Название | Auch eine Rosine hat noch Saft |
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Автор произведения | Luise Lunow |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783967670073 |
Auch Günter Thomas Meyer, ein naher Verwandter der Familie, der damals im Haus neben meinen Großeltern wohnte und dessen gesamte Familie ebenfalls beim Holocaust ermordet wurde, überlebte als Dirigent in Amerika und dirigierte Anfang der achtziger Jahre ein Konzert in Ostberlin mit dem Sinfonieorchester Berlin, zu dem er mich und meinen Mann einlud. Es war der Beginn einer engen Freundschaft bis zu seinem Tode im Jahre 2004.
Etwa 1940 sah ich übrigens zum ersten Male bewusst zwei junge Frauen mit dem gelben Stern auf der Brust. Ich weiß es noch genau, ich war auf dem Weg zu meiner Tante Alice, als ich im »Hasensprung« den zwei Frauen begegnete und ihr anschließend aufgeregt davon berichtete. Zu dieser Zeit lebten noch viele jüdische Familien im reichen Grunewald, deren Leben in dieser Zeit besonders bedroht war, und auf meine aufgeregten Fragen erzählte mir meine Tante mehr über das Schicksal und gefährdete Leben von Juden in dieser Zeit. Nach dem Krieg hat mich der Defa-Film »Ehe im Schatten« von Kurt Maetzig mit Ilse Steppat und Paul Klinger in den Hauptrollen tief beeindruckt. Ich habe ihn mindestens zehnmal gesehen und er hat mich immer an diese Begegnung erinnert. Ich habe oft darüber nachgedacht, welches Schicksal diese beiden unbekannten Frauen wohl erlitten haben. Auch das Gleis 17 auf dem Bahnhof Grunewald, von dem aus von 1941 bis 1945 über 50.000 jüdische Männer, Frauen und Kinder in die Vernichtungslager geschickt wurden, erinnert mich immer wieder an das grausame Schicksal dieser Menschen in der Nazizeit.
Ungefähr 1949 geriet ich als ganz junges Mädchen durch Zufall in eine Lesung von »Korczak und seine Kinder« mit Ilse Steppat in einem Saal in der Fasanenstraße in Berlin. Ich hatte auf einem Plakat von dieser Lesung erfahren und saß nun allein zwischen all den Menschen im Saal, die sich alle zu kennen schienen und sich sehr emotional umarmten und begrüßten. Ich glaube, ich war in eine Veranstaltung der jüdischen Gemeinde geraten, hinter mir saßen Arthur Brauner und seine bildhübsche junge Frau Maria. Ich glaube, fast alle in diesem Saal hatten nahe Angehörige, Eltern, Kinder, Geschwister oder Freunde in den Vernichtungslagern verloren. Bei »Korczak und seine Kinder« geht es um den Weg von jüdischen Kindern in die Gaskammer, auf dem ihr Lehrer sie begleitet. Mit kleinen Geschichten versucht er sie von der schrecklichen Realität abzulenken und ihnen ihre Angst zu nehmen. Es ist eine unglaublich erschütternde Erzählung, die im Saal unter all den betroffenen Menschen eine tiefe Trauer und Verzweiflung hervorrief; alle weinten und ihr verzweifeltes Schluchzen habe ich nie vergessen können. Durch diesen Abend begriff ich zum ersten Mal bewusst viel von dem Leid und der unfassbaren Grausamkeit gegen jüdische Menschen in Nazideutschland.
Geborgenheit
Ich muss noch etwas über die Eltern meiner Mutter erzählen, die mein Leben prägten und bei denen ich einen großen Teil meiner Kindheit und Jugend verbrachte.
Mein Großvater war ein Mann mit eisernen Prinzipien: Täglich um 7 Uhr begann er als Gärtner bei der Familie Pitsch mit der Arbeit, um 11.40 Uhr machte er Mittagspause, Punkt 12 Uhr saß er zu Hause am Mittagstisch, 10 Minuten nach 12 Uhr war er mit dem Essen fertig, 10 Minuten ruhte er auf dem Sofa, 5 Minuten vor halb 1 Uhr fuhr seine Bahn zurück und pünktlich um 12.40 Uhr begann er wieder mit der Arbeit. Er sprach wenig, liebte seine Ruhe und Behaglichkeit und ließ sich rundum von meiner Oma verwöhnen.
Übrigens, während die Familie Pitsch im Sommer im Urlaub war, wohnte einmal eine Familie aus der japanischen Botschaft in ihrem Haus, die eine kleine Tochter in meinem Alter hatte. Mein Großvater wurde gebeten, mich täglich als Spielgefährtin für die kleine Yoshi mitzubringen. Ich war so vier oder fünf Jahre alt und wir spielten wunderbar zusammen, fuhren die Katze im Puppenwagen spazieren, malten und hatten jeden Nachmittag eine Stunde Akrobatik mit einer extra dafür ins Haus kommenden Lehrerin. Ich fand alles aufregend schön. Zu Mittag aßen wir meist auf der Terrasse Gerichte, die ich nicht kannte, aber die ich neugierig probierte. Einmal gab es leckere Eierkuchen, als sich plötzlich eine Biene auf Yoshis Eierkuchen setzte; sie wurde vertrieben, aber sofort wanderte der gesamte Eierkuchen in den Müll und ein neuer wurde serviert. Ich konnte es nicht fassen, der ganze wundervolle Eierkuchen wurde weggeworfen – nur weil eine Biene davon gekostet hatte! Am Abend erzählte ich es aufgeregt meiner Oma, die kopfschüttelnd sagte, ja, Kind, das ist sehr traurig, denn man hätte den schönen Eierkuchen ruhig weiteressen können – auch wenn genug Geld für viele neue da ist. Und Essen wegzuwerfen, das wäre bei meiner sparsamen Oma nie passiert.
Sie war stets der Mittelpunkt in unserer Familie, meine über alles geliebte Großmutter, meine Oma Luise, deren Namen ich eigentlich als Zweitnamen führe, aber den ich inzwischen in liebevoller Erinnerung an sie zum Erstnamen gewählt habe. Zu ihr ging ich täglich nach der Schule, aß dort zu Mittag, machte meine Schularbeiten am großen Küchentisch, und dann wartete sie oft schon feingemacht mit alter, goldener Halskette und Handtasche auf mich, um zu »verreisen«, das heißt, wir fuhren mit der S-Bahn zu Geburtstagen oder den verschiedensten Anlässen in allen Teilen Berlins und ich durfte sie begleiten. Einmal waren wir bei ihrer Schwester Linda in Stahnsdorf zum Geburtstag, die einen Bauernhof mit Kuhstall hatte. Als ich die Kühe im Stall besuchte, rutschte ich aus und fiel in die Abflussrinne voller Kuhscheiße. Mein schönes weißes Kleid war hin, ich stank entsetzlich, alle lachten, ich wurde in den Wasserkübel gesteckt, abgeschrubbt und musste in geliehenen Sachen nach Hause fahren. Meine Oma hatte später viel zu tun, um den Gestank wieder aus meiner Kleidung herauszuwaschen.
Sie ist bei bester Gesundheit und klarem Kopf genau wie mein Großvater 92 Jahre alt geworden. Sie war witzig, einfallsreich, stets guter Laune und eine wunderbare Zauberköchin, die auch in schlechtesten Zeiten immer etwas Gutschmeckendes – meist Eintopf – auf den Tisch brachte. Selbst Kohlrüben, Brennnesseln als Spinat gekocht, Wirsing- und Weißkohl wurden zum Leibgericht von uns Kindern. Besonders »schmackhaft« allerdings wurde uns das Essen sehr oft durch meine Mutter gemacht, die alle Kinder um sich herum versammelte, mit dem Löffel rundum fütterte und dabei die von ihr selbst erdachten Geschichten von Paul und Klärchen erzählte. Die waren für uns so spannend, dass wir immer noch um Nachschub bettelten, nur um weiter zuhören zu können. Als besondere Belohnung gab es sogar hin und wieder Kompott, aber immer nur in kleinsten Portionen, und so war mein sehnlichster Traum als Kind, mich einmal an Erdbeerkompott satt essen zu können. Als ich mein erstes eigenes Geld verdiente, habe ich diesen Traum wahr gemacht, habe mir ein großes Glas Erdbeerkompott gekauft und es hintereinander aufgegessen, bis mir schlecht wurde.
Aber meine Oma hatte auch so einige »Scherze« drauf. Als später einmal ein Freund bei mir übernachtete, schüttete sie ihm, als er morgens leise aus der Haustür trat, einen Topf Wasser über den Kopf – zur »Abkühlung«, wie sie lachend zugab. Zum Glück hatte er Humor und ertrug die kleine Morgenwäsche mit Fassung – abgekühlt hat sie seine leidenschaftliche Liebe zu mir allerdings nicht.
Ein Spatz, ein Dorf und andere Begebenheiten
In meine Klasse ging während der Kriegsjahre ein Mädchen, das aus einem Dorf bei Stendal kam und das vorübergehend bei ihrer Tante in Potsdam lebte, um eine bessere Schulbildung zu erhalten. In ihrem Dorf Niedergörne bei Arneburg gab es nur eine Ein-Klassenschule, in der ihr Vater der Schulmeister und zugleich der Schäfer des Dorfes war. Sie hieß Edith Baucke, war ein liebes, intelligentes, rotbäckiges Mädchen, und wir freundeten uns bald an.
Kurz vor Ende des Krieges, als Potsdam bei dem großen Bombenangriff zerstört wurde, holten ihre Eltern sie besorgt wieder nach Hause zurück. Wir schrieben uns regelmäßig, und ein paar Monate nach Ende des Krieges lud sie mich ein, in den Ferien ein paar Wochen in ihrem Dorf zu verbringen, um mich mal wieder richtig satt essen zu können. Ich freute mich wahnsinnig, denn trotz der bei Kriegsende erbeuteten, gehamsterten oder auf andere Weise herangeschafften Lebensmittel litten wir unter großem Hunger. Selbst Kartoffelschalen und Brennnesseln wurden gekocht, Bucheckern gesucht und mühsam ausgepalt. Alles, was irgendwie entbehrlich war – Wäsche, Bestecke, Teppiche, Kleidung, Schmuck – wurde unter großen Schwierigkeiten auf dem Lande beim Bauern gegen etwas Essbares, also Kartoffeln, Eier, Speck oder Mehl getauscht, meist weit unter dem Wert, aber wir hatten keine Wahl und wollten leben. Wir hingen dabei wie die Affen auf Trittbrettern und Dächern der völlig überfüllten