Название | Novembereis |
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Автор произведения | Monika Rösinger |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783858302434 |
Die Mutter klaubte ein viereckiges Päckchen aus ihrer Tasche und faltete das bräunliche Wachspapier auseinander. Zwei gefaltete Papiere mit Tinte beschrieben und Stempeln darauf kamen zum Vorschein. Es waren Johanns Taufschein und Geburtsschein. Beide Bogen legte sie wortlos auf den Tisch vor dem Armenvater und zog sich zur Türe zurück. Der Armenvater schob die drei Blätter ineinander und legte sie in eines der kleinen Fächer im Schrank. Er schrieb einige Worte auf ein neues Blatt, drehte es gegen Susanne und forderte sie auf, die Sätze zu lesen und zu unterschreiben. Errötend senkte sie den Kopf und bewegte sich nicht. Johann hätte gern gewusst, was da geschrieben stand, aber er getraute sich nicht zu fragen.
«Aha, aha, na, dann lese ich es dir vor. Schliesslich sollst du wissen, was du unterschreibst», sagte der Armenvater und drehte das Blatt wieder zu sich. «Eintritt Bleiker Johann, Sohn der Bleiker Susanne, verwitwete Brunner. Grund: Armut und mangelnde Aufsicht. Geboren 11. Juli 1840 in Wattwil, unehelich, Vater unbekannt. An Michaelis, 29. September 1844.»
Der Armenvater schob Susanne das Blatt wieder hin und wies mit einem Finger auf die unterste Linie, wo er Susannes Namen hingeschrieben hatte. «Mach einfach deine Kreuze daneben, das reicht auch», meinte er.
Verlegen nahm Susanne den Stift in die Hand und setzte zittrig drei Kreuze neben ihren Namen. Aufatmend übergab sie ihrem Sohn ein kleines Bündel, drückte ihn kurz an sich und murmelte leise einige Abschiedsworte.
Als Johann die Tränen in ihren Augen sah, hätte er gern geweint. Aber er riss sich zusammen. Er legte nur eine kleine Weile den Kopf an den starken Unterarm seiner Mutter und schaute sie ruhig an. Susanne schluchzte leise auf. Entschlossen schob sie den Buben zu dem Mädchen. Dieses zog ihn zu sich und kreuzte die Arme auf seiner kleinen Brust. Stumm verabschiedete sich die Mutter vom Armenvater und ging rasch aus dem Zimmer. Die Türe fiel hinter ihr zu.
Was Johann davon halten sollte, wusste er nicht. Gern hätte er die Mutter gefragt, wie lange er hier bleiben müsse, wann sie ihn wieder holen komme. Er hatte aber keine Zeit, darüber nachzudenken.
Der Armenvater räusperte sich, putzte sich ausgiebig die Nase und zeigte freundlich auf das Mädchen. «Das ist die Vevi. Die zeigt dir, wo du deine Sachen hinlegen kannst. Du schläfst in der Kammer der kleinen Buben, bei Seppi, Röbi, Albert, Ueli und Ernstli. Der Ernstli und du, ihr zwei Kleinen, habt zusammen einen Strohsack, das reicht vorläufig. Ich hoffe, du seichst nicht ins Bett!»
Johann lachte. «Bin doch kein Bubi mehr», meinte er grossspurig.
«Dann ist ja alles in Ordnung, also, Vevi nimm ihn mit. Nachher kommt ihr zum Zvieri, dort können wir den neuen Apostel grad allen vorstellen.»
Vevi nahm ihn freundlich an der Hand. In der anderen trug sie sein Bündel. Es war leicht und es kam Johann eigenartig vor, dass er es nicht selber tragen musste. Überhaupt schien ihm Vevi ein nettes Mädchen zu sein, jedenfalls netter als seine Halbschwester. Deshalb traute er sie auch zu fragen: «Du, Vevi, was ist ein Apostel?»
Sie lachte. «Ach, das lernst du dann schon noch in der Unterweisung.» Was Unterweisung war, wusste Johann auch nicht, aber er wollte nicht nochmals fragen und schwieg. Über zwei breite Treppen und einen langen Gang kamen sie zu einer einfachen Kammer mit zwei Fenstern. Die Wände waren aus gehobelten Brettern, Möbel gab es keine. In einer Ecke stand ein Nachttopf mit einem hölzernen Deckel, der gleiche, der zu Hause auch seinen nächtlichen Dienst tat. In einfachen Verschlägen lagen fünf Strohsäcke, ordentlich mit groben Laken aus gräulichem Leinenstoff eingeschlagen. Auf der Kopfseite lagen rotweiss karierte Kissen, auf der Fussseite lag je eine braune, grobe Wolldecke. An der kürzeren Wand sah Johann ein Regal. In den vielen offenen Fächern lagen die Habseligkeiten der anderen Buben. Sie waren ebenso ärmlich wie die Sachen in seinem Bündel: fadenscheinige Hemden, geflickte Hosen aus grobem Stoff, bemalte Holzkistchen, zerbeulte Blechdöschen. In einem Fach lag ein gefaltetes buntes Taschentuch, in einem andern schaute eine kleine Haselpfeife unter einer Wollmütze hervor. Zuunterst standen fünf Paar Schuhe mit Holzsohlen, gleich abgetragen und verschrammt wie seine eigenen. Socken sah er keine. In seinem Bündel lag ein Paar Socken. Die hatte seine Mutter vor einiger Zeit zu stricken begonnen; erst vorgestern waren sie fertig geworden. Es machte ihn stolz, dass er sie besass, getragen hatte er sie noch nie. Sie waren für den Winter bestimmt; die Mutter hatte sie extra zu gross gestrickt.
«So, stell deine Schuhe hier zu den andern, bis zum Gallustag brauchst du sie nicht», befahl ihm Vevi und räumte seine Sachen in ein Fach. Den leeren Beutel versorgte sie zuhinterst. «Den brauchst du erst, wenn du wieder gehst.»
Er zog seine Schuhe aus und krümmte beschämt die Zehen. Seine Füsse waren schmutzig. Die Mutter hatte ihm am Morgen nur das Gesicht gewaschen.
«Ich kümmere mich darum, dass du ein eigenes Kissen bekommst, die Decke könnt ihr teilen, der Ernstli und du, ihr seid ja beide noch klein. Am Gallustag bekommen wir alle für den Winter zwei Wolldecken. Du wirst sehen, hier hast du es gut.»
Daran zweifelte Johann nicht. Er ging zuversichtlich mit Vevi die Treppen hinunter in die grosse Stube. Er hatte vorher eine Glocke gehört. Es war nicht die Glocke vom Hauseingang. Sie tönte heller und schepperte ein bisschen.
«Auf diese Glocke musst du immer Acht geben», sagte Vevi, «wenn du zu spät zum Essen kommst, lässt die Armenmutter nicht mit sich spassen, sie ist streng.»
Johann konnte sich nicht vorstellen, dass man nicht sofort zum Essen ging, er hatte immer Hunger. In der grossen Stube wurde ihm nun doch ein wenig ängstlich zu Mute. An langen Tischen sassen viele ältere und jüngere Kinder. Alle blickten ihm entgegen und musterten ihn. Einige schauten freundlich, andere zogen Grimassen, und zwei kleine Mädchen schienen durch ihn hindurchzublicken. Diese beiden und die Augen der alten Männer und verschrumpelten Frauen, die ihn hinter den Tischen hervor beobachteten, machten ihm ein wenig Angst. Er fasste Vevi bei der Hand und schob sich hinter sie. Der Armenvater erhob sich von seinem Platz am separaten Tisch am Fenster. Er trat auf ihn zu, fasste Johann leicht beim Arm und sagte laut, dass es alle hörten: «Das ist der Johann. Er ist vier Jahre alt, und er wird jetzt bei uns wohnen. Jetzt haben wir schon drei Apostel, wird immer besser bei uns. Johann schläft bei den kleinen Buben, und er hilft mit im Garten. Die Vevi wird ihm alles Nötige zeigen.» Ruhig führte er ihn an den Tisch, an dem die kleinen Buben sassen und wies ihm den Platz neben Ernstli zu.
Alle Buben und Mädchen hatten ein Stück Brot vor sich. In der Mitte der Tische standen irdene Schüsseln mit Apfelmus. Daraus schöpfte sich jedes einen grossen Löffel voll und klatschte ihn auf das Brot. Die Männer hatten Käse zum Brot, die alten Frauen assen das Brot ebenfalls mit Apfelmus. In Krügen stand für die Alten Most und für die Kinder Milch bereit. Die Grossen schenkten den kleinen Kindern ihre Becher voll. Einer der grösseren Buben leierte ein Tischgebet herunter, nachher war es ruhig; nur Kaugeräusche und Schmatzen waren zu hören. Von der Ecke der alten Männer ertönten auch Rülpser und grobe Fürze. Die grossen Buben lachten, die Mädchen kicherten.
Der Armenvater riss ein Fenster auf und meinte gutmütig: «He, Störi, plagen dich die Saubohnen von heute Mittag?»
Johann wunderte sich, dass er ein zweites Musbrot bekam, das hatte er zu Hause nie erlebt. Niemand sprach mit ihm, die kleinen Buben musterten ihn neugierig, die grösseren feixten, aber alle liessen ihn in Ruhe. So sagte er auch nichts.
Bald erhoben sich die Alten und schlurften aus dem Raum. Die Kinder schwangen ihre Beine ebenfalls über die Bänke und verschwanden. Vevi und zwei der grossen Mädchen sammelten die Schüsseln ein und putzten die Tische. Sie wischten den Boden und warfen die Krümel zum Fenster hinaus, wo Johann Hühner gackern hörte.
«Komm», sagte Vevi, «wir müssen das Geschirr in die Küche bringen und nachher gehen wir in den Garten.»
Zusammen mit den anderen kleinen Buben und den beiden stumpfsinnigen Mädchen klaubte Johann bis zum Abendessen Steine aus den Beeten und trug sie in einem Drahtkorb an den Rand des Gartens. Seppi zeigte ihm einen schönen Käfer; der kleine Ueli legte ihm einen dicken Regenwurm auf den Kopf. Röbi lachte, als er den Wurm aus den Haaren nahm und auf dessen Kopf legte, und Albert schaute stumm zu. Er verzog keine Miene.
Johann