Vom Leben getragen. Ajana Holz

Читать онлайн.
Название Vom Leben getragen
Автор произведения Ajana Holz
Жанр Сделай Сам
Серия
Издательство Сделай Сам
Год выпуска 0
isbn 9783863215606



Скачать книгу

immer wieder von Frauen und ihren Angehörigen3 bestätigt. Nach der Gründung meines eigenen Bestattungsunternehmens war für mich jedoch schnell klar, dass ein liebevoller und achtsamer Umgang für alle Geschlechter notwendig ist – für die Toten genauso wie für die Lebenden – und auch dringend gewünscht wird, denn das ist leider noch lange nicht selbstverständlich. Gleichzeitig ist meinen heutigen Mitarbeiterinnen und mir die Bedeutung von liebevollem Schutz für verstorbene Frauen und Kinder schon immer bewusst und daher ein besonderes Herzensanliegen.

      Später besuchte ich auch noch Green Undertakings, ein Bestattungsunternehmen, das ökologisch verträgliche Bestattungen in Naturschutzgebieten anbietet. Die Toten werden dort nur in ein Leintuch gehüllt auf eine Bastmatte gelegt und begraben. Ein Naturgrab ohne Grabmal und sichtbare Grabzeichen. Auch das gefiel mir sehr – und ist bis heute in Deutschland undenkbar.4

      Zurück in Deutschland suchte ich eine Möglichkeit, Bestatterin zu werden und bei einem Bestattungsunternehmen zu lernen.5 Mir wurde offen misstrauisch begegnet, weil ich eine Frau bin: „Die Drecksarbeit mit den Leichen ist doch keine Arbeit für Frauen!“6 Und weil ich etwas lernen wollte, das der damaligen Überzeugung nach doch kein Mensch freiwillig gerne tun würde: sich um die Toten kümmern. Das war mein erster Einblick in die Bestattungs(un)kultur dieses Landes. Ich habe später noch sehr viel mehr erfahren müssen über den „professionellen“ Umgang mit toten Menschen. Eine Folge der Trennung von Leben und Tod beziehungsweise der starken Verdrängung von Sterben und Tod aus unserem alltäglichen Leben – ein gesamtgesellschaftliches Problem, für das wir alle die Verantwortung tragen.

      Die Notwendigkeit einer Veränderung in der deutschen Bestattungskultur wurde für mich immer deutlicher. In kaum einem anderen Land (in Europa) ist Tod so ein Tabuthema, so angstbesetzt und so ins schwermütige Dunkel verdrängt wie hier. Ich glaube, fast nirgendwo sonst sind Menschen so stark von ihren Toten abgeschnitten, herrscht so viel Angst vor der Berührung mit toten Körpern, solch eine Angst vor dem Verfall. Kaum irgendwo sonst darf darüber so wenig geredet werden und schon gar nicht gescherzt …

      Nach einigen Rückschlägen fand ich schließlich eine Bestatterin, bei der ich lernen durfte. Zu dieser Zeit waren Bestatterinnen noch sehr selten. Ich bin bis heute sehr dankbar, dass ich mit ihr meine ersten Toten versorgen durfte.

      Am 31. Oktober 1999, am großen Fest- und Gedenktag für die Toten, konnten wir dann endlich DIE BARKE – Bestattung & Begleitung in Frauenhänden gründen, das erste mobile, bundesweite Bestattungsunternehmen. Den benötigten Gründungskredit hatten meine damalige Geschäftspartnerin und ich innerhalb von nur drei Monaten aus Kleinbürgschaften und Privatdarlehen zusammen – und das alles ausschließlich von Frauen!

      Mit meiner Krankheit lernte ich mit den Jahren zu leben und bin inzwischen glücklicherweise ganz gesund, aber ohne eine so umfassende Unterstützung für mich und meine Kinder hätte ich mich niemals mit der BARKE auf den Weg machen können, um vielen Menschen in diesem Land einen heilsamen Umgang mit Tod und Trauer zu ermöglichen, die Toten liebevoll zu begleiten und unsere Bestattungskultur wieder lebendig zu machen. Mittlerweile fahren meine Mitarbeiterinnen und ich in unserem weinroten Bestattungsbus (Rot ist die Farbe des Lebens) seit über 20 Jahren quer durch dieses schöne Land und begleiten die Toten bei ihrem Übergang und die Lebenden in Trauer beim Abschied von ihren Lieben.

      Wir versorgen nicht nur die Toten, wir begleiten sie auch. Denn genau das wird in unserer Kultur schon sehr lange nicht mehr gemacht. Ob wir es unsere „Seele“ nennen oder „Essenz“ unseres Wesens oder einfach unsere Körper: Die Toten werden hier bei uns nicht mehr angemessen begleitet. Doch mein Herzenswissen und das alte Wissen vieler auf dieser Erde sagen mir, dass alle in wichtigen Übergängen gut begleitet gehören, so auch im Tod. Dabei spielt es tatsächlich keine Rolle, ob wir an ein Leben nach dem Tod glauben, ob wir in irgendeiner Form religiös oder spirituell sind oder nicht. Das ist ein einfaches, elementares Lebensgesetz. Ein Gesetz der Würde.

      Die unselige Trennung von Körper, Geist und Seele, von Mensch und Natur hat so viel Leid und Zerstörung geschaffen, so viele von ihren Körpern und vom Leben entfremdet, im Glauben, alles kontrollieren zu können. Aber so ist Lebendigkeit nicht.

      Wir sind Erde. – Das werde ich immer und immer wieder sagen und schreiben: Wir sind Erde.

      Doch später mehr zu meiner, unserer Philosophie, unserer Sicht auf das Leben und zurück zur Einleitung dieses Buches: Wie gehen wir als Gesellschaft mit unseren Toten um? Oder: Welchen Umgang lassen wir zu? Ist unser Körper „nur eine Hülle“? Und welche Folgen hat diese Annahme? Wie geht das, in ganz Deutschland mobil zu bestatten und überall hinzufahren? Was ist alles bei einer Bestattung zu bedenken? Was ist erlaubt und was nicht? Wie war unsere Bestattungskultur früher, was ist bezeichnend für die heutige Kultur hier und anderswo? Wie ist der professionelle Umgang heute? Was hilft in tiefster Trauer?

      Das sind nur einige der Themen, über die ich in diesem Buch berichten werde. Es ist mir ein Herzensanliegen, viele Menschen möglichst umfassend über verschiedene Bestattungsmöglichkeiten und individuell unterstützende Abschiedswege zu informieren. Dieses Buch ist eine Grundlage für das Formulieren der ganz persönlichen Wünsche und das Finden des eigenen Weges beim Abschied – für sich selbst und beim Abschied von anderen. Und dieses Buch soll dabei helfen, viel von der Angst zu verlieren vor dem immer noch großen Tabuthema Tod. Dabei sterben jedes Jahr allein in Deutschland etwa 950.000 Menschen7 – mit seit Jahren steigender Tendenz. Das sind durchschnittlich etwa 2.600 Menschen pro Tag. Die meisten davon sterben eines natürlichen Todes. Diese alltägliche Tatsache ist wohl kaum jemandem wirklich bewusst.

      Wenn wir gerufen werden, dann kümmern sich meine Mitarbeiterinnen (meine Kolleginnen, die ich auch meine Mit-Bestatterinnen nenne) und ich meistens zusammen mit den Angehörigen um die toten Menschen und wir dürfen so immer weiter lernen vom Wunder dieses Übergangs. Von der Lebendigkeit und der Liebe, die sich im Tod entfaltet. Von der Kraft der Trauer. Vom Geheimnis dieses Zustands: Totsein. Was ist das? Wann ist das? Eine befreundete Geburtshebamme sagte einmal zu mir: „Je öfter ich Geburten begleite, desto weniger weiß ich, was Geburt wirklich bedeutet.“

      So geht es mir mit Tod. In dem Eingeständnis, dass ich bei Weitem nicht alles über ein so großes Ereignis wissen kann, liegt Respekt und tiefe Achtung vor diesem unaufhaltsamen, unerbittlichen Übergang, dessen Geheimnis sich uns wohl nie ganz erklären wird. Es ist eine schöne, anstrengende, herausfordernde, niemals eintönige Arbeit, denn sie spielt sich mitten im Leben ab. Und bei den beiden großen Übergängen ist das Leben ganz stark spürbar: Geburt und Tod – Geburt ins Leben und Geburt hinaus aus diesem Leben.

      Ich mag es, wie die Lebenden sich zeigen in dieser Zeit. Offen, verletzlich und ganz sie selbst. Oft nehmen wir in dieser kostbaren Zeit zwischen Tod und Bestattung die Trauernden „an die Hand“, nehmen ihnen die Angst vor dem Abschied und dem nahen Kontakt mit ihren Toten. Wir ermutigen sie, auf viele Arten in Berührung zu gehen: ihre Toten zu berühren, sich von ihrer Ausstrahlung berühren zu lassen und die starken Gefühle der Trauer zuzulassen – berührbar zu sein. Weil wir aus Erfahrung wissen, auf welche unglaubliche Weise dies helfen kann. Das beeindruckt sogar uns selbst immer wieder tief.

      Als Begleiterinnen sind wir da und geben Halt, wo es nötig und wo es gewünscht ist. Und genauso ziehen wir uns zurück und geben dem Alleinsein den nötigen Raum. Wir unterstützen die Menschen darin, das selbst tun zu können, was jetzt und in dieser Situation wichtig für sie ist. Und dies ist immer einzigartig.

      Einige Geschichten von berührenden Abschieden werde ich in diesem Buch erzählen. Und ein paar Geschichten werden sogar von Angehörigen selbst erzählt.

      Mein Wirken beinhaltet immer auch die Arbeit daran, den scheinbaren Gegensatz zwischen Leben und Tod ein wenig aufzulösen. Tod gehört nicht nur zum Leben, Tod gehört ins Leben. Zurück.

      Die Besinnung auf die alten, fast vergessenen Traditionen wie Totenwaschung, Hausaufbahrung und Totenwache ist dabei ein wesentlicher Teil. Ich mag es, wie die Toten noch einmal in ihrem ganzen Sein „aufleuchten“, wenn wir sie liebevoll versorgt und gebettet haben …

      Es ist sehr schön, ein Fest des Lebens mitzugestalten, wie es den Verstorbenen