Novembereis. Monika Rösinger

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Название Novembereis
Автор произведения Monika Rösinger
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783858302434



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so eilig wirst du es nicht haben», meinte der Armenvogt. Er legte den Umschlag auf den Küchentisch und ging zum Wandschrank neben dem Herd. Dort öffnete er das obere Türchen mit der grünen Glasscheibe. Da standen einige Flaschen: Kirsch, Pflümli und Chrüter. Göldi nahm die Flasche mit dem Pflümli und zwei kleine Gläser aus dem Fach, stellte alles auf den Tisch und setzte sich. Für sich schenkte er nur zwei Finger breit ein, dem Pöstler füllte er das Glas fast bis an den Rand. Sie prosteten sich wortlos zu. Roth kippte den Schnaps auf einmal hinunter. Er ächzte genüsslich und streckte dem Vogt das Glas hin. Dieser füllte es wieder. Dann setzte er den Korken satt auf die Flasche und stellte sie neben sich auf den Boden. Es war immer die gleiche Zeremonie, zwei Gläser, nie mehr. Das ärgerte Roth, und er nannte den Armenvogt in Gedanken einen Geizhals. Das zweite Glas teilte er in kleine Schlucke ein. Göldi öffnete den braunen Umschlag mit dem grossen amtlichen Stempel und las die vom Schweiss des Boten wolkig gewordene Depesche. «So, so», murmelte er, «der Johann wieder einmal.»

      «Ja, hab’s auf dem Amt gehört, der Bleiker, der Galöri. Der wird nie schlauer, mit dem werden wir noch etwas erleben, das weiss ich. Einsperren sollte man den. Richtig, nicht einfach nur ins Armenhaus stecken, einsperren im Käfig», ereiferte sich der Pöstler.

      «Na, na», meinte der Armenvogt. «Ist ja auch nur ein armer Tschooli, der Bleiker. Ist halt Schicksal, in welche Wiege einen der Storch legt.» Mit diesen Worten erhob er sich.

      Das war das Zeichen für den Pöstler zu gehen. Ungeniert trank er das Restchen Schnaps, das er in Göldis Glas erspäht hatte, aus und stand ebenfalls auf. Miteinander traten sie vor die Haustüre, wechselten einige belanglose Worte zum Wetter und verabschiedeten sich. Roth wischte den Schweiss, den der Schnaps auf seine Stirn und in seinen feisten Nacken getrieben hatte, mit seinem grossen bunten Nastuch weg. Er knöpfte die Uniformjacke zu und setzte den Hut auf die Halbglatze. Zügig schritt er vom Hof und verschwand bald auf dem kiesigen Strässchen im Wald.

      Göldi schüttelte den Kopf und ging zurück in seine Amtsstube. Dort las er nochmals die kurze Depesche, die er vom Bezirksamt in Wil erhalten hatte: «Überstellung und Massnahme: Bleiker Johann, geb. 11. Juli 1840 in Wattwil. Sohn der Bleiker Susanne, verwitwete Brunner, Vater unbekannt. Delikt: Diebstahl und Vagantentum. Überstellung zwecks Besserung ins Armenhaus Wattwil. Der Besagte ist fünf Tage in Arrest zu setzen und zwei Jahre im Armenhaus zu verwahren. Ankunft gleichentags um die Vesperzeit.»

      Er nahm eine schwarzgrün marmorierte Mappe aus dem Sekretär. Den Namen brauchte nicht zu lesen, der Bleiker hatte schon einige Blätter in der Mappe, sein Sündenregister war lang. Seufzend legte Göldi den amtlichen Bescheid aus Wil dazu und schloss die Mappe in den Sekretär ein. Den Schlüssel barg er in seiner Westentasche. Er legte den Bläuel in ein Fach des schönen Möbels und schob die vorher angefangene Tabelle in ein anderes. Die Liste mit den Unehelichen konnte warten.

      Zum Glück war das Heu schon eingebracht, und das Emd war noch nicht so weit. Die Zeit hätte ihn sonst gereut. Er ging in den Garten, wo seine Frau und Annemarei in einem Beet knieten und jäteten. Er hörte, wie sich die Magd verärgert über die zudringlichen Blicke des Pöstlers ausliess. Er hatte keine Angst um sie. Sie war nicht auf den Mund gefallen, sie wusste sich zu wehren. Seine Frau sagte nicht viel zu Annemareis Lamento, sie gehörte zu den Schweigsamen. Auch diese Eigenschaft mochte er sehr an ihr. Nie machte sie ein Aufheben um die Dinge. Sie nörgelte nie und wartete geduldig, wenn sie spürte, dass ihn etwas beschäftigte. In ihrer langen Ehe hatten sie viele schwere Tage gehabt. Zwei Kinder waren im ersten Lebensjahr gestorben, eines mit vier Jahren an der Halsbräune und eines war gar nicht geboren worden. Das hatte seine Frau still, aber trotzdem nicht bitter gemacht. Sie strahlte fast immer eine ruhige Heiterkeit aus.

      Wenn ihr die Last zu schwer wurde, setzte sie sich in der guten Stube an die farbige Hausorgel, die sie in die Ehe mitgebracht hatte. Die Noten kannte sie nicht, sie spielte Lieder und Weisen nach dem Gehör. Als gläubige Pfarrerstochter aus Wildhaus kannte sie alle Kirchenlieder auswendig, sie gaben ihr Trost und Halt.

      Ihre gemeinsame Freude war ihr Sohn Hansueli, der ihnen spät noch geschenkt worden war. Er war ein lustiger, gesunder Bub, ein fleissiger Schüler gewesen und jetzt ein eifriger Lehrling in der Westschweiz, in Lausanne. Französisch, Handel und Buchhaltung lernte er da, sie waren stolz auf ihn. Sie vermissten ihn, aber er würde an Martini wieder heimkommen und dann in der Textilfabrik im Dorf im Kontor arbeiten. Ein Beamter, wie sein Vater war, wollte er nicht werden, das lag ihm nicht. Göldi war froh darüber. Manchmal waren ihm die Aufgaben in seinem Amt eine Last. Wie eben der Gang, den er vor sich hatte. Im Hausflur zog er feste Schuhe an, nahm den Hut vom Haken und hängte den Kittel über die Schulter.

      «Muss ins Dorf, den Bleiker ins Armenhaus bringen. Der hat wieder einmal etwas angestellt. Wenn er sich doch nur besser im Griff hätte, schade um ihn.» Nach diesem kurzen Bescheid nickte er seiner Frau und der Magd zu und machte sich auf den Weg ins Dorf.

      Der halbstündige Weg hinunter durch die Wiesen und der Thur entlang nach Wattwil gab ihm Zeit zum Sinnieren. Sein Amt war nicht leicht. Immer hatte er mit Not und Elend zu tun. Oft fühlte er sich zwischen den Parteien eingeklemmt. Der Gemeinderat erwartete von ihm eine harte Hand. Die Armen sollten zwar versorgt werden, aber nichts kosten. Oft hatte er den Eindruck, als ob der Gemeinderat ihn persönlich für das Elend und die Not der Armen verantwortlich mache. Uneheliche Kinder und deren Mütter, die nicht über die Runden kamen, weil ihre Herrschaften sie auf die Strasse stellten, Invalide und Verkrüppelte, die keiner Arbeit mehr nachgehen konnten, Alte, die keine Familie hatten, oder eben Vaganten und Tunichtgute, wie der Bleiker einer war; für alle war er zuständig. Am meisten taten ihm die Waisenkinder leid. Auch wenn er eine Familie aus ihrer trostlosen Wohnung holen und sie ins Armenhaus bringen musste, weil der Zins nicht mehr bezahlt worden war, war es für ihn ein schwarzer Tag. Diesen Leuten konnte er jeweils nicht in die Augen schauen.

      Nach solchen Tagen setzte er sich zu Hause abends auf die Bank neben der Haustüre und blickte schweigend zu den Bergen. Meistens setzte sich seine Frau neben ihn, nahm seine Hand und drückte sie leicht. Sie sprach nichts und fragte nichts, das tat ihm gut. So sassen sie, bis es zu kühl wurde. Es gab Göldi Kraft für den nächsten Tag.

      Zügig schritt der Armenvogt Wattwil zu. Die Hitze lag drückend über dem Tal. Er hätte den Kittel zu Hause lassen können. Die Mücken aus den Thurauen plagten ihn. Er war froh, als er bald nach der Brücke beim Gemeindehaus eintraf. Dort setzte er sich in den grünen Schatten der Kastanienbäume und wartete. Gern hätte er ein Glas Most oder wenigstens Wasser getrunken, aber es läutete vom Kirchturm schon zur Vesper und die «Krone» und der «Löwen» waren zu weit weg. Nach einigen Minuten stand er auf und trat ins Haus. Durch den kühlen Flur ging er zur Amtsstube, klopfte an und trat ein.

      «Gut, dass du da bist», begrüsste ihn der Gemeindeammann hinter dem Schreibtisch. «Der Bleiker Johann ist im Arrestzimmer, die Landjäger sind schon wieder gegangen, sie müssen zurück nach Wil. Die Schriftlichkeiten sind erledigt, kannst den Hallodri sofort mitnehmen.»

      Göldi kannte den Ammann gut. Er hatte oft mit ihm zu tun; sie klopften auch hin und wieder einen Jass zusammen. Er wusste, dass auch ihm solche Amtshandlungen zuwider waren. So fragte er nicht lange, unterzeichnete die Papiere, nickte wortlos und ging ins Arrestzimmer, dessen Schlüssel er als Armenvogt bei sich trug.

      «So, Johann, ist es wieder einmal so weit», begrüsste er den Sitzenden.

      Bleiker blickte kaum auf. Ihm war übel von der Hitze im stickigen Zimmer, und das Leben war ihm verleidet. Er gab keine Antwort, Göldi hatte auch keine erwartet. Johann erhob sich, und Göldi führte ihn an einer kurzen Kette vom Gemeindehaus weg durch das vorabendliche Dorf. Der Taglöhner hielt seinen Kopf gesenkt. Die Frauen am Dorfbrunnen hielten in ihren Gesprächen inne. Sie starrten Bleiker ungeniert an, und zwei der Frauen spuckten vor ihm aus.

      «Endlich kommst du wieder ins Loch, wo du hingehörst, du elender Kerl. Geschieht dir recht», sagte eine, und die andere nickte bestätigend.

      «Was hast du mit ihm zu tun?», wollte eine der älteren wissen.

      «Darüber will ich nicht reden, jedenfalls hat er es verdient, der Sauhund.» Die andern Frauen nickten wissend. Dann nahmen sie ihre gefüllten Kessel und machten sich auf den Weg nach Hause. Einige Buben