Название | Die Erinnerung an unbekannte Städte |
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Автор произведения | Simone Weinmann |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783956144707 |
Ludwig hatte den Unterricht für heute abgesagt. Es konnte nicht spät sein, Licht drang zwischen den Vorhängen hindurch. Er legte sich ein frisches Stofftaschentuch aufs Gesicht und dachte an seine Eltern, die er nie wieder würde anrufen können. Wenn er als Kind krank gewesen war, hatte ihm die Mutter Apfelschnitze gebracht, und er hatte auf dem Flatscreen Comicserien angeschaut, bis er einschlief. Ums Bett herum hatten heruntergefallene Papiertaschentücher gelegen, die irgendwo in einer Fabrik hergestellt und ständig ersetzt und geliefert wurden, sie hatten kaum etwas gekostet. Die Mutter hatte über die Unordnung geschimpft, die Taschentücher aber für ihn eingesammelt. Und sein Vater hatte ihm ein Glas Wasser mit einer Vitamin-C-Brausetablette darin gebracht, die leise zischte.
Wie anders es heute war, krank zu sein. Alles, was er hatte, um wenigstens die Halsschmerzen zu lindern, waren getrocknete Salbeiblätter, welche die alte Selina letzten Sommer gesammelt und vorbeigebracht hatte. Sie rochen nach Staub und schienen nicht zu helfen. Immer, wenn er krank wurde, fürchtete Ludwig um sein Leben. Er sprach mit niemandem darüber, aber wenn er so mit heißem Kopf im Bett lag, betete er. Lass mich leben, lieber Gott. Er betete, dass es ein Virus war und keine bakterielle Infektion, weil er die Vorstellung hasste, an etwas zu sterben, das man in seiner Jugend mit einem einfachen Antibiotikum hätte heilen können. Er betete um Ruhe und Stärke. Wenn er überlebte, würde er Lisa fernbleiben, keinen Wein mehr trinken und Walter für seinen Ratschlag danken. Er würde überhaupt dankbar sein für das Leben, das er hatte.
Ludwig hatte keinen Appetit und nicht einmal Lust, die Hühner zu füttern, obwohl er das sonst gerne tat. Er hörte sie hinter der geschlossenen Tür der ehemaligen Küche gackern.
Er stellte sich ans Fenster und schaute hinaus. Der Schnee war halb geschmolzen, der Boden von Matsch bedeckt. Alles schien die gleiche graue Farbe zu haben, der Himmel, der Boden, die Häuser, das Gesicht der Nachbarin, die mit gebeugtem Rücken vorbeiging. Sogar das Salz war grau geworden, das hatte er gesehen, als er die Vorräte überprüft hatte, die langsam, aber sicher zur Neige gingen. Bald würde er trotz Fieber nach draußen müssen. Ihm schwindelte. Er setzte sich an seinen alten, zerkratzten Tisch. Hier hatte er Lisa gefragt, ob sie mit ihm fortgehen würde. Er hatte sich vorgestellt, wie Lisa, Sarah und er gemeinsam in einem anderen Dorf ein kleines Haus instand setzten, und dabei einen großen Frieden verspürt. Vielleicht würden sie sogar ein Kind bekommen. Eine kleine Schwester für Sarah.
Lisa hatte ihn zuerst angelächelt, aber dann wurde ihr Gesicht traurig. Ich kann Sarah und ihren Vater nicht voneinander trennen, hatte sie gesagt, und ohne Sarah kann ich auch nicht sein. Kurz darauf hatte sie ihm mitgeteilt, dass sie sich aus dem Weg gehen müssten.
Und doch hatte sie ihn am Fest wieder nach dem Mond gefragt. Ludwig blickte auf den Mondkalender, der an der Wand hing und jetzt nur noch drei Jahre in die Zukunft reichte. Er hatte die Seiten aus einem Astronomiebuch gerissen und aufgehängt, als er neu in das Haus gezogen war. Damals hatte er noch gedacht, dass der Mond bestimmt wieder klar am Himmel sichtbar sein würde, wenn er zum Ende des Kalenders kam, und dass er dann wissen würde, ob sie im Dorf das Datum richtig geschätzt hatten oder nicht.
Das Leben ist kurz, hatte Lisa einmal gesagt, wie um ihn zu trösten. Aber das stimmte nicht. Alle sagten, dass die Zeit schneller vorbeiging, wenn man älter wurde. Ihm schien eher, dass sie zunehmend stockte. Besonders im Winter, wenn man krank war, aus dem Fenster schaute und zusah, wie unendlich langsam am Morgen der Tag anbrach und wie lange es dauerte, bis der Nachmittag wieder in die Dämmerung überging.
Plastik
Nathanael streifte seine Schuhe und seine Jacke ab, betrat das Wohnzimmer und warf seine Tasche auf den Boden.
»Willst du, dass sich jemand den Hals bricht?«, fragte die Mutter. »Nimm die Tasche da weg.«
Sie saß mit Elias am Stubentisch, vor ihnen ein Blatt mit Rechenaufgaben. Wie ungerecht sie war. Ihn nahm sie von der Schule und Elias half sie beim Rechnen.
Nathanael hob die Tasche wieder auf, er spürte darin das Gewicht des Buches, das Hendrik ihm ausgeliehen hatte. Praktische Theologie.
»Ich hasse Hendrik«, sagte er.
»Was fällt dir ein!«, rief die Mutter. »Hendrik ist der gütigste Mensch, den ich kenne.«
»Ich hasse sein Büro und ich hasse seine dummen Bücher.«
»Ich warne dich«, sagte die Mutter.
Elias begann zu lachen. Die Mutter beachtete ihn nicht. Wieso konnte sich Elias alles erlauben? Nathanael wusste nicht einmal, ob Elias sich über ihn oder über die Mutter lustig machte.
»Geh auf dein Zimmer und denk nach, wie du weitermachen willst«, sagte die Mutter. »Du kannst auch zu deinem Vater in die Lehre gehen und Metzger werden. Elias, fang noch mal von vorn an.«
Nathanael schleppte sich die Treppe nach oben in sein Zimmer und schleuderte die Tasche mit dem Buch in eine Ecke. Er hoffte, dass es dort zu Staub zerfallen würde, es war sowieso schon alt. Wie eintönig und anstrengend das Leben geworden war, seit er nicht mehr in die Schule durfte.
Jetzt gab es nur noch Hendrik. Zu Beginn war er ja noch ganz freundlich gewesen. Doch mit jeder kritischen Nachfrage Nathanaels verlor er ein wenig mehr die Geduld. Heute hatte er gesagt, Nathanael müsse sich selbst auseinandernehmen und dann von Grund auf neu erschaffen, und dass er das immer schon gewusst habe, schon damals, als Nathanael ein kleiner Junge gewesen war und seinen Eltern nicht gehorcht hatte. Es fiel Nathanael schwer, das von sich zu weisen. Vielleicht erkannte Hendrik wirklich etwas in ihm, das schon immer da gewesen war. Er hatte etwas Kaltes an sich, das wusste Nathanael, etwas, das es möglich machte, dass er seinen Kinderglauben verloren hatte und dass er seine Eltern manchmal für ihre tiefe Religiosität verachtete. Seine eigenen Eltern. Nathanael legte sich aufs Bett. Er schaute an die Decke und versuchte, die Tränen zurückzuhalten. Weinen half nicht.
Die Mutter machte die Tür auf und blieb im Türrahmen stehen. Nathanael studierte die Schatten an der gemaserten Zimmerdecke. Vielleicht würde sie wieder gehen, wenn er sich nicht rührte. Aus den Augenwinkeln sah er, wie sie eintrat.
»Hör zu«, sagte sie und blieb auf halbem Weg zwischen Tür und Bett stehen. »In der ersten Zeit nach dem Tag Null waren Vater und ich ständig am Rand der Verzweiflung. Es gab nicht genug zu essen und es war kalt. Der Himmel war viel dunkler als jetzt. Eines Tages klopfte es an unsere Tür. Da warst du gerade zwei Jahre alt. Es regnete in Strömen. Draußen stand Hendrik, halb verhungert, triefnass. Mit Armen, so dünn wie die eines Kindes. Doch seine Augen strahlten. Er sprach von Gott und der Prophetin, von der ich damals noch nie gehört hatte, und ich spürte, dass sich unser Leben verändern würde. Ich ließ ihn herein, gegen Vaters Protest. Hendriks Hände glühten.«
»Ich weiß«, sagte Nathanael. Diese Geschichte hatte er schon tausend Mal gehört. Früher hatte er sich vorgestellt, dass die Hände des Predigers im Halbdunkel leuchteten, wie kühles Feuer, aber heute glaubte er nicht mehr daran. Hendrik hatte die Abschrift des Evangeliums bei sich getragen, in Plastik eingepackt. Die Mutter bewahrte die Plastikhülle bis heute auf, sie lag im schönen Schrank in der Küche. Die Abschrift selbst, verschmiert und jedes Jahr weniger lesbar, weil die Leute sie gerne berührten, lag in einem Holzschrein im Versammlungsraum.
»Wir haben sein Leben gerettet«, sagte die Mutter. »Und er unsere Seelen.«
»Ich weiß«, sagte Nathanael wieder. Wieso konnte sie nicht gehen und ihn in Ruhe lassen?
»Sei ihm dankbar, Nathanael, gerade du solltest ihm dankbar sein«, sagte sie. »Wir wollten aufgeben. Wir dachten, es gäbe keine Zukunft. Vater und ich hatten entschieden, dich auszusetzen. Besser, als zu dritt zu verhungern.«
Jetzt wandte Nathanael den Kopf der Mutter zu. Ihre Stirn war voller Falten, noch nie hatte sie so alt ausgesehen. Nathanael packte