Vom Leben getragen. Ajana Holz

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Название Vom Leben getragen
Автор произведения Ajana Holz
Жанр Сделай Сам
Серия
Издательство Сделай Сам
Год выпуска 0
isbn 9783863215606



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vorstelle (siehe Kapitel VIII: Literatur- und Medienempfehlungen, Adressen, Quellenverzeichnis). Da hören wir dann manchmal, diese Kinderbücher würden das Thema nicht ernst genug nehmen. Ich finde, hierzulande wird das Thema einerseits viel zu ernst genommen und andererseits leider überhaupt nicht in dem Umfang, wie es tatsächlich notwendig wäre.

      Diese Art von bestimmten, kulturell als richtig deklarierten „Betroffenheitsgefühlen“, die künstlich erzeugt werden, verhindert oft, dass wahrgenommen werden kann, was tatsächlich passiert, wenn ein Mensch stirbt, und wie wir uns wirklich damit fühlen. Und wie viele Fragen wir dazu haben …

      Bei der offensichtlichen Trauer fehlen dann vielen die Worte und Gesten des Mitgefühls, ein unterstützender und angemessener Umgang, der die Trauernden nicht alleine lässt und dennoch ihre Grenzen wahrt. Es fehlen ausreichend Möglichkeiten, die eigene Trauer miteinander zu teilen. Zu selten ist die Gelegenheit, diesen Umgang in unserem alltäglichen Leben zu erfahren und natürlicherweise schon von klein auf zu lernen. Er ist nicht mehr (und noch nicht wieder) ein selbstverständlicher Teil unserer Kultur. Glücklicherweise gibt es inzwischen zu Trauer aber schon viel Literatur und Angebote (siehe Kapitel VIII: Literatur- und Medienempfehlungen, Adressen, Quellenverzeichnis).

      Es ist offensichtlich für die meisten Menschen immer noch schwer, sich darüber bewusst zu sein, dass wir alle eines Tages sterben werden und dass ein Sterben spätestens zwischen 80 und 90 Jahren für die meisten von uns sehr wahrscheinlich ist. Nur sehr wenige von uns werden älter. Es kann nicht darum gehen, Sterben um jeden Preis zu verhindern. Wer will schon wirklich unsterblich sein? Es geht wohl eher darum, wie wir ein „gutes“ Sterben am Ende eines Lebens ermöglichen, also ein Sterben, bei dem die Sterbenden entsprechend einfühlsam und respektvoll begleitet und ihre Wünsche und Bedürfnisse selbstverständlich mit einbezogen werden. Hier gibt es schon seit Längerem immer mehr Angebote: ambulante Hospizdienste und -vereine, Hospizhäuser und Palliativstationen in Kliniken sowie ambulante Palliativ-Care-Teams, die sich am Ende eines Lebens, sei es durch Alter oder durch Krankheit, genau darum kümmern und meist auch sehr gerne Angehörige in dieser letzten Zeit einladen, sie begleiten und unterstützen.

      Natürlich sind wir alle traurig, wenn Menschen sterben, mit denen uns etwas im Leben verbunden hat. Trauer ist ein ganz natürliches und wichtiges Gefühl, über das ich später im Buch noch viel schreiben werde. Trauer bekommt jedoch gerade durch die heute noch weitverbreitete Verdrängung von Tod leider oft zu wenig Raum. Auf Beerdigungen tragen die Menschen in der Regel Schwarz. Schwarz ist (nicht nur) in diesem Land die traditionelle und kulturelle Trauerfarbe. Damit soll der Respekt vor den Toten und den Trauernden gezeigt werden, deshalb tragen auch wir Bestatterinnen bei der BARKE meistens dunkle oder schwarze Kleidung, außer Farbe ist erwünscht. Für die meisten Menschen ist es aber selbst dann undenkbar, bunte oder helle Kleidung auf einer Trauerfeier zu tragen, wenn die Verstorbenen sich das zu Lebzeiten ausdrücklich so gewünscht haben.

      Schwarz ist an sich natürlich überhaupt nichts Düsteres oder Negatives. Und ich persönlich mag Schwarz gerne: die Sternenschwärze der Nacht oder glänzender Obsidian oder schwarze Kleidung – und ich trage sie deshalb auch gerne bei Bestattungen. Unter vielem anderen symbolisiert Schwarz für mich Klarheit und Schutz, die ursprünglichste aller Farben. In vielen sehr frühen Kulturen finden sich die drei Urfarben Schwarz, Weiß und Rot in Wandmalereien oder auf Töpferware und kultischen Alltagsgegenständen, als die Bereiche Kunst, Alltag und Spiritualität, für mich sehr offensichtlich, noch nicht getrennt gelebt und empfunden wurden. Sie stehen für mich unter anderem für die Junge Frau, die Reife Frau und die Weise Alte oder auch für den Anfang/den Neubeginn, die Mitte des Lebens, das Lebensende. Schwarz symbolisiert häufig den Ursprung allen Lebens, das Nichts, aus dem alles geboren wurde, und steht gleichzeitig für Tod als zum Beginn dazugehörend – der Lebenskreis, in den auch alles am Ende wieder hineingeboren wird: zwei Geburten, die nicht voneinander getrennt zu fühlen und zu erleben sind – die Geburt hinein ins Leben und die Geburt hinaus aus diesem Leben. Von daher ist Schwarz eigentlich eine sehr passende Farbe für Trauer. Schwarz ist auch das Weltall, der unendliche Raum. Die Unendlichkeit, in der wir leben und sterben – gut aufgehoben in der Endlichkeit und der Gleichzeitigkeit9 im weiten schwarzen Raum, dem ständig sich wandelnden Kreislauf des Lebens, in dem wir uns im Großen und im Kleinen immer bewegen.

      Hingegen hat die heute noch mit Tod verbundene Düsternis jüngere historische Ursprünge. Die Geschichte dieses Landes ist geprägt von Gewalt, Unterdrückung und Verfolgung. Im Mittelalter wurde die Bevölkerung Jahrhunderte lang immer wieder mit brutaler Gewalt unterdrückt, ihres Landes enteignet und, trotz aller Widerstände, unter die Herrschaft von Klerus, Adel und Bürgertum gezwungen.10 In der frühen Neuzeit, bezeichnenderweise der Zeit der Renaissance und des Humanismus, gipfelte diese Unterdrückung schließlich in der weitreichenden Verfolgung und Vernichtung von hauptsächlich Frauen (Weisen Frauen, Heilerinnen, Hebammen, Kräuterkundigen … den Ärztinnen des Volkes) unter dem Namen „Hexenverfolgung“.11 Noch im 18. Jahrhundert wurden die letzten Frauen in diesem Land öffentlich verbrannt.12 Es gibt noch viel zu wenig ernsthafte Aufarbeitung der Ermordung der unzählbaren Frauen über 300 Jahre hinweg. Ihre Zahl lässt sich nicht mehr genau beziffern, aber im Verhältnis zur damals viel geringeren Bevölkerungsdichte müssen es wohl viele gewesen sein. Für mich kommt in vielen aktuellen Forschungsberichten, von denen es im Übrigen nicht gerade viele gibt, ganz offensichtlich ein Hang zur systemimmanenten Verharmlosung und Relativierung zum Ausdruck, wie das auch heute noch bei Femiziden (dem Mord an Frauen, weil sie Frauen sind) und anderen Gewalttaten gegen Frauen leider der Fall ist. Es gibt Quellen, die davon berichten, dass in Norwegen große Teile der weiblichen Bevölkerung mancherorts ausgerottet13 und in Frankreich „[g]anze weibliche Linien […] ausgelöscht“14 wurden: „Deutschland war neben der Schweiz jenes Land, in dem die Hexenverfolgungen aufkamen und ihr Epizentrum hatten“15 – hier hat in manchen Dörfern nach den Hexenprozessen nur noch eine einzige Frau überlebt.16

      Der Höhepunkt dieser Verfolgung, der übrigens nach unterschiedlichen Schätzungen neben 75 bis 90 Prozent Frauen auch Männer zum Opfer fielen, fand also nicht, wie viele meinen, im „finsteren Mittelalter“ statt, das im Übrigen bei Weitem noch nicht so finster war – und die kirchlichen und weltlichen Obrigkeiten gingen dabei häufig Hand in Hand und sehr systematisch vor.17 Doch darüber später im Buch mehr.

      Es folgte das Zeitalter des Kolonialismus, in dem die Kolonialherren überall auf der Welt unzähligen Völkermord an UreinwohnerInnen verübten beziehungsweise die Befehle für den systematischen Mord erteilten, wie zum Beispiel von deutscher Seite aus der Genozid an den Nama und Herero in Namibia, der bis heute noch nicht in aller Konsequenz von Deutschland anerkannt wurde. Bei diesen auf absolut grausame Weise verübten Genoziden überall auf der Welt sind Millionen Menschen ermordet worden18 und sie sind bis heute nicht annähernd aufgearbeitet oder angemessen anerkannt. Das ist ein sehr großes, schweres Thema, dem ich in diesem Buch sicher nicht gerecht werden kann – und über das die ganze Menschheit hoffentlich einmal gemeinsam wird trauern können. Das wünsche ich mir jedenfalls …

      Allein im 20. Jahrhundert gab es zwei Weltkriege mit unzähligen Toten und Schwerverwundeten, nicht nur unter den Soldaten, sondern auch unter allen anderen Menschen, die aber die meisten Kriegsdenkmäler nicht erwähnen. Auch heute noch leiden und sterben vor allem die ganz „normalen“ Menschen („Zivilbevölkerung“ genannt) in den Kriegen dieser Welt, an denen auch deutsche Unternehmen viel verdienen … Und schließlich gab es noch die Zeit des Nationalsozialismus, in der etwa sechs Millionen jüdische Menschen ermordet wurden. Dazu kommen die nichtjüdischen Toten und Verfolgten: russische und andere Kriegsgefangene, polnische Menschen, politisch Verfolgte, Sinti und Roma, homosexuelle Menschen, Menschen mit sogenannter Behinderung und zahlreiche weitere.

      Am Beispiel der Vergangenheit dieses Landes, in dem wir jetzt leben, wird überaus deutlich, welche weitreichenden Auswirkungen Kolonialismus, Krieg, Faschismus, Rassismus, Frauenhass und die daraus resultierende Gewalt haben und welche Folgen bis heute jeder Hass auf diejenigen hat, die zum Beispiel als „anders“ oder „fremd“ erklärt werden.19