Die Erinnerung an unbekannte Städte. Simone Weinmann

Читать онлайн.
Название Die Erinnerung an unbekannte Städte
Автор произведения Simone Weinmann
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783956144707



Скачать книгу

auf dem Sofa, in eine karierte Decke gewickelt. Lediglich sein Kopf schaute heraus. Er war bleich, starrte aus dem Fenster auf den fein fallenden Schnee und beachtete Nathanael nicht.

      »Geht es ihm besser?«, fragte Nathanael.

      »Ihm geht es gut«, sagte die Mutter. »Sei leise, Vater schläft. Er war die ganze Nacht wach.«

      Samuel polterte die Treppe herunter. Auf halber Strecke blieb er abrupt stehen und musterte Elias.

      »Elias, du Idiot«, rief er.

      »Ruhe«, rief die Mutter. »Ihr seid genauso schuld. Ihr wisst doch, dass ihr auf Elias achtgeben sollt.«

      Elias zog sich die Decke über den Kopf.

      »Gehen wir nicht zur Predigt?«, fragte Nathanael. Hendrik hatte bereits das erste Mal die Glocke geschlagen. Normalerweise weckte die Mutter sie vor dem Läuten.

      »Ihr geht. Ich bleibe bei Elias. Und Vater muss schlafen.«

      »Das ist gemein«, nörgelte Samuel.

      Die Mutter legte das Besteck hin.

      »Genug jetzt«, sagte sie leise. »Kommt her, sofort.« Nathanael und Samuel näherten sich ihr zögernd. »Wir tun alles für euch. Tag für Tag rackern wir uns ab, damit ihr genug zu essen habt. Und ihr? Ihr beklagt euch, dass ihr am Samstagmorgen das Wort Gottes hören müsst? Ist das für euch nur eine Pflicht? Wollt ihr lieber so aufwachsen wie Vanessa? Mit einer Mutter, die gut und schlecht nicht unterscheiden kann?« Wie bleich sie ist, dachte Nathanael. »Reicht denn nicht, was Elias uns angetan hat?«

      »Wir gehen ja«, sagte Nathanael und zog Samuel am Ärmel. »Ich werde auf Samuel aufpassen. Wir werden hingehen und für Elias beten.«

      »Das ist das Mindeste«, sagte die Mutter. »Das Mindeste.«

      »Auf mich muss niemand aufpassen«, sagte Samuel. »Ich lese keine verbotenen Bücher und trinke auch nicht.«

      »Dann passt eben aufeinander auf«, sagte die Mutter müde. »Und nehmt euch noch ein Stück Brot mit.«

       Metallladen

      Lisa saß hinter der Theke und las. Als Ludwig die Tür öffnete, zuckte sie zusammen und richtete sich auf. »Und, war Vollmond?«, fragte sie.

      Ludwig nickte. Er fuhr mit dem Finger die Theke entlang. Er hatte nicht nachgesehen. Ohnehin konnte niemand sicher sein, welcher Tag genau war; ein paar Dörfer weiter waren sie überzeugt, es sei drei Tage später. Lisas Bitte hatte ihn dazu gebracht, wieder darüber nachzudenken, wie man den Kalender genauer machen könnte, etwa, indem man versuchte, die dunkelste Nacht des Monats zu bestimmen. Aber wozu, Lisas Vorstellungen vom Einfluss des Monds waren doch nur dummer Aberglaube.

      Die Tür zum Hinterzimmer des Ladens stand halb offen. Auf dem kleinen Tisch lag ein gelb gemustertes Wachstuch, dahinter waren die rostigen Armaturen einer ehemaligen Küche sichtbar. Am Boden stand das Kurbelradio. Leise chinesische Musik, unterbrochen von statischem Knistern, drang aus den Lautsprechern. Ludwig wünschte sich, dort am Tisch sitzen zu dürfen, den ganzen Tag lang. Er würde den Kopf auf das kühle Wachstuch legen und der Musik zuhören, bis es Abend wurde, während Lisa vorn an der Theke las.

      »Habt ihr das Fahrrad noch?«, fragte Ludwig, um etwas zu sagen.

      »Ja, aber wie du weißt, darf ich es nicht …«

      »Ich will es ja nicht kaufen. Nur ausleihen. Ich möchte nächste Woche den Dynamo behandeln.«

      Lisa zögerte und nickte dann. Sie verschwand im Hinterzimmer, und Ludwig hörte, wie sie eine Tür aufschloss. Sie kam mit einem großen, verbeulten Mountainbike unter dem Arm zurück. Ludwig nahm es ihr ab. Es war schwerer, als er erwartet hatte, waren Mountainbikes nicht leicht gewesen? Er stellte es auf den Boden. Lisa strich sich den dunklen Rock glatt und richtete ihren Zopf.

      »Was für ein Ding«, sagte Ludwig.

      Sie lächelte stolz, als hätte sie das Fahrrad selbst gebaut.

      Das Hinterrad des Mountainbikes war vollkommen verbogen, und die Speichen waren rostig. Doch das Vorderrad lief noch. Ludwig hob es an und drehte das Rad, die Lampe leuchtete hell. Wie schön es wäre, ein Fahrrad zu besitzen. Ludwig würde damit in andere Dörfer fahren und mit Neuigkeiten zurückkommen, die Lisa überraschten. Oder er würde sie mitnehmen, sie würden immer weiter fahren, bis sie ans Meer kämen, und dort ein Haus bauen.

      »Danke«, sagte Ludwig, nachdem Lisa das Fahrrad zurück ins Hinterzimmer getragen und die Tür wieder verschlossen hatte. »Ich hole es in ein paar Tagen.«

      »Ist gut«, sagte Lisa und griff nach dem Buch, das vor ihr auf der Theke lag.

      »Was liest du?«, fragte er.

      »Die Buddenbrooks«, antwortete sie.

      Schon wieder, dachte Ludwig. Während der großen Kälte hatte er stapelweise Bücher in den Kamin geworfen und verbrannt. Nur zwei naturwissenschaftliche hatte er aussortiert. Beide lagen seit Jahren in Walters Bibliothek.

      Lisa hielt ihm das Buch hin, und er schlug es auf der ersten Seite auf.

      »Lisa Wendelin«, las er vor.

      Sie richtete sich auf, und Ludwig merkte, dass er mit seiner Lehrerstimme gelesen hatte wie vor der Klasse, wenn er die Anwesenheitsliste prüfte. Lisa hatte ihren Mädchennamen mit runden Buchstaben hineingeschrieben, bestimmt noch als Schülerin. Wahrscheinlich hatte sie das Buch auf der Flucht mitgeschleppt. Wieso hatte er sie nicht schon damals kennenlernen können? Jetzt trug sie Michaels Namen, Schmid. Das passte überhaupt nicht zu ihr. Es war wie eine Tarnung, die sie sich übergestülpt hatte.

      Weiter unten war eine Strichliste eingezeichnet, neun Fünferblocks und ein angefangener Block mit vier Strichen. Das Lesezeichen steckte fast am Ende des Buches zwischen den Seiten, bald würde sie auch den letzten Block durchstreichen können.

      »Nächstes Jahr werde ich es Sarah zum Lesen geben«, sagte Lisa.

      Ludwig nickte. Er konnte sich nicht vorstellen, wie sich Sarah auf solch ein langes Buch würde konzentrieren können. Es ärgerte ihn, dass ausgerechnet Lisas Tochter so unbedarft von der Schule gehen würde. In letzter Zeit arbeitete sie immer weniger mit.

      »Wie geht es dir?«, fragte er schließlich.

      »Ich habe schlecht geschlafen. Muss der Vollmond sein.«

      »Ich auch.« Ludwig schaute Lisa lange an. Sie lächelte. Also doch.

      Die Tür ging auf, kalte Luft kam ins Innere. Es war Urs.

      Er wandte sich an Lisa: »Hast du die Ersatzschrauben gefunden?«

      Lisa griff unter die Theke und holte eine Tüte mit Schrauben hervor. »Es sind nur fünf, und eine wird nicht ganz passen, die musst du noch abschleifen.«

      Urs nahm die Schrauben entgegen. »Danke. Warum bist du letzte Woche nicht zur Dorfversammlung gekommen?«, fragte er.

      »Hat Michael mich nicht entschuldigt?«

      »Doch«, sagte Urs. »Aber ich wäre froh gewesen um eine weitere Stimme gegen Hendriks Vorschlag.«

      »Du musst ihn ja nicht umsetzen«, sagte Ludwig.

      Hendrik hatte wieder einmal darum gebeten, dass Urs bei der Zentrale vorstellig werden sollte, um finanzielle Unterstützung für die Kirche zu holen. Sie täten so viel für die Gemeinschaft, und früher hätte es ja auch die Kirchensteuer gegeben. Und obwohl die Mehrheit der Versammlung dafür gewesen war, hatte Urs gesagt, es stünde außer Frage, die Zentrale erneut damit zu behelligen.

      »Ja, aber es sieht besser aus, wenn zumindest ein paar von euch auf meiner Seite sind. Zumal nun sogar Sina gegen mich stimmt.«

      Urs hob die Hand zum Gruß und verließ den Laden, die Tüte in der Hand.

      »Der