aufzug betrete, wiederholt sie mit Nachdruck: »Sie sollten mehr tun.«
Als ich mit meinem neuen Gesicht, das vor der Behandlung offenbar nichts als tote Haut und überschüssiges Fett war (wer hätte das gedacht?), auf die Straße trete, erlebe ich die Welt völlig anders. Wer sein Gesicht noch nie jahrelang nicht gereinigt und dann eine hochraffinierte Gesichtsbehandlung erhalten hat, kann es vermutlich kaum glauben, aber ein Schritt ins Sonnenlicht, und ich spüre die Welt, wie ich es nie für möglich gehalten hätte. Meine Haut ist eindeutig weicher, und ich habe das Gefühl, anders angesehen zu werden, auch wenn ich mir das vielleicht nur einbilde. Gehe ich mit meinem neuen Selbstvertrauen plötzlich beschwingter, oder sehe ich wirklich besser aus? Vielleicht wirke ich auch einfach wie jemand, der sich Matcha fürs Gesicht leisten kann.
Jedenfalls fühle ich mich anders. Und manchmal ist das ja alles, was wir wollen. Nicht unbedingt besser zu sein, sondern anders. Wie leicht gewöhnt man sich an den Blick, mit dem einem die Welt entgegentritt, und sieht sich mit ihren Augen. Wenn wir uns verändern, merken wir schnell, dass wir auch andere Erfahrungen machen, man uns freundlicher oder unfreundlicher begegnet, als wir es unserem erworbenen Selbstbild nach verdient haben. Und dafür reicht es schon, unser äußeres Erscheinungsbild ein wenig zu verändern, uns etwa piekfein anzuziehen oder uns einen völlig neuen Haarschnitt zuzulegen. Dann werden wir mit einem gewissen Unbehagen spüren, wie stark das Verhalten der anderen durch unser Aussehen bestimmt wird.
Doch noch etwas hat sich verändert, und diese Veränderung wird wohl langlebiger sein. Bislang bin ich ganz gut ohne Gesichtsbehandlung durchs Leben gekommen. Sollte sie meine Gedanken überhaupt gestreift haben, tat ich sie schnell als maßlose Eitelkeit oder, da bin ich wohl ein echter Junge aus Indiana, als unmännlich ab. Und letztendlich war ich auch nicht bereit, dafür Geld oder Zeit zu opfern. Aber nachdem ich nun erlebt habe, dass ich völlig anders durch den Tag gehe, wenn mir jemand nur irgendetwas im Gesicht verreibt, halte ich eine solche Behandlung nicht mehr für sinnlos oder überflüssig. Ich merke, wie die Seren, Öle und Masken, wie so vieles, was sich erst extravagant anfühlt, plötzlich ihre luxuriöse Anmutung verlieren und zur Gewohnheit, gar zur Notwendigkeit werden könnten.
Viele Körperpflegegewohnheiten, die uns selbstverständlich erscheinen, sind eigentlich noch gar nicht alt. Erst in den letzten Jahrhunderten haben sich unsere gesellschaftlichen und individuellen Sauberkeitsnormen derart entwickelt, dass aus dem gelegentlichen Sprung in den Fluss die tägliche Dusche oder Badewanne wurde. Heute ist allein die Information, man dusche nicht täglich, wie man mir zu verstehen gab, »kein Thema fürs Abendessen«.
Hin- und hergerissen zwischen einer Welt der minimalen und der maximalen Körperpflege fragte ich mich, wie der goldene Mittelweg aussehen könnte. Ich hatte nicht vor, mir eine neue teure Angewohnheit zuzulegen (und brauchen die Schnecken ihren Schleim nicht eigentlich selbst?), wollte aber auch nichts von dem verpassen, was viele andere offensichtlich genossen und was das alltägliche Zusammenleben erheblich beeinflussen konnte. Wie sollte ich meine Haut pflegen? Wie viel von all dem, was die Leute taten, machten sie wirklich aus reiner Freude oder zumindest, damit sich die anderen nicht ekelten oder sie in deren Augen nicht nachlässig oder vergesslich wirkten? Wie viel brauchte ich tatsächlich für meine Gesundheit und mein Wohlbefinden?
Auf jeden Fall würde es schwer werden, wieder zum Nichtstun zurückzukehren.
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Niemals ist mir eine so ausgewogene Mischung aus Zuneigung, Ekel, Neugier und Zorn entgegengeschlagen wie 2016, als ich in einem kurzen Artikel für The Atlantic bekannte, nicht mehr zu duschen. Zu Hunderten brachten Leserinnen und Leser ihre Gefühle zum Ausdruck und ließen dabei keine emotionale Regung aus. Manche hatten das Nichtduschen schon längst für sich entdeckt, andere erklärten mich für vollkommen verrückt, und wieder andere erkundigten sich, ob ihre eigene Hygiene wohl medizinisch vertretbar sei.
Manche konnten es nicht fassen, wie ein Arzt so unverantwortlich sein konnte, Hygiene als überflüssig zu betrachten, obwohl es immer noch Cholerafälle gab und jedes Jahr Hunderttausende an Grippe starben. Andere waren wutentbrannt, weil ich nicht verdeutlicht hätte, dass nicht zu duschen das Privileg des weißen Mannes in einem wohlhabenden Land sei.
Andere fanden es geradezu selbstverständlich, nicht zu duschen. Aus Deutschland schrieb mir Patricia: »Sie haben mir aus der Seele gesprochen!« Sie hatte es sich zuerst gezwungenermaßen abgewöhnt.
Am Ostersonntag 2007 begab sie sich mit furchtbaren Rückenschmerzen