Название | Schiffbruch |
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Автор произведения | Andres Bruetsch |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783724525196 |
Sie dachte an Freitagabend zurück. Mehr als «alleine anwesend» waren sie alle an diesem Abend nicht – Patrick, Lena, auch sie selber. Sie schienen alle drei nichts miteinander zu tun zu haben, standen im eigenen Haus verloren herum, einsamer als ihre Gäste. Diese Einsicht – und das war es für sie – war plötzlich da und sie fragte sich, warum das gerade an diesem Abend so zum Ausdruck kam. Sie waren schlicht beklemmend gewesen, diese Stunden: drei Einzelmasken an der Wahlfeier. Nicht mal der Wunsch, zusammen anzustossen, geschweige denn der Gedanke eines gemeinsamen Fotos, kam auf. Als würden alle drei instinktiv spüren, dass da keine Familie war.
Früher, erinnerte sich Aline, hatten sie diesen bürgerlichen Humbug gemacht. Nein, das war kein Humbug! Sie hatten zusammen Museen besucht, eine Wanderung unternommen, gepicknickt, zusammen gelesen, jeder in einem anderen Buch. Solche Dinge sollten sie wieder tun, auch wenn das Lena als «Nostalgie-Kitsch» abtat. Aline überzeugte sich mehr und mehr, dass es dringend nötig wäre, in die Familie zu investieren, weit wichtiger, als sich für die Bibliothek aufzuopfern. Egal, ob Lena bald wegzog, im Gegenteil. Gerade weil sie wegzog, musste Aline etwas tun. So wie sie gestern Lena in ihrem Zimmer erlebt hatte, machte sie ihr Angst.
Lena hatte Zeit, weil sie sich bewusst von Vielem fernhielt. Sie hätte sich mit einer Kollegin treffen können, gerne auch mit Gabriel, mit dem sie während zwei Wochen Sizilien befahren hatte. Sie war sich nicht sicher, ob es Liebe war, was sie für ihn empfand. Zu sagen, sie mochte ihn, fand sie blöd. «Mögen» tat sie viele ihrer Bekannten. Gabriel war mehr, er war ein Freund, so wie Sandra eine Freundin war, ihre Freundin. Ja, das war es möglicherweise: Gabriel war ein Freund, aber nicht «ihr Freund».
Jedenfalls wünschte sich Lena, diese letzten Wochen, bevor sie in das Studentenleben eintauchte, möglichst für sich haben. Doch jetzt stand dieses – sie nannte es für sich so – Geschehnis dazwischen. Seit drei Tagen war es in den lokalen Medien das grosse Thema, selbst national wurde der Unfall thematisiert. Lena las all die im Internet veröffentlichten Artikel in ihrem Zimmer:
«Der junge Mann, Marius H., liegt seit vier Nächten auf der Intensivstation, seine Freundin Grazia B. steht nach wie vor unter Schock und wird psychologisch betreut. Sie ist ausser M. und dem anonymen Bootsfahrer die Einzige, die den Unfall akustisch erlebt, aber nicht wirklich gesehen hat – dazu war es zu dunkel. Das Motorboot hat sie gehört, wie es langsam zum Steg tuckerte, wo offenbar jemand ausstieg. Sie hat gehört, wie sich zwei Männer verabschiedeten, eine Verabschiedung unter Freunden, schien es ihr. Sie und ihr Freund hatten geplant gehabt, in der Bucht zu übernachten. Sie hatten einen Schlafsack im Auto. Warum M. nochmals in das Kajak stieg, ist auch Grazia nicht klar. Er habe einfach Lust gehabt und noch einen Joint geraucht, hat sie zu Protokoll gegeben. Dann – so konnte man in den Medien nachlesen – sei das Motorboot vom Steg weggefahren und plötzlich losgebraust, was Grazia aufgrund des Lärms und des Geräusches von aufschäumendem Wasser feststellen konnte. Sie selber habe zu der Zeit im Dunkeln ein paar Dinge zusammengepackt – Grill, Decken, all das Picknick-Zeugs –, als sie einen heftig krachenden Aufprall hörte, einen abgewürgten Motor, gleichzeitig diesen furchtbaren Schrei von M., Schläge im Wasser, und offenbar war es der Bootsführer, der wiederholt ‹Scheisse … Scheisse› rief. Dann der Versuch, den Motor wieder zu starten, was dem Bootsführer nach mehreren Versuchen gelang. Das Schiff raste davon. Sie schrie: ‹Marius, was ist passiert?› und hörte seine überschnappende Stimme: ‹Schnell – hol’ Hilfe, Arzt, Polizei.›
Grazia sah nichts – keinen Mond, es war elend dunkel! Wo war ihr Handy? Im Auto – sie suchte es verzweifelt, fand es am Boden. Sie wählte hastig die Notnummer der Polizei, drehte die Scheinwerfer an, um endlich etwas zu sehen. Und was sie sah, könne sie in ihrem Leben nie vergessen: das grelle Licht, das in die Bucht blendete. Verstreut im schwarzen Wasser rote Bruchstücke des förmlich zerhackten Kajaks. An einem sich festklammernd, ihr Freund, Marius. Sein blutüberströmtes Gesicht, sein hilfesuchender Blick. Sie, die jetzt hysterisch ins Telefon schrie, ihr Freund sei schwer verletzt, brauche Hilfe – sofort!
Endlich die ruhige Stimme des Polizisten, der nach der Unfallstelle fragte. Grazia, das Bild ihres ertrinkenden Freundes vor sich, brach in Weinen aus und versuchte umständlich und schluchzend zu erklären, wo sie sich überhaupt befand, wo dieses entsetzliche Unglück passiert war.»
Lena schaute vom Bildschirm auf. Sie hatte diesen erschütternden Inhalt in verschiedenen Zeitungen gelesen. Auch immer wieder die Aufforderung der Polizei, die Person, die am fraglichen Abend kurz vor Mitternacht am Steg in der «Schwanenbucht» von einem privaten Motorboot abgesetzt worden sei, solle sich melden.
Lena wollte ihren Laptop zuklappen, überlegte es sich anders und suchte nach dem Interview mit ihrem Vater während der Wahlparty. Sie schaute sich den einminütigen Clip mehrmals an. Dann packte sie ihre Sachen und verliess das Haus.
Das ganze Gebiet um die «Schwanenbucht» war abgesperrt, auch das Strandbad war geschlossen. Zugänglich war lediglich der Bootssteg, näher kam man an die Unfallstelle nicht heran. Lena bemerkte zuerst zwei Taucher, die im Wasser herumsuchten, dann ein Polizeiboot, das die kleine Bucht vom See her absicherte. Trotz dieser düsteren Hinweise wirkte die Bucht friedlich – fast idyllisch. Lena setzte sich auf den Steg, neben sich die Tasche mit ihrer Ausrüstung.
Möwen, die gierig glaubten, sie hätte wohl Futter dabei, flatterten und kreischten über ihr. Um die lauten Vogelgeräusche auszublenden, setzte sich Lena nach einer Weile die Kopfhörer auf. Diese Art der Abkapselung nahm der Situation vor ihren Augen das Zeitliche, sie wurde zu einem Bild, in das sie lange und bewegungslos hineinschaute.
Hier war es passiert, überlegte Lena. Hier war vor wenigen Tagen etwas geschehen, was das Leben von mindestens drei Menschen für immer veränderte. Ein gesunder junger Mann wurde innert Sekunden schwer verletzt, vielleicht für sein ganzes Leben zum Invaliden gemacht. Am Ufer eine ebenso junge Frau, die von nun an jeder Idylle misstraute, die für immer traumatisiert war. Sicher hatten die zwei gemeinsame Pläne gehabt. Eine Wohnung, berufliche Perspektiven, Gedanken an eine Familie.
Plötzlich das losbrausende Schiff. War es das ihres Vaters? Die «Aurora» – einladend, elegant, ihr Familienschiff? Ja, hätte es sein können. Es hätte innert Sekunden zum Rowdy werden können, der für einen Wimpernschlag in seinem Bootsleben nichts als Unheil anrichtet. Gesteuert von einem Mann, der ihr Vater sein könnte. Ihr Vater, dessen Überzeugung es war, korrekt zu sein, der glaubte, das Leben sei planbar, wenn man es nur richtig anpackte. Und jetzt? War er der feige Täter?
Sie dachte an das Interview, das sie soeben am Computer mehrmals angeschaut hatte: « … die gleiche Verantwortung. Und wer alkoholisiert ein Auto oder ein Schiff fährt, wird dieser Verantwortung nicht gerecht.» Was sollte dann dieses eigenartige Manöver im Schilf, der kaum erklärbare Crash im Bootshaus?
Lena legte den Kopfhörer zur Seite, zog das T-Shirt über den Kopf, die Shorts aus. Sie liess sich in einer sanften, ruhigen Bewegung vom Steg gleiten, bis Körper und Kopf vollkommen im Wasser verschwanden. Sie tauchte unter, so lange, wie sie es aushielt – holte Luft, um wieder unterzutauchen, und überliess sich so dem schmeichelnden Wasser und seiner Stille.
Umgeben zu sein von seinen Leuten gab Patrick insbesondere in diesen Tagen ein angenehmes Gefühl. Er schätzte seine Mitarbeiter, was die korrekte Bezeichnung war, weil heute lediglich Männer in der Arbeitsgruppe «Na3b» zusammensassen. Er hatte zu allen ein professionelles Verhältnis. Kollegial hätte er es nicht genannt. Ihm war eine respektvolle Abgrenzung wichtig und er war überzeugt, dass dies allen Mitarbeitenden – also auch den zwei Frauen im Team – angenehm war. Die fehlten heute – Priska Rüttimann vom Gewässerschutz und Danica Milic, die Archäologin.
Die militante Milic, so nannte er sie gegenüber Susanna Renner, versuchte mit allen Mitteln, das Projekt «Na3b», was die interne Bezeichnung für den geplanten Autobahnzubringer war, zu vereiteln.