Название | Auch eine Rosine hat noch Saft |
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Автор произведения | Luise Lunow |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783967670073 |
Anschließend fuhren wir sie mit dem Handwagen zur Rolle, wo dann die großen Stücke wie Bettwäsche oder Tischtücher mit einer schweren Handkurbel glatt gerollt wurden. Kein Wunder, dass die Waschtage zu den gefürchtetsten in jedem Haushalt gehörten.
Zu den Festtagen wurde eine große Tafel gedeckt und dabei ging es oft sehr lustig zu – besonders Tante Anni aus Prenzlauer Berg mit ihrer großen Berliner Schnauze trug zur allgemeinen Erheiterung bei und erzählte unzählige spannende Geschichten aus ihrem Leben, die uns Kinder vor Lachen fast unter den Tisch warfen. Die Männer spielten stundenlang Schach – mit Zigarette oder noch besser Zigarre im Mund, und Opa rauchte seine Pfeife, die er selten ausgehen ließ und immer wieder bedächtig neu stopfte, später, nach dem Krieg, sogar mit selbst gezogenem und auf einer Leine im Wohnzimmer getrocknetem Tabak.
Bei einem solchen Fest an einem Nachmittag langweilten wir Kinder uns und kamen auf den Einfall, zum gegenüberliegenden Bahnhof zu gehen, mit der S-Bahn nach Potsdam zu fahren, dort in den Fernzug Richtung Berlin zu steigen, der in Wannsee halten musste, und dann mit der S-Bahn zurück nach Babelsberg zu kommen. Wir waren drei, vier, sechs, sieben und neun Jahre alt, lösten also zwei Fahrkarten nach Potsdam zu je 20 Pfennige für uns beiden Größeren, stiegen in die S-Bahn und in Potsdam in den nächsten D-Zug Richtung Berlin. Wir blieben im Gang stehen und kein Kontrolleur befragte uns, da man glauben konnte, wir gehörten zu den übrigen Fahrgästen. Wir fuhren an Omas Wohnung vorbei und freuten uns wie die Schneekönige, als wir die nichtsahnende Verwandtschaft durchs offene Fenster im Zimmer sitzen sahen. Gleich würden wir in Wannsee sein und umsteigen in die S-Bahn, um zurückzufahren. Aber – oh Schreck – der Zug durchfuhr den Bahnhof Wannsee und hielt auch nicht in Grunewald oder Charlottenburg. Langsam verging uns das Lachen. Endlich Bahnhof Zoo – der Zug hielt. Wir rannten zum S-Bahnsteig, aber – wir hatten keine Fahrkarten für die Rückfahrt und kein Geld!! Und es war inzwischen auch schon dunkel geworden, die Familie würde uns suchen! Damals gab es ja noch die Sperre mit einem Knipser und Kontrolleur am Eingang zum Bahnsteig. Wir überlegten aufgeregt und kamen endlich zu dem Schluss: Wir müssen betteln! Also gingen mein ältester Cousin und ich zu den Leuten am Bahnhof und sagten: »Entschuldigen Sie, haben Sie vielleicht zehn Pfennige für uns, wir haben keinen Fahrschein und müssen nach Hause.« Einige Leute schüttelten den Kopf, aber andere gaben uns das Geld, beobachten aber genau, ob wir wirklich Fahrkarten kaufen würden. Glücklich und erleichtert fuhren wir die 40 Minuten lange Strecke nach Babelsberg zurück, klingelten zu Hause und sahen, dass alle noch am Kaffeetisch saßen, plauderten und nicht mal bemerkt hatten, dass wir fast drei Stunden lang verschwunden waren. Erzählt haben wir die Geschichte erst viel später – sonst hätte es wohl doch noch ein Donnerwetter gegeben.
Erna – ein Leben ohne Beine
In dieser Zeit war eine Freundin meiner Mutter – unsere Tante Erna – eng mit unserer Familie verbunden. Sie war als 17-jähriges Mädchen von ihrem Freund schwanger geworden – zu jener Zeit eine unerhörte Schande. Ihre Eltern waren entsetzt und machten ihr schwere Vorwürfe. Und obwohl ihr Freund sie liebte und sie schnell heiraten wollte, stürzt sie sich eines Abends verzweifelt und voller Panik vor einen Zug, der ihr beide Beine bis obenhin abfuhr. Bewusstlos blieb sie eine ganze Nacht lang unbemerkt im Gebüsch neben den Gleisen liegen. Erst am nächsten Morgen entdeckte man sie und wie durch ein Wunder war sie nicht verblutet. Sie wurde gerettet, aber das Kind musste ihr abgenommen werden und ihr Freund trennte sich von ihr. Trotz ihres schweren Schicksals imponierte sie mir meine ganze Jugend hindurch mit ihrem Optimismus, ihrer Lebensfreude und ihrem Lachen, das sie wiedergewonnen hatte. All ihre Kraft, die sie für ihr ungeborenes Kind gebraucht und nicht gehabt hatte, fand sie nun zurück. Mit ihren beiden Prothesen und zwei Krücken stieg sie jede Treppe hoch, kam zu unseren Geburtstagen, unternahm mit ihrem Rollstuhl Reisen, ging ins Theater und konnte selbst nicht mehr begreifen, wie leicht sie einmal ihr Leben wegwerfen wollte. Wenn sie bei uns übernachtete, schnallte sie ganz selbstverständlich ihre Beinprothesen ab und bat mich, sie an die Wand zu lehnen. Etwas beklommen sah ich dann auf ihre Beinstümpfe und die Prothesen, aber sie machte ein paar witzige Bemerkungen über ihre »Holzstelzen«, lachte und machte sie damit ganz selbstverständlich zur Normalität. Nur wenig später im Krieg begegnete ich überall auf den Straßen verwundeten Soldaten, die Arme oder Beine verloren hatten, und auch dieser Anblick gehörte bald zum Kriegsalltag.
Meine Tante lernte nach dem Krieg einen Mann kennen, dem eine Granate beide Arme weggerissen hatte. Sie heirateten und haben sogar ihren Haushalt selbst bewältigt, gekocht, sauber gemacht, Wäsche gewaschen und gemeinsam eingekauft. Sie fuhr mit ihrem Rollstuhl und lud ihn voll mit den Einkaufstaschen, die sie dann beide in die Wohnung schleppten. Und da er keine Arme hatte und sie an zwei Krücken ging, benutzten sie Umhängetaschen. Mit einer erstaunlichen Geschicklichkeit und großem Einfallsreichtum schafften sie sich trotz ihrer Behinderungen ein glückliches und selbständiges Leben. Später, als sie alt waren und nicht mehr allein für sich sorgen konnten, mussten sie in ein Pflegeheim, aber da es damals in der DDR nur getrennte Heime für Männer und Frauen gab, bekamen sie kein gemeinsames Zimmer, sondern wurden in verschiedenen Häusern untergebracht. Alt und behindert war es ihnen unmöglich, sich gegenseitig zu besuchen, und so wurden sie für das Ende ihres Lebens getrennt. Jeder starb für sich allein – ohne dass sie sich noch einmal wiedersehen konnten.
Der gelbe Stern
Mein Großvater war gelernter Gärtner und hat fast sein ganzes Leben lang für die jüdische Familie Pitsch in Neubabelsberg – später hieß es Ufa-Stadt und heute Griebnitzsee – als Privatgärtner gearbeitet, erst bei den Eltern, dann beim Sohn Ernst und dessen junger Frau und den zwei Kindern.
Die Familie Pitsch hatte eine Textilfabrik in Babelsberg und war mit meinen Großeltern zeitlebens sehr befreundet. Mein Großvater legte die wunderbare, riesige Gartenanlage mit Tennisplatz und Spalierobst an, betreute Haus und Garten und blieb auch bei der Familie, als sie von den Nazis gezwungen wurde, ihr großes Haus abgeben und ins Gartenhaus zu ziehen und ihr Leben von unzähligen Schikanen bedroht wurde. In der Progromnacht im November 1938 wurde Ernst Pitsch verhaftet, sein Auto angesteckt und verbrannt. Mein Großvater erzählte damals aufgeregt, dass selbst die Schulmappe des kleinen Sohnes Werner mit allen Schulbüchern mitverbrannt sei und die Familie von SA-Leuten bedrängt wurde. Meine Tante Alice fuhr daraufhin stundenlang mit seiner Frau und den beiden Kindern mit dem Fahrrad durch den Wald, um sie vor weiteren Übergriffen zu schützen. Familie Pitsch hatte zu der Zeit bereits ein Visum, eine Ausreisegenehmigung mit dem Schiff nach Australien und die Schiffspassage war schon gebucht. Dem unerschrockenen und geradezu hochstablerischen Einsatz von Luise Brandt, die gerade das Gartenhaus von Familie Pitsch zu einem normalen Preis gekauft hatte – was bei jüdischen Immobilien zu dieser Zeit absolut nicht selbstverständlich war –, und ihren guten Verbindungen zu höchsten Naziverantwortlichen ist es zu verdanken, dass Ernst Pitsch noch aus dem Konzentrationslager auf das Schiff gebracht werden konnte und so mit der ganzen Familie, mit Frau Gerda und den Kindern Aenne und Werner in Australien überlebte. Sofort nach Ende des Krieges nahmen sie die Verbindung zu meinen Großeltern wieder auf, schrieben viele Briefe und schickten trotz ihrer eigenen schwierigen Situation einige liebevoll gepackte Pakete.
Die Eltern von Ernst und Gerda Pitsch hatten sich aufgrund ihres Alters nicht mehr zur Emigration entschließen können, wurden ins KZ Theresienstadt gebracht und sind in der Gaskammer umgekommen.
Übrigens war Aenne ein bildhübsches, blondes, völlig »arisch« aussehendes Mädchen, das einem Fotografen, der sie auf der Straße fotografierte und nichtsahnend als deutsches Mädchen in seinem