Название | Der Philosoph |
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Автор произведения | Wilm Hüffer |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783947373758 |
Dr. Lenz schaute mich an, als trüge ich für diese Gedankenlosigkeit höchstselbst die Verantwortung. »Und was geschieht, wenn eine ganze Gesellschaft die Selbstreflexion einstellt? Wenn unsere Zeitgenossen über sich nicht mehr nachdenken? Haben Sie einmal versucht, sich das vorzustellen? Wissen Sie, was geschieht, wenn Sie nur noch umgeben sind von Leuten, die nichts tun, als ihre alten Gags zu wiederholen? Die überzeugt sind, jeder geringfügige Einspruch, jedes Widerwort sei ein Angriff auf ihre Person? Die in der Welt nichts sehen als eine täglich erneuerte Kränkung ihrer Selbstgewissheit? Wissen Sie, was das bedeutet?«, fragte mich Dr. Lenz mit unverändert aufgerissenen Augen, und es war klar, dass er irgendeine Katastrophe, ein wie auch immer geartetes Ende der Vernunft imaginieren wollte, das zugleich ein Ende der Freiheit, die Geburt einer neuen Diktatur, Krieg oder sonst etwas Bedrohliches bedeuten würde.
»Sie können leicht ermessen«, fauchte der Doktor, »was es in diesen Zeiten hieße, würde Hinrich Giers zum Schweigen gebracht. In einer Zeit, in der sich die meisten Menschen nur noch dafür interessieren, wie sie aus ihrer Borniertheit das Maximum herausholen können. Was das Gehirn zu brauchen scheint, um möglichst oft irgendwelche Glückshormone in den Körper zu schießen. Denn das ist alles, was vom Wunsch nach Selbsterkenntnis übriggeblieben ist«, rief er mit dem Blick zur Decke – und zu meiner höchsten Irritation begann er dabei hoch und meckernd zu lachen. »Wer ich bin, aus welchen Bestandteilen mein Ich besteht, kann ich nicht sagen. Aber ich möchte es genießen. Hehehehe! Keine Ahnung, worauf meine Existenz abzielt. Aber sagt mir, wie ich meinen Weg noch zielstrebiger weitergehen kann. Hehehehe! Mein Leben hat keinen Sinn. Aber das will ich richtig auskosten. Hehehehe!« Dr. Lenz lachte mit geschlossenen Augen, den Kopf nach hinten geworfen wie ein zerzauster Hahn, während ich meinen Blick auf die übriggebliebenen Brötchen mit dem vergilbenden Käse senkte. Nur langsam begann sich der Doktor zu beruhigen und schluckte die letzten Gluckser hinunter. »Ich kenne nur einen«, erklärte er schwer atmend, »der diesem … Unsinn entgegentreten kann, diesem … Geschwätz der Lebensberater und Fernsehphilosophen.« Düster musterte er mich und nickte mehrmals, um seinen Worten besonderen Nachdruck zu verleihen. »Dieser Mann hockt in der Villa eines Egomanen und ist nicht ansprechbar. Und nichts wäre schlimmer für uns, als wenn er sich zu den Vorgängen der Gegenwart nicht mehr äußern würde.«
20
Nicht, dass mir gleich klar geworden wäre, was dieser unerwartete Gefühlsausbruch zu bedeuten hatte. Doch ich muss zugeben, dass ich an diesem Abend zum ersten Mal von Dr. Lenz beeindruckt gewesen war. Hinter der unbewegten Fassade des Mannes, den ich in der »Sozialen Gesellschaft« oft genug als bloßes Verlautbarungsorgan des Professors erlebt hatte, waren immerhin Überzeugungen sichtbar geworden. Schnell jedoch zeigte sich, dass er das große Ziel unserer Mission nur deshalb so farbenreich noch einmal ausgemalt hatte, weil er inzwischen an meiner Zuverlässigkeit zweifelte. Konnte es schließlich ein Zufall sein, dass sein gerade erst ausgesandter Bote so unvermittelt einen Weg ausgerechnet zu Lou Wolf gefunden hatte? Und dass ausgerechnet diese Lou Wolf über die Macht zu verfügen schien, ihn, Dr. Lenz, von Hinrich Giers fernzuhalten, ihn, den legitimen geistigen Erben des Professors? Oder gingen hier Dinge vor sich, von denen er nichts ahnte und unter deren Einwirkung sich das Binsenburger Puzzle zu einem neuen, unheilvollen Bild zusammenfügte?
Mein Gastgeber erhob sich, stützte sich mit den Händen auf der Tischplatte ab, direkt vor dem Brötchenteller, und fixierte mich von oben herab. »Kennen Sie diese Schlierers von früher? Stehen Sie mit ihnen in einer Verbindung, von der ich nichts weiß?« Eine kurze Pause, ein bohrender Blick. »Gehören Sie ebenfalls zum Kreis dieser … Verschworenen in der Villa Mögen?« Wie ein Ermittler beugte er sich zu mir herunter. Nur die Befragungslampe fehlte. Beinahe hätte ich aufgelacht. Mit den Schlierers bekannt zu sein, war ein wundervoll absurder Gedanke. Irgendetwas dieser Art muss ich wohl auch erwidert haben, ohne dass Dr. Lenz mit meiner Antwort zufrieden gewesen wäre. Seine zweite Frage erreichte mich wie der Luftschwall aus einem Kühlregal. »In welcher Verbindung stehen Sie zu Louisa Wolf?« Ich spürte deutlich, dass er mein Zögern bemerkte. Was hätte ich antworten sollen? Er konnte von unserer früheren Beziehung längst erfahren haben.
Mir war klar, dass ich die Wahrheit sagen musste. Ich erklärte also, dass ich Lou Wolf – jawohl – geliebt hätte. Dass sie es gewesen sei, die mein Interesse für die Werke von Hinrich Giers geweckt, dass sie mich grundlos verlassen, später Julian Fleig kennengelernt habe, Mutter geworden sei und wir seither voneinander nichts mehr gehört hätten, bis sie mir heute, nach drei Jahren gegenseitiger Nichtbeachtung, im Haus der Schlierers unerwartet wiederbegegnet, sie mir mittlerweile jedoch gleichgültig sei und ich von ihrem Aufenthalt in Binsenburg nichts gewusst hätte, geschweige denn, dass ich einer Aufforderung von ihr gefolgt sei, in die Stadt zu kommen. Einzig das Interesse an Hinrich Giers und seinem Werk hätten mich zur Reise veranlasst, vor allem aber die Aufforderung des Doktors, mich an Ort und Stelle zu seiner Verfügung zu halten.
Dr. Lenz stieß sich mit seinen Händen von der Tischplatte ab. Wie zwei große, weiße Vögel flatterten sie über den Käsebrötchen auf. Er drehte mir den Rücken zu, verharrte so einen Moment und machte dann ein paar Schritte durch das halbdunkle Zimmer. Plötzlich drehte er sich auf dem Absatz um, trat wieder vor den Tisch und begann – ich vermag es nicht anders auszudrücken – zu brüllen. »Dann sagen Sie mir, weshalb mir Robert Schlierer empfohlen hat, Sie – ausgerechnet Sie – nach Binsenburg zu holen. Warum er behauptet hat, dass Sie … ein guter Mittler seien. Dass Sie das volle Vertrauen … das volle Vertrauen von Hinrich Giers besitzen würden!« Diese Frage überraschte mich nicht wenig – und kam vermutlich zu schnell, als dass ich über meine Antwort noch einmal hätte nachdenken können. »Ich habe mit dem Professor nie persönlich gesprochen«, erwiderte ich (vermutlich in ähnlicher Lautstärke wie der Doktor). »Ich habe ein paar Vorlesungen bei ihm gehört. Mehr nicht.«
Dr. Lenz sog Luft ein. Ich erwartete, dass er nochmals brüllen würde. Doch er schwieg, verschränkte die Arme vor der Brust und stierte mich an. Im Dämmerlicht des Zimmers leuchtete sein rotes Gesicht. Mag sein, dass er an die vergangenen Jahre in der »Sozialen Gesellschaft« gedacht hat. Daran, dass ihm kaum entgangen wäre, hätte zwischen Hinrich Giers und mir eine Verbindung bestanden. Möglich auch, dass ihm nun erstmals zu dämmern begann, worin die eigentlichen Beweggründe bestanden haben mochten, ihm meine Tätigkeit als Vermittler nahezubringen. Jedenfalls hob er schließlich den Kopf und flüsterte zwei Worte in die Stille: »Louisa … Wolf …« Dann schaute er mich an. Auf seinem Gesicht standen Schweißperlen. Aber er lächelte. Erst verstohlen, dann verschmitzt. Dann lachte er, nicht meckernd wie zuvor, sondern entspannt und mit geschlossenen Augen.
21
Der Doktor lachte noch lange und legte mir freundschaftlich einen Arm um die Schulter. »Glückauf!«, wünschte er mir. Ich solle mich vertrauensvoll führen lassen von meiner Lise. Er bemerkte nicht, wie wenig mir sein fader Scherz gefiel. Den Ernst der Lage schien er nicht zu begreifen. Hatten wir denn irgendeine Vorstellung von den Plänen, die Lou verfolgte? War es überhaupt sinnvoll, darauf zu hoffen, dass sie uns Zugang zur Villa Mögen verschaffen würde?
Nachdem ich auf meiner Matratze eine weitere Nacht damit verbracht hatte, die hellen Flecken auf der Tapete zu betrachten, die ein verschwundenes Leben anzeigten, hatte der Doktor gleichwohl nichts Eiligeres zu tun, als mich mit ein paar neu eingetroffenen, für Hinrich Giers angeblich bedeutsamen Briefen erneut zum Paradieshügel zu entsenden. Diesmal folgte ich den Stufen nicht bis auf die oberste Ebene, sondern bog unterhalb der Villa Mögen auf die Straße ab und erreichte schon nach wenigen Metern das Haus, in dem Lou verschwunden war. Vergeblich klingelte ich und schaute durch ein kleines Türfenster in die verlassene Diele. Ich wechselte auf die gegenüberliegende Straßenseite und versuchte mir von dem Haus einen genaueren Eindruck zu verschaffen. Das Dach war mit rotbraunen Schindeln