Название | Nordwestbrise |
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Автор произведения | Monika Dettwiler |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783858826343 |
Utina wollte nichts mehr hören und nichts mehr denken. Zuhinterst in der Halle sah sie eine Ecke, wo niemand war, weil der Frühlingsregen durch die Dachritzen auf den Boden tropfte. Sie kauerte sich auf den verschmierten Lehmboden und starrte vor sich hin. Wirre Bilder tauchten vor ihr auf, Utalind, wie sie wob oder die Tücher aus Leinen ordnete und an ihre Zukunft dachte. Dann wieder schrie sie und sperrte sich gegen die Fremden.
Erst als eine Hand sie am Kopf berührte, merkte Utina, dass sie wimmerte wie ein junges Tier. «Ich bin da», flüsterte eine Stimme, die sie aus allen heraus erkannt hätte. Utina kuschelte sich an ihre Grossmutter Amelia, lauschte ihrem Atem und schlief ein.
Jeden Abend, beim Warten auf Otpert und seine Söhne, wiegte Amelia ihre Enkelin in den Schlaf, so, wie sie es nach dem Tod von Utinas Mutter oft getan hatte. Amelia war eine Langobardin mit dunklem Haar und dunklen Augen. Ihre Stimme klang kehlig und tief, wenn sie Utina in ihrer Muttersprache, die in Arbon nur sie beide verstanden, Geschichten erzählte.
«Du bist doch auch geraubt worden, als du jung warst», sagte Utina. «Kann es sein, dass es Utalind gut geht wie dir?»
«Bestimmt bringen die Männer sie zurück.»
«Aber wenn nicht?»
«Utalind ist eine schöne junge Frau, jemand wird sie beschützen.» Das sei bei ihr auch so gewesen. Amelia holte weit aus, obwohl Utina alles schon gehört hatte. Im Süden der grossen Berge habe sie gelebt, eine Braut vor ihrem Hochzeitstag. Da hätten Männer aus dem Norden ihr Langobardendorf überfallen. «All mein Brautschmuck lag schon für die Hochzeit bereit», erzählte Amelia. «Da gelang es mir, das Gold in den Kleidern, die ich trug, zu verstecken.» Der Anführer der Fremden habe sie auf sein Pferd gehoben und sei mit ihr davongaloppiert, obwohl ihr überrumpelter Vater und ihr Bruder schreiend hinter ihnen hergelaufen seien. «Aber dein Grossvater hat mich bis zu seinem Tod gut behandelt», sagte Amelia und zog zwei Fibeln aus ihrem Umhang hervor. «Schau, hier hat er sogar einen Liebesschwur eingraviert, den ich allerdings nicht lesen konnte.» Sie befestigte die Fibeln an Utinas Gürtel und sagte leise, sie selbst brauche keinen Schmuck mehr, sie gehe mit Waldbert fort und werde mit den frommen Frauen in der Kirche von Romanshorn leben.
«Dann ziehen wir also doch nach Romanshorn?» Zwischen Utinas Augen bildete sich eine Falte. «Das kann ich nicht glauben. Vater will doch vom See weggehen.»
Amelia legte die Arme um sie. «Es tut mir leid, Utina. Aber ich bin zu alt für eine so beschwerliche Reise.» Und Utalind ist bald wieder da, wollte sie hinzufügen. Oder: Du kannst mit mir kommen, nach Romanshorn. Aber sie kannte das Leben und ihren Sohn Otpert und schwieg. Ihre Hand war feucht von Utinas Tränen.
Im Mai des Jahres 740 zog Otpert mit den Söhnen und Utina, mit Gefolgsleuten, Knechten, Mägden und seiner ganzen Habe, drei Pferden, Geflügel, Schweinen, Ziegen, Schafen, zwei Ochsen und einer Kuh nach Süden, zum Arboner Forst, einem Urwald, der bis zum Alpstein reichte. Weil die Karren mit Werkzeug, Sicheln, Eggen, einem Pflug, mit Saatgut und Hausrat beladen waren, mussten alle zu Fuss gehen. Sie folgten einem Weg, der sie in die Richtung des Klosters St. Gallen führen sollte und der ihnen genau beschrieben worden war.
Da Otpert gehört hatte, Abt Otmar pflege mit seinem Esel auf einer Strasse von St. Gallen nach Arbon zu reisen, war er bald nicht mehr sicher, ob sie den richtigen Weg genommen hatten. Der Pfad war eng und sah aus, als werde er nur selten begangen, er war verwachsen und holprig. Immer wieder mussten sie anhalten, um Gehölz aus dem Weg zu räumen. Als es am zweiten Tag zu regnen begann, sanken die Räder in den Morast ein, und vor die Ochsen wurden Pferde gespannt. Dreimal mussten alle Geräte abgeladen, über eine seichte Stelle getragen und wieder aufgeladen werden. «Jeden Tag kommen wir so weit wie ein Alter am Stock», versuchte Otpert zu scherzen, denn er war froh, dass er Arbon und die Feinde hinter sich lassen konnte, aber niemand hatte Lust zum Fröhlichsein.
Weil es weiterregnete, schwollen die Bäche an, und plötzlich ging es nicht mehr weiter. Ein Stück Pfad war einfach weggerutscht, hinunter in die Steinach. Utina hörte, wie die Männer hin und her diskutierten, ob man gleich dableiben oder weiterziehen solle. Einer schlug vor, bis nach St. Gallen zu reisen. Dort hätten schon zu Zeiten des heiligen Gallus Flüchtlinge aus Konstanz und Arbon Unterschlupf gefunden. Ganz so weit wollte niemand gehen, aber alle zog es vorwärts, auch Otpert. Er sagte, hier fühle er sich noch nicht sicher genug, und was Otpert wollte, galt.
Im strömenden Regen machten sich die Männer daran, zwischen den Baumstämmen einen Weg durchs Gehölz zu hauen. Sie kamen nur langsam vorwärts und mussten Bogen schlagen, weil die Bäume manchmal so nahe beisammenstanden, dass die Karren nicht durchgekommen wären. Wo der Waldboden wegen der Wurzeln zu holprig war, mussten sie die Wagen hochstemmen und tragen.
In der Nacht wurden Feuer angezündet, um die Bären fernzuhalten. Denn Otpert hatte darauf bestanden, seine Bienenstöcke mitzunehmen, und wo Honig war, da tauchte früher oder später ein Bär auf. Utina hatte Glück. Sie durfte mit anderen Frauen auf dem Holzbett schlafen, das ihr Vater für sich selbst mitgenommen hatte. Sie lagen aber direkt auf dem harten Holz, und Utina beneidete die anderen ein wenig, die sich in Tücher gewickelt auf den weichen Waldboden legten.
Während alle schliefen, tastete Utina nach dem Amulett, das die Grossmutter in ihren Rocksaum eingenäht hatte. «Schau, wie schwer es ist, fast aus reinem Gold!», hatte Amelia geflüstert. «Es wird dich durchs Leben begleiten – wie früher mich. Zusammen mit diesem hier!» Amelia lachte und berührte mit dem Finger das herzförmige Muttermal auf Utinas linker Schulter. Das sei ein Erbe der Frauen ihrer Langobardenfamilie, das von Generation zu Generation weitergegeben worden sei wie das Amulett. Dann, kurz vor ihrer Abreise nach Romanshorn, hatte die Grossmutter Utina ihr Geheimnis anvertraut. Sie sprach langobardisch, so waren sie vor Lauschern sicher. «Das Amulett ist nur der kleinste Teil meiner Aussteuer gewesen. Ich verstehe heute noch nicht, weshalb dein Grossvater den Schatz nicht bemerkt hat», erzählte Amelia und lächelte. «Ich war so schwer, als er mich mit all den Münzen, Ketten, Ringen und Edelsteinen auf seinen Sattel hob!» Auf der anderen Seite der grossen Berge, in Begleitung dieser Männer, die sie nicht kannte und die nie mit ihr sprachen, habe sie plötzlich Angst bekommen um ihren Schatz. Da habe sie ihn irgendwo im Flachland an einem kleinen See neben alten Kastellmauern versteckt. Unter dem Herd des winzigsten Grubenhauses, das sie je gesehen habe.
Fast jede Nacht erinnerte sich Utina an diese Geschichte und nahm sie in sich auf. Wenn ich gross bin, werde ich Amelias Schatz suchen, machte sie sich Mut, um an anderes als an Utalind und an Waldram zu denken, den sie bei der Kirche von Arbon begraben hatten.
Der Vater, Wolfgang und Waldo waren Utalind ans andere Ufer des Bregenzersees nachgereist. In eine Gegend, wo sie noch nie gewesen waren. Auch dort gab es Alemannen, aber es waren andere Sippen und fremde Gesichter. Zuerst fragten sie überall am Ufer, dann weiter im Landesinneren, bis ein Bauer von einer weinenden jungen Frau erzählte, für die einige Bewaffnete um Brot und Wasser gebeten hätten.
Sie fanden Utalind auf dem Hof eines Freien. Otpert forderte ihn auf, ihm seine Tochter zurückzugeben oder wenigstens die übliche Entschädigung, das Wergeld, zu bezahlen. Aber der Mann lachte nur und liess sie nicht zu Utalind. Er sei aus Ostfranken gekommen, auf Befehl des Hausmeiers Karl persönlich, und alemannisches Recht gehe ihn nichts an. Beim Besuch in Arbon sei er gar nicht dabei gewesen. Wehrmänner hätten ihm die Alemannin als Hörige verkauft, aber er behandle sie wie seine Frau. Als er das sagte, grinste er und sprach davon, Otpert das Wergeld für eine gewöhnliche Magd zu entrichten, doch dann besann er sich anders, wies die Besucher vom Hof und hetzte ihnen die Hunde nach.
Aber Otpert und seine Söhne wollten den Weg in die Heimat nicht mit leeren Händen antreten. Auf dem Feld gleich hinter dem Hof nahmen sie zwei freie Bauern gefangen, schoren sie kahl und verkauften sie als Kirchenknechte nach Romanshorn, an Waldrams Sohn Waldbert. Das Entgelt, ein mit Weizen beladener Wagen und einige Waffen, kam ihnen mehr als gelegen.
Als sie endlich auf dem gestampften Weg weiterziehen konnten, hörte der Regen auf. Otperts Knechte schwärmten nach allen Seiten aus, um einen Siedlungsplatz zu finden. Sie entdeckten einen nicht weit