Die Erinnerung an unbekannte Städte. Simone Weinmann

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Название Die Erinnerung an unbekannte Städte
Автор произведения Simone Weinmann
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783956144707



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hatte die Mutter tief durchgeatmet und gesagt, dass ihr Sohn keinen Tag länger in die Schule gehen würde.

      Nathanael legte das Handgelenk an sein rechtes Ohr, die Ohrmuschel war kalt. Er trug einen Schal und zwei Pullover. Trotz der niedrigen Temperaturen, die im Dachzimmer herrschten, war er immer gerne in diesem wenig benutzten Raum gewesen, um Hausaufgaben zu machen, hier hatte er seine Ruhe vor Samuel und Elias. Aber heute wollte er nur nach draußen, auf die Straße, eisige Winterluft einatmen, die im Hals schmerzte.

      Am Abend, nachdem die Eltern ihn aus der Schule genommen hatten, war Nathanael übel geworden. Es hatte sich angefühlt, als hätte er sich zwischen Bauch und Rippen etwas eingeklemmt. Zwei Tage lang hatte er im Bett gelegen und keinen Bissen heruntergebracht. Es hatte ihm Angst gemacht, aber er hatte kein Fieber und die Mutter machte sich keine Sorgen. »Gott wirkt in dir«, sagte sie. Nathanael ärgerte sich so sehr darüber, dass er sich vornahm, nicht mehr mit ihr zu sprechen. Schließlich hatte er doch wieder damit angefangen, und auch das schrieb sie natürlich Gottes Einfluss zu.

      Gott, dachte Nathanael. Er macht, dass mir übel ist und dass ich wieder mit der Mutter spreche. Aber Rahel wollte er nicht retten.

      »Als ich jung war, hat kaum jemand an Gott geglaubt«, hatte Gruber einmal gesagt. Nathanael konnte sich das nicht vorstellen. Er nahm den Stift wieder in die Hand und las die nächsten Zeilen im Evangelium.

       Schulzimmer

      »Die Oortsche Wolke«, sagte Ludwig Gruber. »Da kommen die Kometen her. Das haben wir doch gestern alles besprochen.«

      Seine Klasse schlief so früh am Morgen noch, sie war ganz still, auch wenn die meisten Augen täuschend weit geöffnet waren. Draußen dämmerte es.

      Aus dem Dorfbrunnen war heute kein Wasser gekommen. Ludwig hasste das Gefühl von ungewaschenen Händen, er wischte sie zum wiederholten Mal an den Seiten seiner Hosen ab. Er schwieg, die Klasse schwieg. Niemand schien sich an dem Schweigen zu stören. Ludwig blickte auf seine Schuhe. Das Leder war von der Kälte rissig geworden, und an einer Stelle begann sich die Sohle zu lösen.

      »Nehmt das Buch heraus«, sagte er.

      Sekunden verstrichen, bevor der erste Schüler sich rührte, die anderen folgten ihm traumwandlerisch. Wenn sie eine Bewegung nachahmen konnten, mussten sie keine Worte verstehen. Die Bücher waren alt, eines fiel beim Öffnen auseinander. Der Schüler, dem es gehörte, bückte sich ächzend nach den losen Seiten und begann zu husten. Schon den ganzen Winter lang hustete er so.

      Während die Schüler das Kapitel lasen oder die aufgeschlagene Seite anstarrten, schaute Ludwig aus dem Fenster. Der Himmel begann von unten hell anzulaufen, es sah aus, als stiege ein Licht hinter einer milchigen Scheibe auf. Ludwig wandte sich zurück zur Klasse, sein Blick fiel auf den leeren Platz am verkratzten Pult vorn links, wo Nathanael gesessen hatte.

      »Es ist so langweilig«, flüsterte Sarah ihrer Banknachbarin zu und schaute Ludwig aus trüben Augen an. »Beim Dorffest werden wir …«, und dann wurde ihre Stimme so leise, dass er sie nicht mehr verstand. Immer dieses Dorffest. Es war das Einzige, was die Schüler in der Winterzeit aus ihrer Lethargie zu reißen vermochte. Sie waren schon vierzehn oder fünfzehn Jahre alt und würden die Schule bald für immer hinter sich lassen.

      Eine leise Unruhe erfasste die Klasse und ging zwischen den Pulten umher wie eine Person. Ludwig räusperte sich. »Wer fertig ist, beginnt mit den Hausaufgaben. Schreibt eine Seite über Kometen.« Jemand seufzte laut.

      Es knallte. Vanessa hatte Peter mit einem zusammengerollten Heft auf den Kopf geschlagen und huschte zurück an ihren Platz. Einige schrieben jetzt mit kratzenden Geräuschen. Peter lächelte, als wäre er glücklich über Vanessas Angriff. Dabei hielt er den Mund geschlossen, sodass seine schiefen Zähne nicht zu sehen waren. Ludwig machte ein paar Schritte auf Vanessas Pult zu und blickte auf ihr Papier. Sie hatte einen Satz geschrieben, ließ aber jetzt ihren Bleistift zwischen zwei Fingern hin- und herwippen und gab vor, Ludwig nicht zu bemerken. Ihre weißblonden gelockten Haare fielen ihr über die Schultern wie ein Umhang, sie sahen ungekämmt aus.

      Sarah hatte noch gar nichts geschrieben, sie hatte den Kopf auf die Bank gelegt und die Augen geschlossen. Er ging zu ihr hin und berührte mit der Hand ihre Schulter. Sie zuckte zusammen und sah ihn fragend an. »Du musst mitarbeiten«, sagte er leise.

      Als er sich wieder ans Lehrerpult setzte, sah er, dass Sarah sich aufgerichtet hatte und ihn immer noch fixierte, als versuche sie sich zu erinnern, was der Auftrag war. Dann schaute sie aufs Blatt und begann etwas zu kritzeln, das sie mit ihrer Hand vor seinem Blick schützte, wahrscheinlich zeichnete sie etwas.

      Ludwig schaute wieder aus dem Fenster. Mittlerweile hatte der Himmel die Farbe angenommen, die er an wolkenlosen Tagen hatte, das gebrochene Weiß eines Mehlteigs. Der Schulhof darunter sah aus wie neu, die Risse im Asphalt waren unter dem Schnee verschwunden.

      Es dauerte nur eine kurze Weile, bis die Klasse merkte, dass seine Aufmerksamkeit nicht mehr bei ihnen war. Die Schreibgeräusche erstarben. Jemand kicherte. Ludwig dachte an die Kometen, die weit weg ihre stillen Bahnen durch das Weltall zogen. Dann wandte er sich der Klasse zu.

       Betgruppe

      Nathanael blieb in der Tür des Saals stehen und suchte mit den Augen die Sitzreihen ab. Sarah war noch nicht hier. Vorn begrüßte Hendrik die Neuankömmlinge und schüttelte ihnen lächelnd die Hand. Auch ihm winkte er zu, aber Nathanael hob nur kurz die Augenbrauen. Dann setzte er sich in die hinterste Reihe. Im Rücken spürte er die kalte Wand. Er hätte Hendrik wenigstens zunicken können, er hatte sich doch vorgenommen, freundlich zu sein, bis er zurück in die Schule durfte. Bestimmt würde sich der Prediger später wieder bei den Eltern beklagen. Hendrik fasste einen Mann leicht am Oberarm, woraufhin dessen Gesicht aufleuchtete.

      Dutzende von Kerzen brannten auf Tischen und am Boden. Nathanael beobachtete die Erwachsenen, die den Raum langsam füllten. Die Frauen in ihren langen dunklen Röcken, mit ihren Zöpfen, die Männer mit ihren Bärten und den abgeschabten Hosen und Jacken. Sie setzten sich mit umständlichen Bewegungen in die vorderen Reihen und unterhielten sich. In den Händen hielten sie alle eine Bibel, in vielen verschiedenen Ausgaben, dunkelrote und grüne, kleine und große, und das, was Hendrik ihre Vollendung nannte: einen handbeschriebenen, zusammengehefteten Stapel Papier. Das Evangelium des Staubes. Einiges davon hatte Nathanael selbst abgeschrieben.

      Endlich tauchten auch Sarah und ihr Vater auf. Nathanael sah ihnen dabei zu, wie sie sich zwei Reihen vor ihn setzten. Sarah drehte den Kopf zur Seite, als ob sie sich nach ihm umschauen wollte, doch sie wandte den Blick gleich wieder nach vorn. Nathanaels Eltern betraten den Raum als Letzte, man hatte ihnen zwei Plätze in der ersten Reihe freigehalten. Die Mutter ging voraus, auch sie in einem langen schwarzen Kleid, mit aufrechtem Gang, die schwarzen Haare in einem Knoten hochgesteckt. Der Vater folgte, seine Haltung wie immer etwas schief, und statt einem Vollbart wie die meisten anderen Männer hatte er kreuz und quer abstehende graue Stoppeln am Kinn.

      Samuel, der dicht hinter den Eltern gegangen war, bog ab und drängte sich an den anderen Jugendlichen in der letzten Reihe vorbei. Dann ließ er sich schwer auf das Evangelium fallen, das Nathanael neben sich abgelegt hatte.

      »Hau ab«, zischte Nathanael ihm ins Ohr, »hier ist reserviert.« Vielleicht würde Sarah ja nach der Pause den Platz wechseln.

      Samuel schnitt ein Gesicht. »Wieso?«

      Nathanael stieß ihm seinen Ellbogen in den Oberarm.

      »Aua«, rief Samuel leise.

      »Steh jetzt auf. Oder ich verrate den Eltern, wo du gestern warst«, sagte Nathanael.

      Samuel schaute ihn ungerührt an, aber dann verzog er sich. Am Tag zuvor war er mit seinen Klassenkameraden weit auf den gefrorenen Dorfweiher hinausgeschlittert, bis das Eis angefangen hatte zu knacken. Nathanael hatte ihnen vom Ufer aus zugesehen.

      Samuel setzte sich vorn neben Elias, mit dem er sofort zu tuscheln begann. Nathanael betrachtete