Название | Auch eine Rosine hat noch Saft |
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Автор произведения | Luise Lunow |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783967670073 |
Dann: Schlagartig Stille. Es war fast kurios: Wir alle – Kinder, Frauen, alte Leute – laufen in dieser höchst gefährlichen Situation aus den Kellern auf die Straße, stehen links und rechts an der mitten durch den Ort führenden Großbeerenstraße und hören die Schreckensnachricht: Die Russen sind schon am Ortseingang!
Es ist unglaublich, aber alle bleiben an der Straße stehen, auch ich stehe mit meiner Mutter und meiner kleinen Schwester am Straßenrand, doch alle hatten wahnsinnige Angst, es könnte noch irgendein Fanatiker aus einem Fenster schießen oder eine Handgranate werfen und damit einen Häuserkampf provozieren.
Plötzlich – kilometerweit zu sehen – ein russischer Soldat – er läuft mit schussbereiter Maschinenpistole mitten auf dem Damm aus Richtung Drewitz kommend an uns vorbei die Großbeerenstraße entlang, gefolgt von einem Offizier auf einem Motorrad und einem Panzer mit oben aufsitzenden Soldaten mit Maschinenpistolen.
Noch heute unvorstellbar: Wir stehen in dieser gefährlichen Situation wie versteinert am Straßenrand, keiner sagt ein Wort, niemand schießt – Babelsberg ist tatsächlich ohne Kampf übergeben worden.
Danach kam die kämpfende Truppe der russischen Soldaten. Wir hatten große Angst vor den doch sehr fremdartig und meist recht furchterregend aussehenden Männern, denen schreckliche Geschichten vorauseilten, und versteckten uns zitternd im Keller. Sie durchkämmten mit der Maschinenpistole in den Händen die Häuser auf der Suche nach deutschen Soldaten und wir hatten großes Glück; in unserem Haus wurde niemand verletzt, niemand vergewaltigt, nur einige Uhren wurden mitgenommen. Im Hause meiner Großeltern aber wurde die dort lebende Nichte ihrer Nachbarn, die 16-jährige, mit ihren langen dunklen Haaren bildhübsche Ellen von russischen Soldaten mitgenommen und, als sie zu fliehen versuchte, auf der Straße erschossen.
Auf unseren Nuthewiesen stellten die Russen ihre berüchtigten Stalinorgeln mit ihrem unerträglich pfeifend, sirenenhaft singenden Geheul auf und dann schickten sie Tag und Nacht ihre Raketen auf die Stadt Potsdam, die noch von deutschen Soldaten verteidigt wurde, und von dort schoss die deutsche Artillerie ihre Granaten zurück. Wir saßen weiter völlig verängstigt im Keller. Kurz darauf wurde von deutschen Soldaten die Lange Brücke gesprengt, um den russischen Truppen den Weg nach Potsdam zu erschweren. Sie war die wichtigste Verbindung über die Havel von Babelsberg nach Potsdam und zu dieser Zeit war sie voll mit Menschen, die vor den Russen flüchteten wollten. Ohne Rücksicht auf die dort laufenden Frauen und Kinder wurde sie einfach in die Luft gejagt. Auch eine Klassenkameradin von mir kam dabei ums Leben.
In den kurzen Feuerpausen stellten wir uns beim Bäcker nach Brot an, immer voller Angst von einer Granate getroffen zu werden. Kaum ging der Beschuss wieder los, stob die ganze Warteschlange auseinander und jeder suchte Schutz in einem nahen Keller. Es war ein verrücktes Leben, aber immer mit der großen Hoffnung, bald ist alles vorüber, bald ist Frieden.
Ein paar Tage später wurde das zerstörte Potsdam von den Russen eingenommen. Aber immer wieder wurden Parolen verbreitet »Der Werwolf kommt zurück, nehmt Eure weißen Tücher von den Fenstern, sonst erschießen sie Euch«. Der Werwolf, das waren fanatische deutsche Soldaten, die nach dem Einzug der Russen Angst und Schrecken unter der Bevölkerung verbreiteten, weil sie androhten jeden zu erschießen, der sich den russischen Truppen ergibt. Auch wir in unserem Haus hatten Angst – aber vor allem vor den russischen Soldaten. Wir schlossen das große Hoftor ab und versteckten alles Wertvollere, was wir noch besaßen, im Keller unter Kohlen oder hinter Bretterwänden, u.a. auch mein Akkordeon, das die ersten durchziehenden Soldaten schon sehr aufmerksam betrachtet hatten, aber als kämpfende Truppe nicht mitnehmen konnten. Eines Tages wummerten wieder Soldaten an das Tor und brüllten, dass wir aufmachen sollten. Nach längerem Herauszögern öffnete ein älterer Mann aus unserem Haus das Tor, worauf sie hereinstürmten und »Akkordeon, Akkordeon« riefen.
Meine Mutter hatte unser Akkordeon zwar inzwischen gut versteckt, aber aus Angst gab sie es gleich heraus und sie zogen glücklich mit ihrer Beute ab. Akkordeons waren bei den russischen Soldaten äußerst beliebt und man hört sie überall bei ihren Siegesfeiern auf der Straße.
Frieden
Bis zum 2. Mai 1945, dem Tag der bedingungslosen Kapitulation, gingen die Kämpfe in unserer näheren Umgebung weiter. Dann war plötzlich Ruhe – kein Geschützdonner mehr, keine Bomben – es ging wie ein Lauffeuer durch die Straßen – es ist Frieden. Keine Glücksschreie, kein Freudentaumel, nur grenzenlose Erschöpfung und Dankbarkeit bei uns, dass wir alles lebend überstanden hatten. Von den russischen Soldaten drangen Freudengesänge, Lachen und Ziehharmonika-Klänge zu uns herüber. Sie waren in einem regelrechten Glücksrausch der Sieger.
Wir krochen endlich aus den Kellern, in denen wir viele Monate fast ausschließlich auf provisorischen Liegen gelebt hatten, zurück in unsere Wohnungen.
Alles war dort sehr ungemütlich: Die Möbel und unsere Betten waren mit Decken und Tüchern gegen die Splitter abgedeckt, alles Entbehrliche wie Geschirr, Wäsche und Kleidung war in den Keller gebracht worden und es gab weder Wasser noch elektrisches Licht. Obwohl die Fenster mit Pappe vernagelt waren, weil alle Scheiben vom Luftdruck der Bomben und Granaten zerborsten waren und überall abgefallener Putz von den Decken und Wänden herumlag, waren wir glücklich, dass unser Haus noch stand, und begannen langsam unser Leben zu normalisieren. Kerzen ersetzten die Lampen und endlich konnten wir uns auch wieder waschen. Weil die Wasserleitungen noch nicht funktionierten, holten wir das Wasser in Eimern von einer Pumpe auf der Straße, vor der wir stundenlang anstanden. Aber nun gab es keine Bombennächte mehr und ich konnte das erste Mal nach Jahren wieder durchschlafen und mich zum Schlafen ausziehen, denn in den letzten Jahren musste ich immer angezogen ins Bett gehen, um bei Fliegeralarm keine Zeit zu verlieren und ganz schnell in den Keller zu kommen.
Ich erinnere mich an meine Geburtstage in der Kriegszeit. Meine Mutter schaffte es immer, uns Kindern trotz der sehr eingeschränkten Lebensmittelzuteilungen eine Geburtstagstorte zu backen. Die stand dann nachts, wenn die Sirenen heulten, schon auf dem Geburtstagstisch – einmal sogar mit Apfelsinen aus der Sonderzuteilung für die schweren Alarme – und wir schleppten sie mit in den Luftschutzkeller, aus Angst, sie könnte von den Bomben getroffen werden.
Wir Kinder eroberten uns nun vorsichtig wieder unsere Wiesen, kletterten waghalsig über die verrosteten Eisenträger der zerstörten Nuthebrücke und sahen mit Entsetzen die vielen Leichen und toten Tiere, die flussabwärts trieben und sich an der Brücke stauten.
Jetzt war der Krieg vorbei, aber der Hunger war groß und wir mussten sehen, wo wir was zu essen herbekamen. Wenn es hieß, heute gibt es beim Bäcker Brot, dann standen wir oft viele Stunden in einer langen Schlange, um ein halbes Brot zu ergattern. Die Brote wurden meist noch geteilt, damit möglichst viele in der Warteschlange etwas abbekamen. Oft waren sie dann noch ganz klitschig, das heißt innen nass, weil sie nicht richtig durchgebacken wurden, doch wir haben sie mit Heißhunger gegessen, auch wenn uns danach schlecht wurde. Mit dem Zentimetermaß haben wir zu Hause abgemessen, wie viel jeder in der Familie vom Brot abbekommen konnte, und wir hungrigen Kinder wurden dabei immer etwas besser bedacht als Mutter oder Großeltern. Doch wie oft war es ausverkauft, wenn wir an der Reihe waren, und wir mussten hungrig nach Hause gehen …
Alles war zerstört, viele Fabriken brannten. Aber es waren auch Lager mit Lebensmitteln darunter und so holten wir aus einer halb ausgebrannten Mühle in der Babelsberger Straße unter Lebensgefahr einen halben Sack Mehl und ein paar Tüten Zucker und mein Großvater ergatterte eine kleine Kiste Margarine. Natürlich waren überall noch die Plakate, dass Plündern unter Todesstrafe verboten sei, aber es gab nur die Alternative zu verhungern oder zu plündern. In der Nähe