Название | Nordwestbrise |
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Автор произведения | Monika Dettwiler |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783858826343 |
«Seid ihr auf dem Weg nach St. Gallen?», fragte Otpert, der zwischen zwei Bäumen hervorgetreten war. Seine Stimme klang tiefer und bestimmter als sonst, er reckte sich und zog sein harzbeflecktes Hemd zurecht. Als die Fremden ihn von ihren Pferden herab musterten, fragte er: «Wollt ihr drei nicht absteigen? Ich bin Otpert aus Waldrams Sippe.»
«Und ich Titrich aus Arbon.»
Otpert hatte die Beinbänder gesehen und fragte: «Des Hausmeiers neuer Befehlshaber?»
«Ja, ich bin ein Vertrauter Karls und für das Königsgut im Arbongau verantwortlich. Das macht oft Reisen zum Abt nötig. Und wem gehört die Siedlung hier?»
«Ich bin aus Waldrams Sippe», wiederholte Otpert. «Waldram hat mir das Land hier überlassen.»
«Mir scheint, es gehöre dem König.»
Im Haus hielt Utina den Atem an, als sie den Ausdruck auf dem Gesicht ihres Vaters sah. Jetzt sagt er dem Franken, es gebe gar keinen König, und es gebe hier nichts zu fragen, dachte sie. Aber Otpert scharrte nur leicht mit dem Fuss und sagte mit fester Stimme: «Waldrams Vorfahre Talto ist Kämmerer bei König Dagobert gewesen. Der König hat ihm das ganze Gebiet von Arbon bis St. Gallen geschenkt.»
«Unser König Dagobert in Ehren, aber diese Siedlung gehört jedenfalls nicht dir. Du musst sie räumen. Ich gebe dir bis zum nächsten Vollmond Zeit.»
«Das Land gehört mir», wiederholte Otpert, aber der Fremde wendete sein Pferd und galoppierte mit seinen Begleitern davon.
Utina war beunruhigt und lief in den Wald, wie immer, wenn sie enttäuscht oder traurig war und allein sein wollte. Der Vater hatte es verboten, aber jetzt dachte er hoffentlich nicht daran, nach ihr zu suchen. Sie sass auf einem Stamm und sah den Ameisen zu, als sie ein Geräusch hörte, ein fernes Schnarchen oder Schnurren, das sie nicht einordnen konnte. Mit Händen und Füssen bahnte sie sich einen Weg durch das dichte Unterholz und fand am Fuss einer Tanne ein zusammengerolltes Tier, das sie an den jungen Hund erinnerte, der am Tag, als die Wehrmänner Utalind abgeholt hatten, aus Arbon verschwunden war. Utina hörte den Vater rufen, aber sie ging weiter und streckte die Hand nach der Pelzkugel aus. Das Bärenjunge brummte leise, aber nicht bedrohlich, und blinzelte sie mit verschlafenen Augen an.
Plötzlich stand der Vater bei ihr. Er packte Utina am Arm und zerrte sie mit sich fort. «Du unvernünftiges Kind!», stiess er atemlos aus. «Bären tun uns nichts, wenn wir sie in Ruhe lassen. Aber fasst du ein Junges an, so reisst die Mutter dich in Stücke, um es zu schützen.»
«Vielleicht hat es keine Mutter mehr.»
Er wollte nicht darauf eingehen, aber Utinas Stimme klang so lebendig, dass er einlenkte. «Wir kehren morgen mit drei bewaffneten Männern zurück. Wenn die Mutter das Junge noch nicht geholt hat, kannst du ihm Ziegenmilch geben.»
«Darf ich es dann behalten?»
«Nicht für lange.» Er sah sich das Tier genauer an und schüttelte den Kopf.
«Weshalb?»
«Weil es rasch wächst. In einigen Monden ist es so schwer, dass du es nicht mehr tragen kannst, und es wird gefährlich. Aber im Wald ist ihm ohnehin wohler als in einer Siedlung.»
Tagelang hielt Utina ihren kleinen Bären im Arm und flösste ihm mit einem Tüchlein honiggesüsste Milch ein. Otpert hörte sie sogar wieder lachen, aber selten, nur dann, wenn das Bärenkind nach der Fütterung ihre Hand leckte oder wenn es herumtollte und ihm seine patschigen kleinen Tatzen in die Quere kamen.
Bevor der kleine Bär so viel wog, dass Utina ihn nicht mehr aufheben konnte, setzten sie ihn im Wald aus. Otpert fand heraus, dass seine Tochter ihrem Schützling trotz des Verbots noch lange einen Kübel mit Milch hinstellte, aber nach einiger Zeit sah er in der Nähe der Siedlung keine Bärenspuren mehr.
Noch vor Ende des Winters kam ein Bote des Gerichts und brachte ein versiegeltes Schreiben. Otpert habe nach neunzehn Nächten am Samstag vor Gericht zu erscheinen. Titrich habe ihn angeklagt, auf Königsland eine Siedlung errichtet und behauptet zu haben, das Land gehöre ihm.
Otpert hatte Angst um sein neues Zuhause und wusste sich nicht zu helfen. Waldbert würde ihm sagen können, was zu tun sei. Am nächsten Tag ritt er mit zwei Verwandten nach Romanshorn.
Diesmal wollten sie die breitere Strasse nehmen. Da nur wenig Schnee lag, hofften sie, ihr Ziel am gleichen Tag zu erreichen. Als sie versuchten, quer durch das Gehölz zur Strasse zu stossen, hörten sie nach einiger Zeit ein Wolfsrudel heulen. Otpert glaubte, es käme aus der Richtung der Siedlung, und spielte mit dem Gedanken, zurückzureiten, aber er wollte vor den anderen nicht ängstlich wirken. So sagte er, es sei unsinnig, auf der Suche nach der unbekannten Strasse weiter durch den Wald zu irren, und machte kehrt. Als sie kontrolliert hatten, dass keine Wölfe ihre Siedlung bedrohten, beschlossen sie, einen Umweg über St. Gallen zu machen, und fanden dort endlich die Strasse.
Waldbert nahm sich wie immer Zeit für seine Verwandten. Er fuhr sich mit den Händen durch das drahtige schwarze Haar und reckte sich, weil er mit seiner rundlichen Gestalt kleiner wirkte als Otpert; selbst seine imposante Nase glich das nur ungenügend aus. Das ganze Arboner Hinterland bis und mit St. Gallen habe er über eine lange Ahnenkette von Talto vererbt bekommen, dem Kämmerer König Dagoberts, beantwortete er Otperts Fragen. Deshalb habe Waldram, sein Vater, sich ja auch um St. Gallen gekümmert und Otmar beauftragt, aus der Galluszelle ein Kloster zu machen. Zeugen der Schenkung existierten keine mehr, das sei zwei oder drei Menschenleben her.
«Gibt es eine Urkunde?»
«Wenn etwas geschrieben wurde, dann ist es verbrannt. Du weisst ja, dass Karls Franken unser Haus geplündert und angezündet haben.»
Als Otpert zum Thing ritt, war er so entmutigt, dass er am liebsten umgekehrt wäre. Aber Waldbert hatte ihm eingeschärft, unbedingt hinzugehen, sonst schulde er dem Gericht zwölf Schillinge. Da dies der Preis für einen Deckhengst war und Otpert nur einen besass, befolgte er Waldberts Rat. Aber es gab gar keine Verhandlung. Titrich musste lediglich ein Pfand hinterlassen, seinen Anspruch auf das Land anmelden und geloben, mit Schwurhelfern zum nächsten Termin zu erscheinen. Otpert hatte dasselbe zu geloben, aber wenigstens verlangte ihm niemand ein Pfand ab.
Einen Mond später ritt Otpert mit Waldbert und all ihren vornehmen Verwandten zum Gerichtsplatz südlich von Arbon. Trotz der schlecht zum Frühling passenden Kälte war der Richterstuhl im Freien unter einer grossen, noch fast kahlen Linde aufgebaut worden. Der Richter trug einen Wollumhang, den eine kostbare Fibel zusammenhielt. Mit seinen eng zusammenliegenden Augen und der Habichtsnase gefiel er Otpert nicht. Ob der Greis überhaupt das Recht habe, Richter zu sein, und ob er etwa im Dienst des Hausmeiers stehe, fragte Otpert, als sie ihre Pferde vor dem Thing zurückgelassen hatten. Waldbert beruhigte ihn. Der Richter sei von ihrem Herzog Teudbald persönlich ernannt worden, und dass Teudbald der beste Alemanne überhaupt sei, brauche er nicht zu betonen.
Auch Titrich kam mit grossem Gefolge an. Weil das Königsland, auf das er Anspruch erhebe, den Wert von sechs Schillingen bestimmt übertreffe, habe er gleich fünf Schwurhelfer mitgebracht. Alles Männer, die Otpert noch nie gesehen hatte. Da er zwei ablehnen durfte, zeigte er auf die beiden, die ihn am finstersten anstarrten.
«Ich verlange das Land, auf dem der Freie Otpert eine Siedlung errichtet hat, als Königsland für den Hof zurück», sagte Titrich, als die Männer im Thing endlich verstummt waren, weil der Richter seine Haselrute gehoben hatte. Als der Richter ein Zeichen gab, legten Titrich und seine Schwurhelfer ihre Hände auf einen Schrein, in dem eine Reliquie lag, und Titrich wiederholte, dass sein Anspruch rechtmässig sei. Otpert warf einen Blick auf den Richter, und als der ihm hoheitsvoll zunickte, legte er seine Hand über die Hände der anderen. Sie zitterte, und weil seine Kehle trocken war, schluckte Otpert ein paarmal leer, ehe er mit fester Stimme sagte: «Ich schwöre, dass dieser Anspruch falsch ist und ich unschuldig bin, so wahr mir Gott helfe.»
«Hat die Siedlung überhaupt einen Namen?», fragte der Richter.
Otpert zögerte und kratzte sich an der Backe, was seine Sommersprossen noch mehr zum Leuchten brachte. Mit der Hand auf dem Schwertknauf sagte