Vom Leben getragen. Ajana Holz

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Название Vom Leben getragen
Автор произведения Ajana Holz
Жанр Сделай Сам
Серия
Издательство Сделай Сам
Год выпуска 0
isbn 9783863215606



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Teil des schweren Umgangs mit Tod in diesem Land zu erklären. Die letzten Überlebenden der Verfolgung aus unserer nahen Vergangenheit leben noch unter uns. Genauso wie die letzten Täter und die letzten Überlebenden der Kriegsjahre, die all die Grausamkeiten des Krieges noch miterlebt haben. Viele waren als Kind auf der Flucht und haben Schreckliches erlebt und mit ansehen müssen. Etliche Frauen haben (nicht nur im Krieg) Vergewaltigungen und sexualisierte Gewalt überlebt und ihr ganzes Leben zu vergessen versucht – bis sie manchmal im Alter tatsächlich alles vergaßen. Diesen Eindruck hatte ich jedenfalls schon oft bei der Bestattungsbegleitung, wenn ich dabei die Lebensgeschichte so mancher alten Frau von den Angehörigen erfuhr.20

      Die Nachkriegszeit war eine Zeit, in der über „diese Dinge“ in der Regel nicht gesprochen wurde. Die meisten versuchten, die schlimmen Kriegserlebnisse zu vergessen, oder haben sie verdrängt, um zu überleben. Manche sind Kinder von den Verbrechern, die so viele Menschen ermorden ließen oder es in den Lagern persönlich getan haben. Manche sind Kinder, deren ganze Familien in den Lagern ermordet wurden. Soldaten kamen an Körper und Seele verwundet nach Hause.

      All diese traumatischen Ereignisse hinterließen Spuren. Bei denen, die dies alles selbst erlebt hatten, aber auch bei ihren nach dem Krieg geborenen Kindern und Enkelkindern. medica mondiale ist eine feministische Frauenrechts- und Hilfsorganisation, die Frauen und Mädchen in Kriegs- und Krisengebieten unterstützt. Auf ihrer Website war im Dezember 2020 unter vielem anderen Folgendes zu diesem Thema zu lesen:

      „Um das Schweigen über ihre traumatische Familiengeschichte zu beenden, spricht die in Köln lebende Regisseurin Katja Duregger seit kurzem öffentlich über das Tabuthema Kriegsvergewaltigung. Ihre Großmutter wurde 1938 von italienischen Besatzern in einem Südtiroler Bergdorf vergewaltigt. In der Folge wurde ihr Vater geboren.“21

      Die Auswirkungen, die dies für so viele und über mehrere Generationen hinweg hatte und immer noch hat, reichen bis heute noch weit in unsere Gesellschaft, in unser heutiges Leben hinein. Und die Bedeutung von Vergewaltigung, die ganz gezielt als „Kriegswaffe“ benutzt wird, wurde zum ersten Mal in den 1990er-Jahren einer breiteren Öffentlichkeit bewusst, als die furchtbaren Vergewaltigungslager im sogenannten Bosnienkrieg entdeckt wurden.

      Über diese Gewalt, den Schmerz, das Entsetzen über die vielen Toten und die Trauer wurde zum damaligen Zeitpunkt und wird zu einem großen Teil bis heute nicht gesprochen. Das war und ist einfach zu überwältigend. Verdrängung war meiner Ansicht nach oft die einzige Möglichkeit, mit dem Leben in der Besatzungszeit (in der häufig weitere, bis heute tabuisierte Gewalterfahrungen für Frauen hinzukamen) irgendwie weitermachen zu können, denn es ging in diesen ersten Jahren hauptsächlich auch darum, die Trümmer der Zerstörungen des Krieges aufzuräumen, nicht zu verhungern, nicht zu erfrieren und alles Notwendige zum Leben zu beschaffen, um einfach nur zu überleben. So konnte es geschehen, dass nach dem Krieg bei vielen unerträgliche Erinnerungen wieder angerührt wurden, sobald nahestehende Menschen starben.

      Ein natürlicher Tod, der zum normalen Kreislauf des Lebens gehört, konnte von all der erlebten Gewalt und den sinnlosen schrecklichen Toden so vieler Menschen überschattet werden. Die Eltern und Großeltern waren deshalb oft nicht in der Lage, einen natürlichen, unbefangenen und angstfreien Umgang mit Tod und Trauer zu vermitteln. Auf allem lastete das Schweigen. Kinder aber spüren gerade das Unausgesprochene der Erwachsenen um sie herum sehr stark. Es ist davon auszugehen, dass sie das namenlose Entsetzen spürten und die Trauer, die nicht gefühlt werden durfte und zum Schock erstarrte, den viele in sich tief vergraben hatten. Sie nahmen die bedrückende Last der niemals ganz zu verarbeitenden Erlebnisse wahr, die so viele Eltern und Großeltern in sich trugen – und so manche trugen diese Last weiter. Niemand konnte mit den Kindern darüber reden und das hat vielen natürlich Angst gemacht. Die Erwachsenen haben zu dieser Zeit sicher so manches Mal bei Bestattungen nicht nur um die jetzt gerade zu betrauernden Toten geweint, sondern auch um jene furchtbaren Erlebnisse und um die Toten, um die sie während der Kriegsjahre nicht trauern konnten – auch um jene, die sie gar nicht persönlich kannten, aber nach einem Bombenangriff auf der Straße sehen mussten …

      Ähnliches erleben wir auch heute noch bei Trauerfeiern: So manche weinen und trauern bei diesen Gelegenheiten wohl noch um etwas, für das es zu einer anderen Zeit keinen Raum gab. Sehr oft erzählen uns Menschen, die wir begleiten durften, von lange zurückliegenden Abschieden, bei denen sie nicht so trauern konnten, wie es gut für sie gewesen wäre. Aber Trauer braucht Raum und Zeit – und eine angstfreie Begleitung.

      Vielen Menschen fällt es auch heute noch schwer, über den eigenen Tod zu sprechen, mit ihren Kindern oder ihren Lieben über ihre Bestattungswünsche zu reden, sich ihre Bestattung überhaupt vorzustellen, selbst dann, wenn sie schon sehr alt oder sehr krank sind. Das wird auch heute noch oft vermieden, manchmal von beiden Seiten: den Jüngeren wie den Alten. Die meisten Menschen wollen sich lieber nicht damit befassen, dass sie selbst oder geliebte, nahestehende Menschen einmal sterben könnten. Indem sie Gedanken daran oder Gespräche darüber nicht zulassen, glauben sie sich vielleicht davor sicher. Etwas, das in weiter Ferne liegt oder anderen zustößt.

      Ein solches Verhalten ist aber meist ein deutliches Zeichen von Angst. Und Angst vor Sterben und Tod bedingt leider auch Angst vor dem Leben.

       Krankenhaus, Heim, Bestattungsunternehmen …

      „Wie kam es, dass das Sterben langsam immer weniger weder örtlich noch zeitlich ins Leben passt, zunächst während das Herz noch schlägt und dann, wenn es nicht mehr schlägt?“22

      In den 50er- und 60er-Jahren fanden Geburt, Sterben und Tod mehr und mehr im Krankenhaus statt. Aus Tischlereien, die vorher nur den Sarg angefertigt hatten, weil die Menschen alles andere noch selbst übernahmen, entwickelten sich Bestattungsunternehmen. Zunächst um die Jahrhundertwende in den Städten und nur für reiche Menschen, später für alle BürgerInnen und schließlich auch auf dem Land. Für alle, die vorher noch mitten im Leben eingebettet waren: alte, kranke, sterbende, sogenannte „behinderte“ und kleine Menschen wurden nun mehr und mehr die jeweiligen Institutionen (Krankenhaus, Kindergarten, Alten- und Pflegeheim, Behindertenheim etc.) geschaffen und das Leben wurde weiter aufgeteilt in Lohnarbeit und unentlohnte Hausarbeit (Care- bzw. Sorge-Arbeit), öffentliches und privates Leben. Menschengruppen wurden nach Alter, Fähigkeiten und kategorisierten Bedürfnissen sortiert, voneinander getrennt in Einrichtungen untergebracht und von Fachpersonal betreut. Diese Trennung der Lebensbereiche und die Einteilung der Menschen, die uns heute so selbstverständlich scheint, gehört in dieser Weise also noch nicht lange zu unserem Leben und ist auch eine Folge der zunehmenden Industrialisierung.

      Auf dem Land ging diese Entwicklung langsamer voran. Manche erinnern sich sogar noch an die Zeit, als die Menschen zu Hause geboren wurden und zu Hause gestorben sind, an die Zeit der Hausaufbahrung und der Totenwache, über die ich später in diesem Buch noch sehr ausführlich schreiben werde. Damals gab es noch mehr Raum und Zeit für das Sterben mitten in unserem alltäglichen Leben.

      Gleichzeitig wird der Glaube an die Wunder der modernen Medizin und ihr Einfluss immer stärker. Waren manche alte Menschen in meiner Kindheit noch der Überzeugung, dass es besser ist, einen Arztbesuch oder gar einen Krankenhausaufenthalt zu vermeiden, um gesund zu bleiben, so hat sich das nach dem Zweiten Weltkrieg drastisch geändert. Verbunden mit einer zumeist sehr unkritischen Fortschrittsgläubigkeit und der allgemeinen Bewunderung der technischen Entwicklungen verloren die Menschen nach und nach viel von ihrem ursprünglichen Vertrauen in alte Hausmittel und ihre eigenen Fähigkeiten, viele Krankheiten zu überstehen, wenn sie zu Hause gut versorgt werden, gesund und zufrieden leben können, ihr Immunsystem stärken und sich genügend Ruhe gönnen können (was alles heute wieder neu entdeckt wird als wesentliche Grundlagen für das, was wir Gesundheit nennen). Die Anforderungen der Arbeitswelt im „Wirtschaftswunderland“ und das Konkurrenzdenken in einer wachsenden Konsumgesellschaft haben die früher funktionierenden Gemeinschaften und Nachbarschaftsnetzwerke geschwächt. Das war vor allen Dingen eine Entwicklung im Westen Deutschlands. Ostdeutsche berichten unter vielem anderen auch von einer größeren Solidarität in einer nicht auf wachsenden Konsum ausgerichteten Gesellschaftsform, die aber trotzdem noch sehr