Название | Die Erinnerung an unbekannte Städte |
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Автор произведения | Simone Weinmann |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783956144707 |
Während er den steilen Anstieg hinter Walters Dorf hinaufging, dachte Ludwig an das Buch über die Träume, denen man folgen sollte. Hätte er es nur eingesteckt. Er mochte es, hie und da über die Sorgen von früher zu lesen. Es lenkte ihn ab und erinnerte ihn an seine Jugend. Daran, wie die Welt für ihn ausgesehen hatte damals, voller Möglichkeiten, von denen man die eine oder andere in die Hand nehmen, ausprobieren und wieder verwerfen konnte, so als suchte man ein Buch in einer Bibliothek aus.
Kartoffeln
Nathanaels Einkäufe vom Wochenmarkt waren nicht schwer, bei jedem Schritt schwang die Tasche hin und her. Der Boden war mit Schnee bedeckt, aber der Wind war heute weniger kalt als gestern, und es roch schwach nach Erde und Frühling.
Als er zum Schulhaus kam, blieb er stehen. Im oberen Stock sah er Gruber, der gerade die äußere Reihe der Pulte entlangging. Seine Bewegung ließ die Öllämpchen auf den Schreibtischen flackern. Im Erdgeschoss befanden sich alle Kinder der unteren Klassen zusammen in einem Zimmer. Kerzen standen auf dem Fenstersims. Die Kinder rannten im Raum herum, vielleicht spielten sie ein Spiel. Sina, die Lehrerin der jüngeren, stand an der Stirnseite des Zimmers zu einem Kind hinuntergebeugt. War es Elias? Nathanael konnte es nicht deutlich sehen. Die Fenster aller anderen Schulzimmer waren dunkel. Es fiel ihm schwer, sich vorzustellen, dass die Schule vor langer Zeit einmal voll mit Kindern gewesen war. Im oberen Stock standen die ersten Schüler von ihren Pulten auf, sicher machten sie bald Pause. Er musste sich beeilen, er wollte seinen Klassenkameraden nicht begegnen und sich ihre Fragen anhören müssen.
Nathanael ließ das Schulhaus hinter sich. Bestimmt würde er bald zurück in die Schule dürfen. Die Mutter war heute gut gelaunt. Sie hatte ihn ausschlafen lassen und ihm nur leichte Aufgaben gegeben. Einkaufen und beim Mittagessen helfen.
Auf dem Küchentisch lag bereits ein Haufen Kartoffeln, daneben die Schälmesser. Das Herdfeuer brannte, darüber hing ein Topf mit Wasser. Die Mutter ging in der Küche umher, öffnete Schubladen und sang leise vor sich hin. »Herr unser Erlöser …« Das Lied hatte eine seltsame Melodie, angeblich von der Prophetin selbst komponiert. Die Mutter lächelte Nathanael an.
»Vielen Dank«, sagte sie und nahm das Brot, die Wurst und die Milch aus seiner Tasche. Sie deutete auf den leeren Stuhl vor den Kartoffeln. »Ich habe Tee gemacht.« Sie stellte zwei Teetassen auf den Tisch und setzte sich neben ihn. Es roch nach getrockneten Kräutern und Erde. Nathanael nahm eine Kartoffel in die Hand und begann sie zu schälen.
»Wie geht es dir?«, fragte die Mutter, während auch sie mit schnellen Bewegungen eine Kartoffel schälte.
»Gut«, antwortete Nathanael, ohne sie anzusehen.
»Ich habe Neuigkeiten für dich.«
Nathanaels Herz klopfte schneller.
»Ich habe mit Hendrik gesprochen«, fuhr die Mutter fort. »Ich habe ihn daran erinnert, dass du schon mit zehn das Evangelium auswendig konntest.«
Nathanael schwieg.
»Er hat sich bereit erklärt, dich zu unterrichten. Zwölf Stunden pro Woche. Nur du und er.« Die Mutter lächelte, ihre Augen leuchteten. »Obwohl er so viel zu tun hat.«
Nathanael ließ die halb geschälte Kartoffel fallen und warf das Rüstmesser hin.
»Ich will aber zurück in die Schule.«
»Lass mich ausreden. Wenn du bei Hendrik in den Unterricht gehst, kannst du selbst Prediger werden.«
»Wir haben doch ihn.«
»Du kannst als Missionar in ein anderes Dorf gehen. Du wirst ein gutes Leben haben.«
Nathanael schwieg.
»Du bist erst fünfzehn. Du denkst dir, es wäre schön, Menschen zu heilen. Ich wollte früher auch Menschen helfen. Aber jetzt weiß ich, dass sie einzig und allein Gottes Hilfe brauchen.«
»Aber …«, sagte Nathanael.
Die Mutter unterbrach ihn. »Ärzte machen nichts anderes, als den Menschen beim Sterben zuzusehen. Es stinkt, Blut fließt, alles ist hoffnungslos, die Angehörigen schreien dich an. Es ist der schrecklichste Beruf, den es gibt.«
»Früher war das anders.«
»Früher war alles anders. Früher hatten die Menschen einen Pakt mit dem Teufel. Sie lebten länger, aber sie waren unglücklich und nahmen Medikamente, die ihre Seelen vergifteten. Jeder hatte Angst vor dem Tod. Heute haben wir keine Angst mehr.«
»Ich habe Angst.«
»Ein Glaube, der nie durch Zweifel geprüft wurde, ist nichts wert. Als ich so alt war wie du, habe ich auch an allem gezweifelt. Ich konnte mir nicht vorstellen, so zu leben wie meine Eltern.«
»Du lebst ja auch nicht wie sie«, sagte Nathanael.
»Zum Glück.« Die Mutter stand auf. Sie warf die geschälten Kartoffeln in einen Topf. Sie lächelte und schaute über seinen Kopf hinweg. »Du wirst ein guter Prediger werden.«
Spinnen
Ludwig saß am Küchentisch und studierte ein Schaubild, das den Körperbau einer Spinne zeigte. Je länger er es betrachtete, desto weniger sah es aus wie ein Lebewesen. Stattdessen ähnelte es einem Wegnetz, das in viel zu viele verschiedene Richtungen verlief. Eine Kreuzung mit einem Vorderleib, einem Hinterleib und Tastorganen.
Dabei spürte er, wie seine Kehle langsam anschwoll. Schon am Morgen war er mit einem Kratzen im Hals aufgewacht.
Er wusste kaum etwas über Spinnen. Sein Biologielehrer am Gymnasium war ein verträumter, langsamer Mann mit Bart gewesen, dem er gerne zuhörte, solange es nicht um das Innere des Menschen ging. Und doch war ihm vom gesamten Biologieunterricht nichts geblieben. Das hatte er erst vor ein paar Jahren gemerkt, als er anfing, das Fach in der Dorfschule zu unterrichten.
Während des Studiums war er einmal bei einem Kollegen zu Hause gewesen, um zu lernen. In seinem dunklen und unaufgeräumten Schlafzimmer hatten mehrere Terrarien gestanden, in denen Vogelspinnen lauerten. Ihr Biss sei gar nicht so gefährlich, hatte der Kollege behauptet. Ludwig hatte sich die Vogelspinnen höflich angeschaut. Wie konnte der nur in diesem Zimmer schlafen? Er hatte ihn nie wieder besucht.
Ludwig hielt das Schaubild in der einen Hand und zeichnete es mit der anderen an der Tafel langsam nach. Die Tracheen, die Spinndrüsen und die Augen. Hinter sich hörte er das leise Schaben der Bleistifte. Er kam sich vor wie ein Hochstapler, als hätte er das Innere der Spinne frei erfunden, oder sei zumindest auf eine Erfindung hereingefallen.
Seine Kreide brach ab, er bückte sich danach und hörte die Schüler hinter sich tuscheln. Als er sich wieder aufrichtete, wurde ihm schwindlig. Er stützte sich mit der Hand an der kühlen Wandtafel ab und schloss kurz die Augen. Dann malte er weiter. Schweiß rann ihm über die Stirn, seine Nase kitzelte, und es war ihm egal, dass die Schüler lauter wurden. Nach einer Weile setzte er sich an sein Pult und sagte, sie sollten den Text aus dem Biologiebuch lesen, wenn sie mit dem Abzeichnen fertig waren. Sarah meldete sich.
»Ja, Sarah?«, sagte Ludwig.
»Spinnen sind eklig. Können wir stattdessen nicht lieber Schmetterlinge behandeln?«
»Schmetterlinge sind auch ekelhaft, wenn man sie sich genau anschaut«, warf Marion ein.
Marion saß neben Vanessa und schwieg meistens. Wenn sie doch einmal etwas sagte, schien es ein besonderes Gewicht zu tragen, und Ludwig hatte das Gefühl, darauf ermutigend reagieren zu müssen. Aber ihm fiel nichts ein.
Vanessa verdrehte