Die Erinnerung an unbekannte Städte. Simone Weinmann

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Название Die Erinnerung an unbekannte Städte
Автор произведения Simone Weinmann
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783956144707



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lieber, die Zentrale würde die Religiösen unterstützen. Wenn die bei uns klopfen, fühlen wir uns jedes Mal verpflichtet, etwas zu geben. Sarah und Michael gehen doch auch oft zu den Betabenden.«

      Ludwig zuckte mit den Schultern. Er gab ebenfalls meistens etwas, dem Frieden zuliebe, aber er hatte gegen Hendriks Vorschlag gestimmt.

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      Ludwig ging zügig an den Reihenhäusern vorbei, die die Hauptstraße des Dorfes säumten. Der Schnee knirschte unter seinen Füßen. Die frühere Ähnlichkeit der Häuser miteinander war noch erkennbar, alle hatten denselben kleinen Balkon links oben. Ansonsten war ihr Zustand sehr unterschiedlich. Einige standen leer und hatten eingestürzte Dächer und rußgeschwärzte Wände. Bei den anderen waren die Ziegeldächer mit Steinen und Kotflügeln von Autos ausgebessert. Viele Fenster waren mit Brettern zugenagelt. Der Putz blätterte überall von den Wänden, und das Holz, das die Fassaden schmückte, war dunkelbraun und verzogen. Rauch stieg aus einigen Kaminen.

      Er ging schnell weiter, am Schulhaus vorbei, ohne es eines Blickes zu würdigen, über die Kreuzung, in deren Mitte ein riesiger Spalt den Asphalt aufriss, und dann eine steile Quartierstraße entlang den Hügel hinauf. Auch hier standen Reihenhäuschen, die meisten leer und verfallen. Die Hausmauern waren von den Spuren zerplatzter Wasserleitungen gezeichnet, die den Putz aufgerissen hatten. Schnee lag in den ehemaligen Wohnzimmern. In einem hing noch ein Bild an der Wand, aber was einmal darauf abgebildet gewesen war, war nicht mehr zu erkennen. Im Haus am oberen Ende der Straße wohnte Anna mit Vanessa. Aus ihrem Schornstein stieg kein Rauch, vielleicht schliefen sie noch.

      Ludwig ging an dem Haus vorbei und gelangte auf den Feldweg zwischen den Wiesen. Die kalte Luft hatte sein Kopfweh nicht verscheucht. Er blieb stehen und sah vom Hügel auf das Dorf hinunter. Ludwig wusste genau, wer wo wohnte, wer krank war und wer gesund, wer wie viele Kinder hatte und wer sich mit wem stritt. All die Probleme, all die kleinen Entscheidungen, die Dramen. Nie hatte er so leben wollen. Als Student hatte er von New York geträumt, von einem Loft mit unverputzten Wänden und Sirenengeheul in der Nacht, wo man die Nachbarn nicht kannte und jeder tat, was er wollte. Er hätte gerne in einem Großkonzern gearbeitet, mit spiegelnden Fassaden und Glasliften, eine dünne Krawatte getragen und viel Geld verdient, zumindest für ein paar Jahre.

      Das Haus, in dem Lisa mit Michael und Sarah wohnte, war von hier aus nicht zu erkennen. Auf Petras Haus hingegen hatte er einen freien Blick, es war eines der größten im Dorf. Er sah vor sich, wie Nathanael im Dachzimmer heimlich über den Hausaufgaben brütete, wie seine Mutter ihn dabei erwischte und ihm eine Ohrfeige verpasste. Er spürte das Echo des Schmerzes in der Wange und schüttelte den Kopf. Er durfte sich nicht in diese Geschichte verstricken lassen.

      Im Metallladen brannte schwaches Licht, Lisa musste eine Kerze angezündet haben. Ludwig drehte sich um und ging weiter. Er stellte sich vor, das Dorf hinter ihm versänke in metertiefem Schnee. Als er den Wald betrat, huschte vor ihm ein Fuchs über den Weg.

       Winterschals

      Nathanael stand vor dem Versammlungshaus und vergrub die Hände in den Taschen seines Wintermantels. Der Schnee tanzte in der Luft wie Staub. Die anderen Gläubigen hatten sich voneinander verabschiedet, waren nach Hause gegangen, um zu Mittag zu essen, und hatten die Straßen des Dorfs leer zurückgelassen. Samuel war mit seinen Freunden davongerannt. Dabei hätte Nathanael ihn gerne gefragt, was Elias auf dem Dorffest getrieben hatte, nachdem er selbst es verlassen hatte. Wie hatte ihr Bruder nur so viel Wein trinken können?

      Auf dem Hinweg hatte er Samuel nicht ausfragen können, weil Vanessa hinter ihnen gegangen war und sie hätte hören können. Sie war trotz der Kälte draußen unterwegs gewesen und hatte sich ihnen an die Fersen geheftet. Vielleicht nur, um sie zu ärgern, vielleicht, weil sie im Versammlungshaus etwas zu essen klauen wollte.

      »Hast du Hausarrest, Nathanamehl?«, hatte sie gerufen.

      In der Unterstufe war das einer seiner Spitznamen gewesen, aber niemand sonst nannte ihn jetzt noch so. Nathanael hatte nicht geantwortet. Samuel hatte dümmlich gekichert. Dann war sie plötzlich weg gewesen.

      Nathanael dachte an das bleiche Gesicht der Mutter am Morgen. Vermutlich hatten sich die Eltern in der Nacht wieder gestritten, nachdem ihre Sorge um Elias nachgelassen hatte. Nathanael hatte nichts gehört, aber das musste nichts heißen. Die Eltern stritten sich oft in der Nacht, im Flüsterton, mit zischenden Lauten. Manchmal hörte man den Vater mit der flachen Hand auf eine Oberfläche schlagen. »Hör auf«, sagte die Mutter dann halblaut.

      Nathanael wusste nicht, worüber die Eltern stritten, aber er vermutete, dass die Mutter meistens recht hatte. Wahrscheinlich kamen die Streitereien daher, dass der Vater etwas, was er hätte erledigen sollen, nicht getan hatte. Es gab Tage, da legte er sich auf sein Bett und reagierte auf keine Ansprache. »Er hat eine Laune«, sagte die Mutter dann, »lasst ihn in Ruhe.« Sie tat, als störte es sie nicht, aber sie antwortete den Söhnen in diesen Zeiten nur knapp und verlor schnell die Nerven mit Elias.

      Nathanael stellte sich vor, wie es wäre, wenn das Haus nicht mehr stünde, wenn er heimkam. Wenn Elias es angezündet hätte, aus Rache, weil der Vater ihm eine Ohrfeige gegeben hatte, und er nur noch eine rauchende Ruine vorfände.

      Wieso dachte er nur solche Dinge? Elias würde bestimmt verstockt und schweigsam sein, wenn Nathanael heimkam, aber er war nicht so dumm, wie die Eltern immer sagten. Nie würde er sein eigenes Haus anzünden.

      Es war kalt, viel länger konnte er nicht mehr hier draußen herumstehen. Vielleicht konnte er in die Schule gehen und dort für eine Weile seine Ruhe haben? Aber auch dort war es am Wochenende eisig, wenn die Feuer nicht brannten. Oder zurück in den Versammlungsraum? Dort bestand allerdings die Gefahr, dass er Hendrik antraf und dieser mit ihm reden wollte.

      Zögernd machte er sich auf den Heimweg. Als er an Grubers Haus vorbeikam, überlegte er, anzuklopfen. Doch als er durchs Fenster schaute, sah er keine brennenden Öllampen und keine Bewegung.

      Er hörte gedämpfte, schnelle Schritte im Schnee und blieb stehen. Auch das noch. Schon wieder Vanessa. Sie trug einen dicken Wintermantel und mehrere Schals um den Kopf gewickelt. Möglicherweise waren das die Schals, die einige Leute nach der Predigt nicht mehr hatten finden können. Aber er war sich nicht sicher.

      »Haben sie dich aus der Schule genommen?«, hörte er Vanessa durch den Stoff fragen. Sie klang nicht mehr so spöttisch wie vorher.

      Nathanael blieb stehen.

      »Ja«, sagte er.

      »Arschlöcher«, sagte Vanessa und zog die Schals etwas nach unten, fort vom Mund.

      Nathanael mochte den Klang des Wortes, er unterdrückte ein Lächeln. »Es ist nur für eine Woche«, sagte er.

      »Das glaubst du doch selbst nicht«, sagte Vanessa.

      »Lass mich in Ruhe«, sagte Nathanael. Was wusste sie schon? Seine Eltern würden sich umstimmen lassen. Jetzt wollte er nach Hause.

      Nach ein paar Schritten traf ihn ein Schneeball am Hinterkopf. Es tat nicht weh, sie hatte ihn nicht fest geworfen, und er drehte sich nicht um. Die Kälte drang durch seine Mütze. Als er schließlich doch stehen blieb und sich umdrehte, war niemand mehr zu sehen.

       Bibliothek

      Ludwig wusste nicht, wie lange er schon unterwegs war. Endlich machten die schneebedeckten Äcker den ersten verfallenen Häusern Platz. Diese bildeten einen Ring von Ruinen um das bewohnte Zentrum des Nachbardorfs. Sie stammten aus dem Bauboom, der in Ludwigs Kindheit von seinen Eltern bitter beklagt worden war. Heute waren alle Fensterscheiben zerbrochen oder entfernt. Viele Dächer waren eingestürzt, den anderen fehlten die Ziegel, weil man damit die Dächer der bewohnten Häuser ausgebessert hatte. Ludwig dachte daran, wie es in den Häusern aussah, an die gesprungenen Flatscreens, den Schutt, die Brandspuren, die von Nässe vollgesogenen Teppiche, den Geruch nach Beton und Zerfall. Aus einem dieser Häuser