Название | Nordwestbrise |
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Автор произведения | Monika Dettwiler |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783858826343 |
In dieser Nacht schliefen die meisten tief, weil sie einen Ort zum Leben gefunden hatten. Nur Otpert lag wach. Er dachte an die Franken, die über den See gekommen waren, um sich in Arbon festzusetzen. Vor allem Karl, der Hausmeier, von dem er sich kein Bild machen konnte, brachte seine Gedanken in Aufruhr. Früher hatte es am merowingischen Hof immer einen König gegeben, und einen König konnte man sich irgendwie vorstellen, auch wenn man ihn nie sah. Aber dieser Hausmeier, der sich wie ein König aufführte und doch keiner war, der die Macht an sich reissen und das Leben in Alemannien bestimmen wollte, machte ihm Angst.
Die munteren Rufe und Sprüche des ersten Morgens veränderten für Utina wenig. Sie sass herum und wollte an nichts denken. Die Bäuerinnen, die schon früher für Otpert gearbeitet hatten und jetzt mit ihm gekommen waren, kümmerten sich um die Vorräte. Utina sah zu, wie sie Steine für einen Herd zusammentrugen und auf dem Feuer Gerstenbrei kochten.
«Willst du helfen und die Töpfe im Bach waschen?», fragte eine Verwandte, die im vergangenen Winter Stoffe für Utalind gewoben hatte. Utina zögerte, doch als die Frau ihr den Rücken zukehrte, stahl sie sich weg. Ausserhalb der Siedlung waren Männer daran, gegen Süden hin Bäume zu fällen. Andere sägten die grössten Stämme zu gleichmässigen Bohlen und legten sie zu denen, die sie auf Karren aus Arbon mitgenommen hatten.
«Du musst hier weg, Utina», sagte ein kräftiger Mann mit harzverklebten Armen, dem der Schweiss an Händen und Haaren herunterlief.
Utina sah vom Boden auf. «Gutan, du lebst!»
«Für einen mit kurzgeschorenen Haaren haben die bestimmt keinen Schwerthieb verschwendet», sagte der Hörige und machte eine wegwerfende Bewegung.
Utina wollte fragen, ob er bei der Suche nach Utalind dabei gewesen sei und ihr davon erzähle, aber sie spürte eine verhaltene Wut in ihm, die ihr Angst machte. Sie schwieg und sah ihm zu, wie er einen geraden jungen Baumstamm über einen anderen schob und das angehobene Ende zuzuspitzen begann. Der erste Pfosten, der in den Boden gerammt wird, um das Dach unseres Hauses zu halten, dachte Utina, die schon oft bei Bauarbeiten zugesehen hatte.
«Komm, wir schauen uns um, wo wir Felder anlegen könnten», hörte sie den Vater hinter sich sagen. Als sie keine Antwort gab, nahm er sie am Arm und zog sie mit sich fort in den Wald. In der freien Hand trug er einen Topf mit Hühnerblut, den eine Magd beim Schlachten gefüllt hatte. Amelia würde mich jetzt fragen, wie es mir gehe, sie würde von Utalind sprechen und sagen, dass sie in der Fremde zurechtkommen werde, dachte Utina. Aber der Vater setzte nur zu praktischen Erklärungen an: «Wir müssen Wald roden, in der Siedlung ist für Weizenfelder kein Platz.» Er bestimme nun die Felder und markiere die Bäume an den Rändern rot. Dann wolle er von allen Stämmen im Feld ein breites Stück Rinde abschneiden, um die Bäume absterben zu lassen. «In zwei, drei Jahren ist das Holz so dürr, dass wir das ganze Waldstück abbrennen und das Feld von den Strünken befreien können», erläuterte der Vater, während er die Laubblätter, die er an ein Hölzlein geschnürt hatte, ins Hühnerblut tauchte.
Als der Winter früher als andere Jahre hereinbrach, hatten alle Familien Häuser mit Strohdächern, aus deren Ritzen der Rauch von Herdfeuern aufstieg. Ställe gab es noch keine. Bei grosser Kälte würde man das Vieh in die Häuser nehmen müssen, aber einen Zaun um die ganze Siedlung hatten sie gebaut, als Schutz vor wilden Tieren.
Es hatte auch schon eine Beerdigung gegeben: Eine Bäuerin, die ein Kind erwartete, bekam im Herbst Fieber. Die Frauen gaben ihr einen Aufguss aus Eisenkraut zu trinken und legten Wadenwickel an, aber es war nichts mehr zu machen. Ein Knecht aber, auf den beim Baumfällen ein schwerer Ast gestürzt war, konnte wieder gehen, weil die Männer sein Bein geschient hatten.
Kurz vor dem ersten Schnee brachten zwei Familien einen mit Obst und Getreide beladenen Wagen in die Siedlung, den ihnen Waldbert mitgegeben hatte. Es waren Verwandte Otperts, die in Romanshorn nicht zurechtgekommen waren und nicht mehr nach Arbon zurückkehren durften. Lieber wollten sie in der Wildnis siedeln. Die Leute sagten, sie seien zuerst auf der Strasse bis nach St. Gallen gegangen. Als sie Otpert und seine Leute nicht gefunden hätten, seien sie dem anderen, schmaleren Pfad zurück gefolgt, und nun seien sie da. Otperts Getreue wurden unsicher, ob man am richtigen Ort sei und hier überhaupt bleiben könne, aber Otpert sagte, das gesamte Arboner Hinterland bis zur Galluszelle gehöre Waldbert, wie es schon seinen Vorfahren gehört habe. Ob man da oder dort bleibe, sei ohne Bedeutung. Otpert fühlte sich sogar sicherer, weil sie weitab von der belebten Strasse gesiedelt hatten, aber das verriet er den anderen nicht.
Weil es in Arbon und in Romanshorn eine Kirche hatte, wollte Otpert auch in der neuen Siedlung auf den Segen eines Priesters nicht verzichten. An vielen Abenden sass er mit seinen Verwandten zusammen, und sie berieten sich, wo und in welcher Grösse man eine Kirche bauen solle. Aber niemand wusste genau, in welche Himmelsrichtung man sie ausrichten und was sie von einem normalen Pfostenbau unterscheiden musste. Schliesslich wollten sie Waldbert um Unterstützung bitten, aber der Bote, den sie ihm geschickt hatten, kehrte nie in den Forst zurück. Da beschloss Otpert, sich an das Kloster zu wenden. Vielleicht lebten dort Mönche, die Priester waren und ihn beim Bau der Kirche beraten konnten. Vielleicht kam sogar einer von den Klosterbrüdern mit, um bei ihnen zu bleiben. Otpert war noch nie in St. Gallen gewesen, aber wenn er mit zwei bewaffneten Begleitern dem Pfad folgen würde, konnte er in einem Tag bestimmt dort ankommen.
Als Otpert zurück war, sagte er, St. Gallen liege näher als Arbon. Tagelang sprach er nicht mehr vom Bau der Kirche, sondern nur noch vom Abt. Er erzählte jeden Abend, wenn die Familie beisammensass, mit einem solchen Feuer, dass sogar Utina manchmal aufhörte, an die Wand zu starren, und seinen Worten gebannt folgte.
«Er ist nicht mehr jung, er könnte mein Vater sein», sagte Otpert. «Aber er scheint enorme Kräfte zu haben. Die Leute dort sagen, er schlafe fast nie. Jede Nacht steht Abt Otmar auf, um ins Haus zu gehen, wo die Kranken liegen. Aber er spricht ihnen nicht nur Trost zu, er pflegt sie auch selbst mit Salben und Aufgüssen.»
«Und was ist mit unserer Kirche?», fragte Wolfgang.
«Der Abt wird uns bald einen Klosterbruder schicken. Es gebe so viele, dass er sicher einen entbehren könne, hat er gesagt.» Als Wolfgang wissen wollte, wie gross diese Einsiedlerzelle denn sei, erwiderte Otpert, St. Gallen sei jetzt ein richtiges Kloster mit vielen Gebäuden und einer Siedlung darum herum. Otpert sah auf seine Hände, spreizte die Finger und meinte: «Ich habe im Kloster gegessen. Da sassen so viele Mönche wie fünf oder sechs Männer Finger haben.»
Ob dort auch Frauen seien, wollte Utina wissen, aber Otpert sagte, es gebe nur Männer, er habe aber auch schon von Frauenklöstern gehört. Die Frage brachte Otpert zum Nachdenken. Seine Tochter schaute oft so trübsinnig vor sich hin, dass er zweifelte, ob irgendein Mann ein solches Geschöpf ohne Leben zur Frau nähme. Er selber konnte Utina die Mutter nicht ersetzen wie Utalind. Im Haus sorgte eine alte Magd für Ordnung, aber die war seit ihrer Abreise aus Arbon so mürrisch, dass niemand Lust hatte, sich ihr anzuvertrauen. Und die anderen Mädchen waren entweder noch Kinder oder woben und kochten schon zusammen mit ihren Müttern. Otpert war froh, dass sein Sohn wieder von der Kirche zu sprechen begann, und schob die trüben Gedanken beiseite.
An einem milden Wintertag kam ein Fremder in die Siedlung. Zwei Gefolgsleute ritten hinter ihm her. Es war nicht klar, ob er auf der Jagd war oder den falschen Weg nach St. Gallen genommen hatte. Utina war die Erste, die ihm vor ihrem Haus über den Weg lief, aber er beachtete sie nicht. So entging ihm auch, wie sie ihn von Kopf bis Fuss musterte. Der Fremde war ungefähr so alt wie ihr Vater, und das an den Schläfen leicht angegraute dunkle Haar fiel ihm bis auf die Schultern. Silberfäden zogen sich auch durch seinen Bart. Über dem Hemd trug er eine braune Wolltunika und einen kostbaren Gürtel, an dem seine Waffe befestigt war. Seine Beine waren wie üblich bis zu den Knien mit Bändern umwickelt, aber als Utina die Farbe sah, hätte sie fast geschrien. Sie waren vom selben Rot wie die Binden der Wehrmänner, die Utalind mitgenommen hatten. Utina rannte ins Haus. Weil die Fensteröffnung im Giebeldach zu weit oben war, suchte sie eine Ritze zwischen zwei Wandbohlen