Nordwestbrise. Monika Dettwiler

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Название Nordwestbrise
Автор произведения Monika Dettwiler
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783858826343



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hielt und den Stoff der Tunika sorgfältig von der verbrannten Haut löste, sah Utina, dass es nicht wie vermutet Gutan war, sondern ein Fremder mit schulterlangen dunklen Haaren und braunen Augen, ein Junge fast noch. Er trug keinen Mantel, weil es warm war, nur eine blaue Tunika mit kostbarer goldener Borte. Utina wollte etwas sagen, aber da kam ihre alte Magd herbeigelaufen, und plötzlich war der Fremde verschwunden.

      Als der Vater mit den Brüdern von der Jagd zurückkam, brannte die Siedlung lichterloh. Überlebende waren dabei, Tiere zusammenzutreiben, die in den Wald gelaufen waren. Männer und Frauen mit versengten Haaren und rauchgeschwärzten Kleidern schleppten Habseligkeiten herbei, die sie aus ihren brennenden Häusern gerettet hatten. Otpert bemerkte, dass er neben einem Baum stand, den er mit Hühnerblut markiert hatte, weil hier das neue Feld hätte beginnen sollen. Er riss einem Bauern, der Werkzeug unter dem Arm trug, die Axt weg und hieb immer wieder auf den Baum ein, kam ins Schwitzen, fluchte und schrie, hieb weiter, brüllte, hieb, bis sein älterer Sohn ihn an den Schultern packte und schüttelte.

      «Hör auf!», übertönte Wolfgang ihn. «Utina ist verletzt, es sieht bös aus. Komm mit, Vater!»

      Sie umgingen die Siedlung in weitem Bogen und trafen auf Knechte und Mägde, die verstört herumsassen und nicht wussten, was zu tun war. Otpert rief allen zu, sich östlich von Utinishusen zu sammeln.

      Utina lag in ihrer guten Tunika neben dem Gemüsebeet auf einem Karren. Die Magd stand neben ihr und war dabei, ihr klatschnasses Hemd an einem Haken zu befestigen. Das Mädchen sei eingeschlafen, aber das Schlimmste noch nicht überstanden, sagte sie.

      «Wer hat denn die kluge Idee gehabt, den verbrannten Arm in den Bach zu tauchen?», fragte Otpert, als er die klaffende Wunde und die verbrannte Haut seiner Tochter sah.

      Sie mache gleich Umschläge gegen das Fieber, murmelte die Magd und stahl sich davon, weil sie in ihrem langen Leben gelernt hatte, dass man als Hörige am besten fuhr, wenn man möglichst viel für sich behielt.

      Utina hatte alles gehört. Ich müsste ihm vom Fremden erzählen, dem Vater ist man Treue und Gehorsam schuldig, dachte sie müde. Aber die Magd hatte geschwiegen, und er würde denken, sie selber sei bewusstlos gewesen und erinnere sich an nichts.

      Weil es bald dunkel sein würde, beschloss Otpert, die Siedlung zu inspizieren. Sein jüngerer Sohn wollte ihn begleiten, und als sie allein waren, sagte Waldo, er habe einige Angreifer gesehen und Titrich erkannt. Otpert hatte das vermutet, war aber froh, es sicher zu wissen, und klopfte Waldo anerkennend auf die Schulter. Ein hochaufgeschossener Knabe sei bei Titrich gewesen, fuhr Waldo fort. Einer mit langem dunklem Haar. Wohl auch so ein vornehmer Franke. Seine Tunika habe golden geschimmert.

      Utinishusen sah aus, wie Otpert sich während Besuchen in der Kirche die Hölle vorgestellt hatte. Drei freie Männer und zwei Knechte waren von den Angreifern erschlagen worden, einige hatten böse Brand- oder Schwertverletzungen. Die meisten Häuser waren dermassen beschädigt, dass keine Pfosten oder Holzbohlen gerettet werden konnten. Nun waren sie alle ärmer, viel ärmer als bei ihrer Abreise aus Arbon, weil die grossen Vorräte aufgebraucht waren und viel Hab und Gut und auch einige Tiere mit den Häusern verbrannt waren.

      Am Abend setzten sich die Männer zusammen und berieten, was zu tun sei. «Wir gehen nach Osten», schlug einer vor. «Das Land jenseits der Steinach gehört uns.»

      Aber Otpert winkte ab. «Der Richter hat nicht entschieden, dass das Hinterland von Arbon Waldbert gehört. Und selbst wenn er es ihm und mir zugesprochen hätte, wäre das nichts wert. Arbon gehörte auch nicht Titrich, und er hat uns trotzdem vertrieben. Wer die Macht hat, nimmt sich, was er will. Alemannisches Gesetz gilt heute nichts mehr.»

      «Dann können wir nirgendwo hingehen. Der Arm des Hausmeiers wird immer länger», warf Wolfgang ein.

      «Wir ziehen nach Westen und siedeln irgendwo im Urwald, weitab von jeder Strasse», entschied Otpert. «Da vermutet uns niemand, weil das immer Königsland war.» Er beschloss bei sich, Waldbert um Waffen zu bitten und seine Leute, auch die einfachen Bauern, im Kampf auszubilden. Und in der neuen Siedlung Tag und Nacht Wachen aufzustellen.

      Einige Männer waren einverstanden, andere schüttelten den Kopf, einer zweifelte, ob man es noch vor dem Winter schaffen würde, eine neue Siedlung zu bauen, aber dann verebbte die Diskussion, weil Otpert die Sache als erledigt ansah und schlafen ging.

      In der Nacht erwachte Utina; sie spürte, wie die Magd an ihrer Tunika herumhantierte. Bald fiel sie wieder in einen unruhigen Schlaf und wusste nicht, ob es Traum oder Wirklichkeit war, als sie die Magd in der Morgendämmerung tanzen sah. Die Alte sang leise und streckte etwas gegen den Himmel, es blitzte im ersten Sonnenlicht. Das nächste Mal erwachte Utina, weil sie Schlamm und Metall auf ihrer Wunde spürte, aber dann hörte sie ein rhythmisches Murmeln und schlief weiter.

      Ohne sich ein einziges Mal umzudrehen, verliessen sie die Siedlung. Weil Pfade nur von Norden nach Süden führten, mussten sie sich quer durch den Forst zwängen und sich nach dem Sonnenstand richten. Um keine Spuren zu hinterlassen und besser zwischen Bäumen und Büschen durchzukommen, montierten sie den vom Feuer verschonten Wagen die Räder ab und trugen sie mit. Was an Hausrat und Werkzeug noch da war, banden sie sich auf den Rücken oder schleppten es hinter sich her. Utina bestand darauf, selber zu gehen, sie sei ja am Arm verletzt und nicht an den Beinen. Müde nickte der Vater, aber er führte seine Leute nicht an, wie sie es von ihm erwartet hatten. Stattdessen schickte er Verwandte mit Knechten voraus und hielt sich mit seinen Kindern in der Mitte des traurigen Zugs. Utina knickten immer wieder die Beine ein, sie hatte heiss und kalt und wieder heiss. Schliesslich knüpfte Wolfgang eine Trage aus Leder und schleppte die Schwester auf dem Rücken durch den Forst. Wenn er erschöpft war, löste ein Vetter ihn ab. Auch Waldo hätte Utina gern getragen, aber er war klein und schwach für sein Alter und hätte sie kaum halten können.

      Ab dem späten Nachmittag schauten sie sich jede Waldlichtung, durch die der Zufall sie führte, genau an. Als sie auf eine stiessen, die etwas grösser war als die anderen und in deren Nähe ein Bach floss, meinte Otpert, es habe keinen Sinn, tagelang weiterzuziehen, sonst würden sie womöglich auf einen Pfad stossen, der weiter westlich nach St. Gallen führte. Weil es warm und trocken war, übernachteten sie auf dem Waldboden, und am Morgen schickte Otpert je zwei bewaffnete Männer in alle Richtungen aus, ausser nach Osten. Sie mussten sich bis zum Abend durch den Forst kämpfen und unterwegs Markierungen setzen, um wieder zurückzufinden. Als alle wieder da waren und niemand auf eine Strasse oder einen Pfad gestossen war, beschloss Otpert, hier zu siedeln.

      Weil es Unglück gebracht hatte, dass er der alten Siedlung erst auf Geheiss des Richters einen Namen gegeben hatte, erteilte Otpert der Waldlichtung am zweiten Tag feierlich seinen Segen und nannte sie Otpertswil. Dann wurden die Toten begraben. In der Nacht waren wieder zwei Verletzte gestorben. Fast alle hatten in den letzten Tagen Angehörige verloren.

      Otpertswil, das war Enttäuschung und Trauer. Nur in den Augen weniger junger Männer funkelten Hoffnung und Abenteuerlust. Otpert selber tröstete sich mit dem Gedanken, dass Gott im Thing gegen ihn entschieden und Titrich das Feuer gebracht hatte, weil eine Siedlung ohne Kirche kein gottgefälliger Ort war. Hier, in Otpertswil, würde er eine Kirche bauen, grösser als das Haupthaus. Aber Otpert wusste, dass die Lichtung klein war und sie vor dem Winter nur wenige Häuser erstellen konnten, in denen alle zusammengedrängt schlafen mussten. Jahrelang würden sie roden müssen, um ein Dorf mit Weiden und Feldern zu schaffen, und niemals und nirgends würden sie vor den Franken des Hausmeiers sicher sein.

      An diesem und am nächsten Abend sagte die Magd, sie wache über den Schlaf seines kranken Kindes, aber weil Otpert misstrauisch war und das Fieber stieg und stieg, stand er in der zweiten Nacht selber auf, trocknete Utinas schweissnasses Haar und flösste ihr Wasser ein, ohne dass sie aus ihrem unruhigen Schlaf erwachte.

      Im Morgengrauen blieb er im Schatten eines Baums stehen und schaute zu, wie die alte Frau den Verband von der Wunde nahm, Kräuter aus einem Beutel zog und sie mit etwas Schlamm vermischte. Dann zog sie ein rundes Metallstück hervor, tauchte es in die Mischung, streckte es singend dem Mond entgegen und drückte es auf die Wunde.

      Otpert hatte die bösen Fleischränder und den Eiter in der klaffenden Wunde sehen können, aber erst Utinas Stöhnen