Название | Auch eine Rosine hat noch Saft |
---|---|
Автор произведения | Luise Lunow |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783967670073 |
Nie hätte ich geglaubt, dass ich einmal in einem dieser Häuser am See wohnen würde, und wenn ich heute an meinem Fenster stehe und an sonnigen Tagen die Schwäne auf dem Königssee beobachte, ist dieser Blick fast kitschig schön, beinahe unwirklich und macht mich traurig und glücklich zugleich. In der Großstadt Berlin, nur einen Kilometer vom Ku'damm entfernt, mit so einem Ausblick wohnen zu dürfen, halte ich für ein ganz besonderes Geschenk in meinem Leben, das mir keineswegs in die Wiege gelegt wurde.
Aber – ich bin ein Sonntagskind. Allerdings war es ein Sonntag, der 13., als ich geboren wurde, und so geht es in meinem Leben stets zu, wie auf einer Achterbahn, mal rauf, mal runter und um äußerst gefährliche Kurven. Eben stehe ich noch glücklich in der Sonne, platsch, liege ich in der Pfütze und versuche verzweifelt zu schwimmen. Meine Mutter hat sich während ihrer Schwangerschaft mit mir fast nur von Apfelsinen ernährt und so wurde ich ein Apfelsinenkind, voll südlicher Sonne, heiter, optimistisch und mit großer Lebensfreude. Auch ein bisschen von der kindlichen Naivität ist mir durch all die Jahre erhalten geblieben und der unerschütterliche Glaube an das Unerwartete, das Schöne, das Besondere, das im Leben immer noch kommen könnte …
Schon als Baby im Kinderwagen war ich neugierig auf die Welt und beobachtete mit großen Augen alles, was um mich herum geschah.
Kaum konnte ich laufen, bestand ich darauf, allein zum Bäcker zu gehen und die morgendlichen Schrippen zu holen. Begegnete ich dabei Nachbars Schäferhund, bot ich ihm ein frisches Brötchen aus meiner Tüte an, doch er leckte es nur ab und ließ es fallen, sodass ich es enttäuscht wieder aufhob und zum Frühstück nach Hause brachte.
Geboren wurde ich in Nowawes. Wo das liegt? Zwischen Potsdam und Berlin und es trägt heute den schönen Namen Babelsberg. Friedrich der Große siedelte dort Mitte des 18. Jahrhunderts böhmische Weber mit der Heimatsprache Tschechisch an und nannte es Nowa wes, also »Neues Dorf«. Als kleiner Vorort – dicht angeschmiegt an Potsdam, unmittelbar neben Berlin – trug er fast 200 Jahre bis 1938 diesen Namen und besitzt neben einem prächtigen Rathaus und vielen alten Weberhäuschen einen wunderbaren naturbelassenen Park mit einem verwunschenen Schloss und das berühmte Filmgelände der ehemaligen UFA.
Wir bewohnten dort fernab von allem Glimmer nur eine schmale Stube mit einer nicht beheizbaren Kammer im oberen Stockwerk eines kleinen, zweistöckigen Hauses in der schmalen Gasse Bäckerstraße Nr. 5. Und in dieser Stube erblickte ich das Licht der Welt. Nun ja, von Licht kann man allerdings kaum reden, denn es bestand nur aus einer schwachen Glühbirne, die meine Geburt beleuchtete. Doch ich kämpfte mich tapfer aus dem warmen Bauch meiner Mutter kopfüber hinaus, begrüßte nach stundenlanger harter Arbeit die Welt mit einem hellen Jubelschrei und wurde ihr in die liebevollen Arme gelegt, von denen ich mich zeitlebens gewärmt und beschützt fühlte. Die ersten vier Jahre verbrachte ich in dieser engen, kalten Wohnung im Dachgeschoss, wollte unbedingt in den Kindergarten gleich nebenan, um mit den vielen Kindern zu spielen, packte dort aber bereits am ersten Nachmittag meine Sachen wieder zusammen, nahm meine Mutter an die Hand und sagte fest entschlossen: »Hier gehe ich nie wieder hin, hier ist es doof, hier müssen alle Kinder stillsitzen!« Ich musste auch nicht, denn meine Mutter war wie mein Vater arbeitslos und freute sich darauf, den Tag mit mir verbringen zu können. Es war die Zeit der großen Arbeitslosigkeit und mein Vater, ein gelernter Lackierer, durfte sich wöchentlich ganze fünfzehn Mark für seine Familie von der Stempelstelle abholen. Zwar versuchte meine Mutter unsere Haushaltskasse etwas aufzustocken und ging so oft wie möglich putzen, aber auch das brachte nur wenige Mark ein und half kaum, unsere beständige Geldnot zu verringern.
Doch trotz allem war ich ein gewünschtes, geliebtes und glückliches Kind. Meine Mutter häkelte mir aus bunten Wollresten hübsche Kleider und verwöhnte mich mit ihrer grenzenlosen Liebe. Ihr Schrecken war groß, als ich einmal ausnahmsweise allein auf dem Hof spielte, ein Schwein aus der benachbarten Schlachterei ausbrach und auf mich los stürmte. Ich lief schreiend davon und brach mir beim Hinfallen den Arm. Obwohl ich erst zwei Jahre alt war, kann ich mich noch gut daran erinnern.
Auch den Besuch meiner Großeltern zu dieser Zeit habe ich nicht vergessen. Die Eltern meines Vaters, »Russland-Oma« und »Russland-Opa«, lebten zu dieser Zeit in Moskau und brachten mir wunderschöne rot-golden bemalte Teller aus Holz und Matrjoschkas mit – das waren kleine, ineinandergesteckte Holzpuppen, die lustige Gesichter hatten und jahrelang zu meinem liebsten Spielzeug gehörten. Mein Großvater war 1930 aus der bedrückenden Arbeitslosigkeit einem Angebot aus der noch jungen Sowjetunion gefolgt, die dringend Facharbeiter suchte, und arbeitete dort als Maschinen-Spezialist. Er hatte seine Frau und das jüngste von ihren fünf Kindern, die 17-jährige Tochter Lotte, mitgenommen, ein hübsches, intelligentes, aufgeschlossenes Mädchen, das schnell mit ihm zusammen die russische Sprache erlernte, Arbeit bekam und sich in Moskau bald sehr wohl fühlte. Meiner Großmutter dagegen fiel das Umgewöhnen schwer; sie sperrte sich gegen die fremde Sprache und das ungewohnte Leben, blieb zu Hause, bekam keinen Kontakt zu Nachbarn oder Kollegen und sehnte sich voller Heimweh immer nur nach Deutschland zurück …
Ein schreckliches Unglück beendete wenige Jahre später schneller als geplant den Aufenthalt meiner Großeltern in Moskau. Sie hatten dort eine für damalige Verhältnisse sehr komfortable Wohnung mit Bad und Gas-Durchlauferhitzer. Eines Abends – sie schliefen im Nebenzimmer – hatte Lotte noch gebadet. Die Gasflamme war aber aus irgendeinem Grunde erloschen und während sie badete, strömte das Gas aus; sie wurde bewusstlos und ertrank in der Wanne. Als ihre Eltern sie ein paar Stunden später entdeckten, konnte ihr niemand mehr helfen.
Meine Großeltern hat dieses Unglück völlig aus der Bahn geworfen. Sie kehrten sofort nach Deutschland zurück, obwohl die Nazis inzwischen an der Macht waren und mein Großvater als ehemaliger Stadtverordneter der KPD in Babelsberg unter ständiger Kontrolle stand und sich regelmäßig bei der Polizei melden musste.
Innerhalb weniger Jahre verloren sie auch ihr zweites Kind, ihren Sohn Otto. Er war Anfang 30, charmant, begabt, sehr gut aussehend und äußerst beliebt. Er hatte einen guten Beruf, ging gern aus, verführte hübsche Mädchen und war voller Lebenslust. Plötzlich begann er sich im Wesen zu verändern. Er machte großartige, unsinnige Einkäufe, gab Bestellungen für Dinge auf, die er nie bezahlen konnte. Die unbezahlten Rechnungen stapelten sich, doch er ignorierte sie einfach und war völlig ohne Schuldgefühl. Er machte wertvolle Geschenke an Freundinnen und Freunde – bis eines Tages die Gerichtsvollzieher kamen. Meine Großeltern hatten während der ganzen Zeit verzweifelt versucht ihm zu helfen, aber es war völlig aussichtslos, und so mussten sie ihn schließlich wegen Schizophrenie in die Heilanstalt für Geisteskranke in Brandenburg-Görden einweisen lassen. Sie hofften dabei fest auf seine baldige Rückkehr in ein normales Leben. Aber nur wenige Monate später wurde ihnen die Asche ihres Sohnes übergeben mit der lakonischen Mitteilung, er sei plötzlich an einer »Lungenentzündung« gestorben. Kurz darauf erfuhren sie von einem befreundeten Pfleger, dass er – wie so viele seiner Leidensgenossen – ein Opfer der Euthanasie geworden war, der Massentötung der Nazis von »unwertem« Leben. Seine Asche wurde auf dem dortigen Friedhof beigesetzt. Meine Großmutter und ich haben später oft sein Grab besucht. Bis zum Ende ihres Lebens litt sie darunter, dass es ihr nicht gelungen war, ihre beiden Kinder besser zu beschützen.
Als ich vier Jahre alt war, zogen wir in eine größere Wohnung – zwei Zimmer und Küche, allerdings ohne Bad und die Toilette eine halbe Treppe höher auf dem Außenflur – in der Heinrich-von-Kleist-Straße Nr. 11. Mein Vater hatte in der Lokomotiv-Fabrik Orenstein & Koppel endlich wieder Arbeit als Lackierer gefunden. Wir wohnten nun in einem großen Mietshaus mit vielen Kindern und zwei Aufgängen für 17 Familien. Der rechte Aufgang hatte die größeren und besseren Wohnungen mit Bad und Balkon; wir wohnten in den billigeren Wohnungen im Seitenaufgang links, zweiter Stock. Besitzerin war die alte, sehr strenge Frau Knoop in der ersten Etage im Vorderhaus, vor der wir uns alle fürchteten, die nicht duldete, dass wir Kinder im Hof spielten und streng darauf achtete, dass wir