Auch eine Rosine hat noch Saft. Luise Lunow

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Название Auch eine Rosine hat noch Saft
Автор произведения Luise Lunow
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783967670073



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Auf- und Ab-Geheul der Sirenen, das ich noch heute im Ohr habe, machte mir ungeheure Angst; ich musste sofort mit Bauchschmerzen aufs Klo eine halbe Treppe höher im Flur und rannte dann mit meinem Köfferchen und meiner geliebten Puppe Christel im Arm runter in den Keller, den ich sonst furchtsam mied, der immer gruselig und dunkel war und nur bei Alarm eine kleine blaue Notbeleuchtung bekam. Noch heute habe ich den muffigen, modrig-kalten Geruch des Luftschutzkellers in der Nase. Er war, wie in den meisten alten Mietshäusern, nur ganz primitiv mit ein paar Balken abgesteift und wenn uns eine Bombe getroffen hätte, so wären sie sicher zusammengeknickt wie ein paar Streichhölzer. Niemals hätten sie die Trümmer unseres dreistöckigen Hauses abfangen können, doch zur Sicherheit gab es noch einen Durchbruch zum Nebenhaus, der zwar notdürftig zugemauert, aber eine Fluchtmöglichkeit für den Notfall war. Ein weißer Pfeil zeigte von außen, an welcher Stelle des Hauses sich eventuell noch Menschen im Luftschutzkeller befinden. Jeder Hausbewohner hatte im Keller seinen Stuhl, seine Decke – denn es war immer eiskalt in dem unbeheizten Keller –, später sogar noch eine Gasmaske und das wichtigste Stück Handgepäck griffbereit dicht neben sich. Ein Eimer mit Wasser, eine Hacke und ein Beil standen ebenfalls am Eingang. Mit einem kleinen Radio verfolgten wir über Drahtfunk mit angehaltenem Atem den Anflug der englischen oder amerikanischen Bomber und meist hieß es: »Die Bomben­geschwader befinden sich über dem Raum Hannover-Braunschweig im Anflug auf Berlin.« Worte, die mich vor Angst fast lähmten, niemand im Keller sprach ein Wort, jeder wartete auf das Brummen der näher kommenden Flugzeuge und das Einsetzen der Flak. Wenn dann die »Weihnachtsbäume« abgeworfen wurden, das waren die Leuchtraketen, die die Ziele für die Bomben sichtbar machen sollten und die Stadt taghell erleuchteten, und der Blockwart selbst im Keller Schutz suchte, der von außen die Lage beobachtet hatte und dafür verantwortlich war, dass jeder rechtzeitig den Luft­schutzkeller aufsuchte, dann wussten wir, jetzt geht es los …

      Es waren 1940 die ersten Bomben auf Berlin und Potsdam, als in Babelsberg in der Nacht vom 21. zum 22. Juni die Post in der Lindenstraße unmittelbar neben dem Krankenhaus getroffen wurde. Jeden Sonntag pilgerten hunderte Menschen aus der ganzen Umgebung dorthin, um diese erste Bombenruine zu sehen. In der Nacht vom 7. zum 8. August im selben Jahr wurden die Bethlehem-Kirche und auch das kleine Häuschen der Familie Zöllner am Neuendorfer Anger getroffen. Ich kannte die Zwillinge Gerda und Günter gut, denn wir gingen zusammen zum Kindergottesdienst. In dieser Nacht war Fliegeralarm gegeben worden und Frau Zöllner war mit ihren Kindern im Luftschutzkeller ihres Hauses, als sie kurz vor die Tür trat, um zu gucken, ob schon Flugzeuge zu sehen wären. In diesem Augenblick fiel eine Bombe genau auf ihr Haus mit den Kindern. Beide waren sofort tot, die Mutter draußen wurde zur Seite geschleudert, blieb aber fast unverletzt. Ich erinnere mich noch wie heute an die Beerdigung der Kinder. »Gerda, Gerda, komm doch zurück und wenn Du nicht kannst, dann Günter« – gellende, verzweifelte Schreie, bei denen ich mir die Ohren zuhielt und die ich nie vergessen werde.

      Einmal, nach einem Bombenangriff am Vormittag, ging ich mit meiner Mutter die Großbeerenstraße hinter dem Bahnhof Drewitz entlang. Dort brannten noch die Reste eines Siedlungshauses, das kurz zuvor eine Bombe getroffen hatte. Die Hälfte des Zimmers im ersten Stock stand noch, eine Uhr hing an der Wand und ein Sofa schwebte halb über der zerstörten Vorderwand. Die Mutter wurde tot aus den Trümmern gezogen, während ihr Baby vom Luftdruck in den Garten geschleudert wurde und wie durch ein Wunder unverletzt überlebte. Kurz darauf begegneten wir der 7-jährigen Tochter mit der Schulmappe auf dem Weg nach Hause. Sie ahnte noch nichts von dem Unheil, das sie erwartete. Eine Nachbarin ging ihr entgegen, um sie behutsam auf das schreckliche Ereignis vorzubereiten.

      Meine Tante Alice kriegte in einer einzigen Nacht weiße Haare – sie war erst 35 Jahre alt –, als der Luftschutz- und Splittergraben neben ihrem Siedlungshaus in Grunewald einen Volltreffer bekam. Es war der Splittergraben, in dem sie sich sonst immer während der Alarme aufhielt, nur in dieser Nacht war sie nach einer Geburtstagsfeier bei einer Nachbarin im Nebenbunker. Das rettete ihr das Leben.

      Nach dem Angriff half sie mir, all ihre toten, entsetzlich verstümmelten Nachbarn aus dem Schutt zu bergen, mit denen sie noch kurz zuvor gelacht und gefeiert hatte.

      Während des Krieges mussten wir mit unserer Schulklasse immer wieder in andere Schulgebäude in Babelsberg oder Potsdam umziehen, wo wir – soweit es die Fliegeralarme zuließen – im Schichtbetrieb unterrichtet wurden. Das hieß, je nach Länge des nächtlichen Fliegeralarms begann der Unterricht bei Alarm bis 23 Uhr normal um 8, bis 24 Uhr um 10 und bei Alarm bis 2 Uhr nachts und länger um 11 Uhr mit verkürzten Unterrichtsstunden.

      In den letzten beiden Kriegsjahren wurde dieser Unterricht auch noch fast täglich von Tagesalarmen unterbrochen und wir mussten bereits bei »Voralarm« – das waren drei langgezogene Sirenentöne – die meist etwas entfernter liegenden Luftschutzkeller aufsuchen. In den Wochen vor Kriegsende gab es dann schließlich gar keinen Unterricht mehr, denn wir konnten unsere Keller überhaupt nicht mehr verlassen. Schule war unwichtig geworden, jetzt ging es für uns nur noch ums Überleben. Wir Kinder aus diesen Kriegsjahren werden wohl immer mit einem gewissen Defizit an Schulwissen leben müssen – aber reicher als spätere Generationen sind wir sicher an schmerzhafter Lebenserfahrung.

      Ich war mit meiner Klasse ab 1942 in Potsdam in der Schule in der Charlottenstraße untergebracht. Für mich war das ein langer Schulweg, den ich mit der Straßenbahn der Linie 4 von Babelsberg in das noch weitgehend unzerstörte Potsdamer Zentrum zurücklegen musste. Ich fuhr über die Lange Brücke durch die schöne Altstadt, vorbei am Schloss und am Palast Barberini, am Kanal entlang und an der beeindruckenden Nikolaikirche bis zum Wilhelmplatz. Bei Voralarm konnten die nahe wohnenden Schüler schnell nach Hause laufen und dort in den Keller gehen, ich aber musste mit anderen in den großen Bunker am Wilhelmplatz. Dort saßen wir verängstigt dicht an dicht in dem völlig überfüllten Luftschutzraum. Noch heute habe ich das durchdringende, fast drohende Heulen der Alarmsirenen nicht vergessen, das dunkle Röhren der anfliegenden Bomber und dazu das ununterbrochene Hämmern der Flak. Uns wurde immer gesagt, wenn du die Bombe heranheulen hörst, dann trifft sie dich nicht. Wie oft haben wir dieses pfeifende Geräusch gehört, den Kopf eingezogen, die Ohren zugehalten und uns auf den Boden geduckt. Dann krachten die Einschläge, der Boden bebte und schwankte wie auf hoher See, die Wände wackelten und wir kannten nur noch ein Gefühl – entsetzliche, hilflose Angst! Jeden Tag Alarme, jeden Tag Bomben und jeden Tag wieder diese Angst – und trotzdem lachten und spielten wir in der Zeit dazwischen, lärmten und zankten uns, streiften durch Ruinen, suchten Bombensplitter als Talisman und waren immer unausgeschlafen.

      Ich erinnere mich noch genau an den 14. April 1945, wenige Tage vor Kriegsende, als ein Luftangriff die alte Garnisonstadt Potsdam zerstörte. Es war ein sonniger und schon warmer Frühlingstag und wir sehnten uns danach, endlich wieder draußen spielen zu dürfen, über die Wiesen zu laufen und ohne Angst vor Fliegeralarm und Bomben in der Nacht schlafen zu können. Aber kurz nach 22 Uhr heulten wieder mal die Sirenen und um 22.39 Uhr begann der große Angriff auf die wunderschöne Stadt Potsdam mit all ihren unersetzlichen Kulturdenkmälern. Innerhalb von nur 20 Minuten luden 724 Flugzeuge der Royal Air Force 1752 Tonnen Spreng- und Brandbomben über der Stadt ab.

      Unser Haus wogte in Wellen auf und ab, wir lagen auf der Erde, die Decke über den Kopf gezogen, Frau Sommer schrie: »meine Betten, meine Betten!!«, die Schorn­steinklappe flog auf, Ruß und Staub drangen heraus, Putz fiel von Decken und Wänden, wir erstickten fast, drückten feuchte Tücher auf unser Gesicht, meine Mutter hielt meine Schwester und mich eng umschlungen, wir alle erwarteten jeden Augenblick das schreckliche Ende. Unerträglich lange erschien uns die Zeit bis die tödlichen Geräusche verebbten und Stille eintrat, Entwarnung … Zitternd schlichen wir vorsichtig aus dem Keller, traten auf der Treppe über zerborstene Fensterscheiben, Kalk und Putz, und waren doch glücklich, dass unser Haus den Angriff überstanden hatte und wir unsere Wohnung im zweiten Stock erreichten. Aus unserem Fenster, das keine Scheiben mehr hatte, sahen wir entsetzt auf die brennende Stadt Potsdam. Qualm und Hitze drangen uns ins Gesicht, wir hörten das knisternde Rauschen der Flammen und dazwischen ständige Explosionen. Alles roch nach Brand und Rauch, grauer Trümmernebel biss uns in Augen, Nase und Mund und machte das Atmen schwer. Aber wir lebten. Mehrere meiner Mitschülerinnen sind bei diesem schreck­lichen Angriff ums Leben gekommen, von Trümmern erschlagen und erstickt oder verbrannt von Phosphorbomben.

      Am